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Holger Drachmann

Er kam im Jahre 1905 mit seiner jungen Frau auf etliche Wochen nach München. Von seinem Bohemeleben waren viele Anekdoten in Umlauf, denn in Dänemark oder überhaupt in Skandinavien ist der literarische Gesellschaftstratsch kaum weniger beliebt wie in Berlin, nur scheint er wohlwollender gepflegt zu werden. Wenigstens gegen Drachmann war man gütig, und man sprach mit einem gewissen Nationalstolz von seinen Erlebnissen. Ich hörte Dänen und damit verwandt fühlende Norweger von den Fröhlichkeiten Drachmanns wie von vaterländischen Ereignissen sprechen.

Wir wußten also, daß wir einen ewig Jungen und einen Löwen in ihm zu erblicken hatten.

Gut sah er aus. Sehr hoch gewachsen und schlank, Haupt- und Barthaar weiß, ein scharf geschnittenes Gesicht, dem eine Hakennase ein kühnes Aussehen gegeben hätte, wenn es nicht einen etwas weichen Zug gehabt hätte.

Nach Lebemann oder – seine Manen mögen mir das Wort verzeihen – nach Lebegreis sah er doch nicht aus, dazu waren die Augen zu klug.

Der Ton war in seiner Gesellschaft auf Skaal gestimmt, auf herzhaftes Zutrinken und Anstoßen.

Bei Olaf Gulbransson hielten wir einen Frühschoppen ab; da die Stühle nicht reichten, saß ein Teil der Gesellschaft auf Kisten und Koffern.

Es war wie im Zelt eines Lappländers, und ich war der einzige Deutsche unter lauter Skandinaven.

Es gab damals eine politische Erregung im europäischen Norden; die Norweger hatten sich von den Schweden getrennt, und es lag so was wie nationaler Schwung und grimmige Entschlossenheit in den Gemütern der bechernden Norweger.

Schweden war nicht vertreten. Ein kleiner alter Herr, ein norwegischer Professor, der mir auffiel, weil er seinen langen Rock mit Stecknadeln statt mit Knöpfen geschlossen hatte, war ziemlich entflammt.

Er sprach von feindlichen Absichten der Schweden, und indem er sein Glas fest auf den Tisch stieß, rief er: »Sie sollen nur kommen!«

Drachmann ließ wohlwollend die patriotische Woge an sich heran branden und trank herzlich auf die Freiheit Norwegens.

Er ließ sich Papier und Tinte geben, und indem er das Haupt zurückwarf und nach oben blickte, verfaßte er ziemlich rasch ein Gedicht, das großen Beifall fand.

Es behandelte aber nicht die Auflösung der Union, sondern Freiheit, Freude und Alkohol.

Wir saßen in den folgenden Tagen oft zusammen, meist in der Osteria Bavaria, und trafen einmal die Verabredung, mitsammen zu Fritz August v. Kaulbach nach Ohlstadt zu fahren.

Wir nahmen den Schnellzug bis Murnau und wollten von dort mit einem Einspänner weiter.

Da es aber Sonntag war, und da es im Gasthof zur Post frische Weißwürste gab, beschlossen wir erst einmal zu frühstücken. Am Stammtische saßen schon etliche murnauer Bürger, von denen mich einer erkannte und freundlich einlud, bei ihnen Platz zu nehmen. Ich sagte ihnen, daß mein Begleiter der dänische Dichter Drachmann sei, und sie begrüßten ihn respektvoll und jovial.

»Aus Dänemark? So … so? Der Herr Drachmann? No, wie g'fallt's Ihnen denn bei uns herunt? Laßt si scho leben, net wahr?«

Drachmann fühlte sich gleich heimisch und stieß mit jedem an; es kamen immer mehr Gäste, und der wackere Zecher aus Mitternachtsland gefiel allen sehr wohl und war gleich der Mittelpunkt des Interesses.

