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Als Rechtspraktikant im Jahre 1893 saß ich fast allabendlich in der Nürnberger Wurstküche »Zum Herzl«.
Da sah ich einmal am Nebentisch einen kleinen Herrn in den vierziger Jahren, der mir durch sein von Sonne und Wind rot gebeiztes Gesicht auffiel. Ein Freund sagte mir, das sei ein Schlierseer Maler, und da dieser eben aufstand und einen großen Schlapphut aufstülpte, setzte mein Freund hinzu, der ganze nette Kerl schaue selber aus wie ein Schwammerling im Holz draußen. Ich hörte den Namen und vergaß ihn wieder. Karl Haider.
Zehn Jahre später sagte mir eines Tages Albert Langen in seiner aufgeregten Art, er habe Bilder von Haider gesehen, und es sei sein höchster Wunsch, eines zu erwerben. Leider kam er wieder davon ab. Kurze Zeit darauf sah ich im Kunstverein zum erstenmal einige Landschaften Haiders, »Über allen Wipfeln ist Ruh« und andere.
Ich war gerührt und begeistert und beschämt.
Also das war von dem kleinen »Schlierseer« Maler?
Zum ersten und einzigen Mal sah ich in altmeisterlicher Ausführung den ganzen zum Herzen dringenden Reiz, den die für unmalerisch erklärte Landschaft hat, wiedergegeben. Es mutete mich an wie ein wundervolles Heimatlied.
Das war unser Wald, der uns Kinder anzog und wieder fürchten machte, in dem es Fasanen gab und Riesen und Zwerge, der voll war von Geheimnissen.
Alle stillen Abende, die ich am Waldrande verlebt hatte, waren in diesem Bilde. Und auch sonst, jede Hütte, jeder Baum, jeder Kirchturm, jede Felsnase mit blauem Himmel und schwimmenden Wolken darüber war mein Altbayern.
Meine törichte Gewohnheit, alle Pläne zu verschieben, ließ es mich versäumen, zu Haider hinauszufahren.
Gewollt habe ich es, und der Wunsch regte sich immer wieder. Ich redete Langen zu, sich einen Haider zu erwerben. Auch er nahm sichs vor, verschob es und starb, noch ehe er sich den Wunsch erfüllt hatte. 1911 las ich an Plakatsäulen den Anschlag, daß am Königsplatz eine Gesamtausstellung Haiderscher Bilder sei.
Da zögerte ich nun doch nicht, sofort hineinzugehen.
Bild an Bild, das mich erregte und mit stiller Freude erfüllte.
Plötzlich sah ich den kleinen Herrn mitten im Saale, der von Besuchern leer war, stehen.
Er schaute über seine Brille weg aufmerksam zu mir herüber und schien darauf achtzugeben, was seine Werke für einen Eindruck auf mich machten.
Wie er so schlicht und bescheiden dastand, faßte ich mir ein Herz und sprach ihn an. Ich dankte ihm ehrlich für den hohen Genuß, und er ging ohne viele Umschweife frisch und altbayrisch darauf ein.
Im Dialekt waren wir gleich Brüder.
Und ich darf sagen, daß wir herzlichen Gefallen aneinander fanden. Die Unterredung endete damit, daß wir uns zum Weinfrühschoppen beim Strasser am Radisteg zusammenbestellten.
Dort saßen wir dann am Stammtische einander gegenüber, und im Hin und Wider unserer Reden und Meinungen fanden wir erst recht Freude an unserer Landsmannschaft.
Er lud mich zu sich nach Schliersee ein, und da es Winter und er ein Freund vom Eisschießen war, war die Verabredung, daß ich an einem schönen Vormittag von Tegernsee hinüberkommen und ein Spiel mit ihm machen sollte.
Etliche Wochen später führte ich mein Vorhaben aus.
Ein schöner Wintermorgen in Schliersee; ich fragte mich nicht ohne Mühe zu Haider durch, der am Ende des Dorfes ein kleines Haus hatte. Es war unscheinbar, sehr bürgerlich, weder auf Villa noch Bauernhaus hindeutend. Etwa das Haus eines Dorfschneiders.
Und genau so sah er selber aus, wie er in der kleinen, schmucklosen Stube saß und eine Provinzzeitung las.
Der kleine, schmächtige Mann mit dem schütteren grauen Vollbart, mit der altvaterischen Stahlbrille auf der Nase erinnerte ganz und gar an einen ehrsamen Meister von der Schneiderzunft.
»Z'erscht werd 'gessen,« sagte er. »Danach gehn mir ins Atelier nüber.«
Bei Tisch redeten wir über manches, was wir damals vor Fremden in der Weinkneipe nicht berührt hatten.
Über seine Kunst, über seine Erfolge, über Kritik.
Von dieser hielt er sehr wenig. Dabei war er sichtlich erbost über einen, der seine Bilder in der Zeitschrift »März« wohlwollend besprochen hatte.
Der junge Herr war zu liebenswürdig herablassend gewesen.
»Was glaubt denn so a Lausbua? Was is er denn? Was kann er denn? Is dös net der größte Unfug, daß der nächstbeste, herg'laufene Kerl so an saudumma Schulaufsatz über mi schreiben darf? Jetzt bin i fünfasechzg Jahr alt und hab do was g'lernt und aa was g'leist' in mei'm Leben. Na geht so a Rotzlöffel her, der net amal woaß, was an Ölfarb is, und klopft mir auf d' Achsel. Er is recht z'frieden; wenn i so weitermach, kunnt sei, daß er ganz z'frieden waar. So was sollt verbot'n sei.«
Ich gab ihm recht, und da ich Mitherausgeber des »März« war, sagte ich, daß ich den Artikel erst in der fertigen Nummer zu Gesicht bekommen hätte, er sei mir selber recht überheblich vorgekommen.
»Frech, mit oan Wort,« fiel er eifrig ein. »Da is mir glei liaba, wenn oana schimpft. Überhaupts de Kritiker. An oanzigsmal hab i was über mi g'lesen, in a norddeutschen Zeitung, was mir g'fallen hat. Da hat nämli oana g'schrieben, mer kennt's meine Bilder o, daß i a Musiker bin. Der war net dumm, der dös g'schrieben hat. Denn i bin a leidenschaftlicher Musiker, und dös kummt ganz von selber in d' Stimmung nei.«
Er erzählte mir von seinem Leben und seinem mühsamen Ringen um Erfolg. Sein Vater, der bekannte Zeichner der Fliegenden Blätter, Max Haider, war früh gestorben, und so mußte er sich von Jugend auf durchfretten. Die Anerkennung mit Professortitel und Ehrendoktor war spät gekommen, und zu hohen Preisen hatte er es auch damals noch nicht gebracht.
Unter seinen Freunden waren Leibl und Hans Thoma die berühmtesten.
Der feinfühlige, etwas verträumte Haider hatte mehr für den ähnlich gestimmten Süddeutschen übrig als für den derben Kölner.
»Der Leibl hat fei grob sei könna,« sagte er. »Mir san amal viel beinand g'wesen, aber recht z'sammpaßt hamm ma net.«
Nach Tisch führte er mich in sein Atelier, zeigte mir einige Bilder und setzte sich ans Klavier.
»Mögen S' was von Beethoven hör'n?«
Als ich ihn darum bat, spielte er.
Sehr gut und sich ganz der Musik hingebend. Er begleitete Stellen, die ihm besonderen Eindruck machten, mit einem Wiegen des Körpers, mit Heben und Senken der Schultern.
Manchmal drehte er sich nach mir um. »Is dös net schö?« Er sagte mir, daß er gerne zu einem Konzerte in die Stadt fahre, und daß ihm der Nachgenuß in seiner Einsamkeit viele schöne Stunden gewähre.
»Dös is aa so a dummer Spruch: Am Land verbauert ma. I möcht wissen, was oana in der Stadt drin Besser's findt als a schöns Konzert und a guats Buach … Da schaun S' her!«
Er führte mich zu dem kleinen Bücherregal. Goethe, Schiller, Storm, Raabe, Keller, das waren die Schätze.
»I les' net viel, aber was i les', von dem hab i was.«
Den »Grünen Heinrich« liebte er besonders, und er erzählte mir, vor Jahren habe er, auf Zureden Trübners, Zolas L'oeuvre gelesen, in deutscher Übersetzung.
Trübner habe ganz überschwenglich davon gesprochen, es sei das gescheiteste und belehrendste Buch, das ein Maler lesen könne, so verblüffend wahr, und viele Fragen, die einer an sich stelle, beantworte es, viele Zweifel löse es.
»No, es war ja ganz interessant,« sagte Haider, »aber gar so großartig hab i's net g'funden. Was is dös gegen den ›Grünen Heinrich?‹ Da san die Kämpfe, die Zweifel, die Hoffnungen und was oaner halt durchmacht, der was schaffen will, da san s' g'schildert. Dös Suchen, wissen S', dös koan erspart bleibt. Allaweil wieder kann i's lesen. Mir is ja aa net änderst ganga; amal hab i bei dem, amal bei an andern die wahre Kunst abg'schaugt, hab gmoant, jetzt hab i's, und nix is g'wesen. Denn erst wenn ma sich selber entdeckt, wenn ma dös rausbringt, was in oan selber drin is, erst nacha wird's was. Es dauert halt oft lang, und viele, die eigentlich was zum sagen hätten, kommen gar nia drauf. Manche aus Bescheidenheit net, weil s' glaaben, de andern san de Bessern, und also muaß ma's so machen wia de andern. Und sehgn S', wenn ma dös durchgemacht hat, und wenn ma woaß, wia viele Enttäuschungen zum Lernen führ'n, nacha kimmt so a Greaspecht und diktiert oan von oben runter das einzig Wahre und Richtige. Da kunnt ma giftig wer'n …«
»Jetzt werd's aber Zeit zum Eisschiaß'n,« mahnte er, und wir gingen ans Seeufer, wo schon etliche Herren auf uns warteten.