»Aus Dänemark? Ja, was is dös? Und da san S' jetzt zu uns aba komma? Wie schmeckt Ihnen 's Bier? Gut? Hamm S' droben auch eins? Oder was trinkt ma da? …« Die naive, ungezierte Vertraulichkeit sprach den Dichter immer mehr an; er trank eine Halbe nach der andern und dankte mir, daß ich ihn zu diesen herrlichen Menschen und zu diesem wundervollen Getränk geführt hatte. Einmal monierte ich, daß es Zeit sei, zu fahren. Aber die Murnauer mischten sich ein: »Naa … naa … a Halbe geht scho no. Was war denn dös? Da Herr Drachmann bleibt no a weng. Net wahr? Prosit!«

Und er blieb und trank. Als wir endlich wegfuhren, hatte der Dichter einen tüchtigen Zungenschlag. Aber er redete sich ihn weg, denn auf dem ganzen Wege schwärmte er von diesem wunderbaren Naturvolke, das so treuherzig war.

»Thoma, in dieser Gegend muß ich wohnen. Ich werde hieher kommen. Es ist prachtvoll … Noch nie habe ich Menschen getroffen, die so einfach menschlich waren …«

Auf der ausgefahrenen Straße wurden wir ordentlich gerüttelt, und das trug auch zur Ernüchterung bei.

Als wir in Ohlstadt anlangten, war Drachmann noch nicht völlig frei von den Folgen der murnauer Begeisterung, aber es gelang ihm manche ritterliche Verbeugung vor der Gattin Kaulbachs, die Dänin war.

Wir hatten uns verspätet und entschuldigten uns damit, daß wir sehr lange kein Fuhrwerk bekommen hätten.

Es war noch eine befreundete Familie zu Besuch anwesend, und die Mama nahm mich beiseite und fragte mich erschrocken: »Du, um Gottes willen, hat der einen Rausch?« Ich beruhigte sie, mußte aber zugeben, daß von rückwärts gesehen die Bewegungen des berühmten Dänen, sein Gang, die große Linie, die er beim Bewundern der Aussicht mit den Armen beschrieb, einigermaßen an den Zustand erinnerten. Aber er hielt sich tapfer, und der vortreffliche Wein, den es bei Tisch gab, verdrängte die Nachwirkungen des murnauer Bieres.

In dem gastlichen Hause fand sich dann ein Zimmer, wo Drachmann ausruhen konnte, und abends war er ein heiter anregender und angeregter Gast.

Und dann kam eine wundervolle Frühlingsnacht mit Mondlicht über Bäumen und Wiesen.

Frau von Kaulbach und Stavenhagen musizierten; wir horchten auf den wundervollen Klang und wenn er schwieg, auf das Flüstern der Blätter, die der Bergwind bewegte.

Drachmann war verschwunden. Er saß in einem Zimmer nebenan und dichtete.

Nach einer Weile kam er wieder und überreichte der Frau des Hauses sein Poem, das, woran ich mich noch deutlich erinnere, mit dem Verse schloß:

»In meinem Auge stehen Tränen,
Ich sehe hier, es gibt noch Dänen.«

Wenn ich von der Sache etwas verstehe, so war ihm sicher dieser Schluß zuerst eingeschossen, und was voraus kam, diente zur Dekoration.

Am andern Tage verließen wir das gastliche Ohlstadt und kehrten nach München zurück. Drachmann blieb nur mehr kurze Zeit, und als er uns verließ, mußte ich ihm versprechen, im nächsten Jahre seinen sechzigsten Geburtstag in Skagen mitzufeiern.

Es kam Verschiedenes dazwischen, und ich dachte wohl auch, die Einladung sei in einer gehobenen Stimmung gemacht und wieder vergessen worden.

Aber kurz vor seinem Geburtstage schickte er mir telegraphisch die dringende Aufforderung, nach Skagen zu kommen.

Ich mußte leider absagen und schrieb ihm die zwingenden Gründe mit herzlichen Glückwünschen zu seinem Sechzigsten.

In seiner Antwort versicherte er mir, daß er dem herrlichen Tag in Ohlstadt als einem seiner schönsten dankbare Erinnerung bewahre.

*


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