Beim Spiele war Haider sehr eifrig, und er war weitaus der beste von uns.
»Sie san so a mitterner Schütz,« sagte er zu mir. »Net sicher gnua.«
Kam ein entscheidender oder schwieriger Schuß daran, dann drängte er lebhaft seine Mitspieler weg, zielte genau und etwas pedantisch und traf auch fast immer.
Mir war schon in Knabenjahren eine Lithographie des alten Max Haider, die ein Eisschießen auf dem Lande darstellte, als anheimelnde Schilderung lieb geworden.
Ich mußte an diesem Tage daran denken, als ich mit seinem Sohne auf der Eisbahn stand und den kleinen, beweglichen Mann just so spieleifrig sah, wie es der Vater dargestellt hatte.
In allem Großen und Wichtigen hatte sich seit jener Zeit so ziemlich alles geändert, aber im Kleinen war das Leben gleich und echt altbayrisch geblieben.
Am Abend spielten wir einen Haferltarock, den Haider nicht gern versäumte. Zu seinem Bedauern war der alte Geistliche Rat nicht anwesend. Er kam später und sah uns zu.
Als ihm Haider zum Mitspielen zuredete, seufzte er und lehnte offensichtlich mit großem Bedauern ab. »Es geht nicht,« sagte er. »Sie wissen ja, heute ist mein Amtsbruder und Freund in Bayrischzell begraben worden. Da kann ich doch abends nicht tarocken.«
»Warum denn net?« sagte Haider gemütlich. »Deswegen werd er aa nimmer lebendig.«
Der alte Herr Pfarrer, ein hoher Siebziger, stutzte und erwiderte dann ebenso gemütlich: »Dös is eigentlich wahr. Also setzen mir a Markl z'samm.«
Und er spielte mit uns, bis er kurz vor zwölf Uhr aufhören mußte, Bier zu trinken. Haider ging dann mit mir heim, und wir redeten noch einiges von dem stillen, behaglichen Leben auf dem Lande, das einem die rechte Ruhe zum Arbeiten gebe.
»Sagen Sie's aa, gel? Und dös Beste is, wissen S', daß ma von dera ganzen Vereinsmeierei und Bündelei nix sieht und hört. Mit die Kollegen beinandhocken und g'scheit reden über Kunst, und oaner den andern net mögen, und oaner den andern ausricht'n –, i dank schö. Da spiel i scho liaba mit mei'm Pfarra und mei'm Postexpeditor an Tarock und hör nix von Kunstrichtunga und dem ganzen Schmarrn.«
Andern Tags fuhr ich heim nach Tegernsee und nahm das Versprechen meines Gastfreundes Haider mit, daß er den Besuch bald erwidern werde.
Er kam auch und wohnte bei mir, aber leider in meiner Abwesenheit. Er hatte sich nicht angesagt, und ich war nach München gefahren. Er unterhielt sich aber trefflich mit meinem Bruder, lobte mein Haus, beteiligte sich mit Eifer am Eisschießen und stellte den Tegernseern das Zeugnis aus, daß sie leidliche oder mitterne Schützen seien.
Später trafen wir uns öfter beim Strasser oder auch in der Bahn. Ich hatte ihm meinen »Wittiber«, im Oktober 1912 auch meine »Magdalena« zugeschickt. Beide Bücher hatten ihm gefallen, und er erzählte mir auf der Fahrt von Holzkirchen weg mit Lebhaftigkeit, was ihn angesprochen habe.
Einmal, als wir wieder zusammenkamen, klagte er über Magenschmerzen. »I woaß scho, wo's herkimmt,« sagte er. »I hab vor acht Tag an Haring 'gessen, dersell hat ma net guat to. Der druckt mi heut no.«
Er ahnte nicht, daß er an Magenkrebs litt.
Noch etliche Wochen später wiederholte er mir seine Klage.
»Den Malafizharing bring i net los. Es is halt koa Essen für unseroan da herunt …«
Das war 1913.
Ich hörte von ihm, da sich Olaf Gulbransson in Schliersee aufhielt, um bei Haider Studien zu machen.
Bis in seine letzten Lebenstage wußte der Alte nichts von seinem Zustande.
Sein Freund, ein Arzt in Hausham, der ihn operieren wollte, aber bei der Aussichtslosigkeit einer Rettung davon abgestanden war, hatte ihn mit der Versicherung getröstet, daß er nur einen hartnäckigen Magenkatarrh habe.
Haider hatte Verdacht geschöpft, daß es Krebs sein könne, aber die treuherzige Versicherung seines Freundes hatte ihn völlig beruhigt.
Als sich kurz vor seinem Tode die Täuschung nicht mehr aufrechterhalten ließ, sagte Haider: »Also is do a Krebs! Da hat mi der Doktor schö ang'log'n …«
Er starb in seinem kleinen Hause in Schliersee.
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