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Nachdem wir in den vorhergehenden Vorlesungen uns über allgemeine ästhetische Thatsachen zu verständigen und die Frage: was ist deutsch? zu beantworten versucht, wenden wir uns heute der Kunst des XIX. Jahrhunderts zu. Schon früher habe ich auf die Bedenken hingewiesen, die sich jeder abschließenden Auffassung und Beurtheilung der Kunst einer Zeit, der man selbst noch angehört, entgegenstellen, und doch müssen wir danach streben, uns eine gewisse Klarheit zu verschaffen. Vielleicht ist es mit Hülfe der gewonnenen Anhaltspunkte nicht unmöglich. Bezüglich der Richtungen und Meister in der ersten Hälfte des Jahrhunderts – und es bewährt sich hier, daß eben eine gewisse Entfernung für eine objektive Feststellung des Wesentlichen nöthig ist – haben sich wohl übereinstimmende Meinungen schon gebildet, nicht so aber über die späteren und die neuesten, die wir als gegenwärtige vor Augen haben und mit denen wir selbst in so nahen Beziehungen stehen. Unsere Aufgabe verlangt zunächst eine allgemeine Betrachtung, welche von ähnlicher Wichtigkeit wie die früheren, für die Auffassung und Schätzung der einzelnen Erscheinungen unbedingt erforderlich ist, denn nur sie giebt den Maaßstab an die Hand.
Welche Stellung darf die bildende Kunst des XIX. Jahrhunderts in der Kunst- und Kulturgeschichte beanspruchen? Hat sie eine Bedeutung, spielt sie eine Rolle in dieser, wie die Kunst großer vergangener Perioden? Dürfen wir sagen, daß sie an Bestimmtheit und Hohe der Ideale sich mit der Kunst, sagen wir der Hellenen oder des Mittelalters oder der Renaissance oder der niederländischen sich vergleichen läßt? Jeder, von Vorurtheilen der Gegenwart freie, historisch und künstlerisch Gebildete wird mit einem Nein antworten müssen. Wollte er aber die Gründe angeben, weßwegen es dieser neuesten Kunst nicht vergönnt war, zu gleich großen stilistischen Schöpfungen zu gelangen, wie jene älteren Perioden sie gezeitigt, so würde er sich in eine schwierige Lage versetzt sehen. Denn es hieße dies ja nichts Anderes, als das Entstehen und Vergehen großer Kunstbewegungen überhaupt zu erklären.
Wollen wir jene Meinung begründen, so müssen wir zunächst die charakteristischen Merkmale großer Kunstperioden bestimmen. Vielleicht niemals wird in allen Einzelheiten nachzuweisen sein, wie es denn kommt, daß bei einem Volke unter gewissen Bedingungen die eine oder die andere Kunst zu einer idealen Hauptaufgabe, darin sich gleichsam alle die edelsten Kräfte eines solchen Volkes üben und verzehren, wird. Wir sehen den Auf- und Niedergang einzelner großen künstlerischen Bewegungen, wir können Zusammenhänge mit Thatsachen der Geschichte, der Religion, der Kultur und des Geisteslebens, ja selbst gewisse Gesetzmäßigkeiten feststellen, aber daraus allgemein gültige Regeln zu ziehen, ist nicht möglich. Wir müssen uns bescheiden, wollen wir nicht ins Dogmatische verfallen, eben die Thatsachen in helles Licht zu rücken und deren Vergleiche Aufschlüsse zu entnehmen.
Die erste und am meisten auffallende ist diese, daß in bestimmten Epochen bei bestimmten Völkern entweder die bildende Kunst oder die Dichtkunst oder die Musik vorwiegend – denn um Ausschließliches handelt es sich natürlich nicht – zum nothwendigen Ausdruck inneren Erlebens wird. Zweierlei Faktoren müssen hierfür als entscheidend betrachtet werden: die ausgesprochene Begabung eines Volkes für die eine oder die andere Kunst, und die Art der Ideen, von denen es beherrscht wird. Nur sehr selten, im höchsten Sinn vielleicht nur ein einziges Mal sehen wir bei einem und demselben Volke zu gleicher Zeit alle Künste sich bedeutsam entwickeln und zu hohen, zum Theil höchsten Idealen gelangen: bei den Hellenen. In der germanisch-christlichen Kultur sind, allgemein betrachtet, zeitliche Wandlungen festzustellen, nämlich Epochen, wie das Mittelalter und die Renaissance, in denen die bildende Kunst, zu vollkommensten Leistungen sich erhebend, als dominirende Macht auftritt, andere, wie die der neueren Zeit, in welcher die Dichtkunst und die Musik die Vorherrschaft erlangen.
Eine zweite Tatsache ist die, daß jede große Kunstbewegung, die zu vollkommener Gestaltung gewisser Ideen gelangt, eine zusammenhangende Entwicklung bezeichnet. Jahrhunderte lang arbeitet ein ganzes Volk an der Ausprägung eines Ideales; ist aber dieses verwirklicht, so tritt eine Erschlaffung der künstlerischen Kraft und ein Verfall der Formensprache und der Technik ein. Lang andauernd wie der Aufstieg ist zumeist auch der Abstieg. Diese Erscheinung hat ihre Analogie auf allen Gebieten des Lebens und Schaffens. Alle Geschichte der Menschheit vollzieht sich in einzelnen zunehmenden und abnehmenden Bewegungen mit einer Gesetzmäßigkeit, welche von der Naturwissenschaft in ihrer Evolutionslehre genauer präzisirt zu werden vermag, im Bereich des geistigen Werdens aber, wie gesagt, ohne sichere Einzelbestimmungen nur als analog erkannt werden kann.
Als eine dritte Thatsache ist Folgendes zu verzeichnen: überall, wo eine große Kunst entsteht, darf man von einer Volkskunst sprechen. Dies Wort freilich in einem anderen Sinne genommen, als es in unseren Tagen angewandt wird, da man unter Volkskunst eine Kunst versteht, die für das Volk – Volk also hier als Inbegriff der unteren Schichten der Gesellschaft betrachtet – gemacht wird. Diese moderne Volkskunst entspringt einem höchst seltsamen Wahne, in dem wir uns befinden, so gutgemeint das Bestreben auch sein mag, dem er dient. Alle ächte Kunst wurzelt im letzten Grunde in den allgemeinsamen seelischen und geistigen Bedürfnissen eines gesamten Volkes. Sie steigt ursprünglich aus den Tiefen empor und nicht von den Höhen in die Tiefen hinab. Von oben aus eine Kunst machen zu wollen, die dem Bedürfniß der unteren Schichten entspricht, ist schon aus dem einen Grunde unmöglich, daß die höheren gebildeten Klassen gar keine Ahnung davon haben, was denn das sogenannte Volk eigentlich verlangt. Ja, man konnte so weit gehen zu sagen: der Mangel an einer großen Kunst verräth den Mangel eines Volksbedürfnisses nach einer solchen. Für die unteren Schichten wäre im Sinne solcher human gedachten Bestrebungen nur das Allergrößte und Allerbeste gut genug und wird ihm das geboten? Werden ihm vielmehr nicht häufig Dinge von sehr zweifelhafter künstlerischer Bedeutung, werden ihm nicht Luxusgewohnheiten zugeführt, deren Wirkung, statt bildend und erhebend, nur pervertirend sein kann? Nimmt man etwa bei der Illustration der Tagesblätter, die als das weitverbreiteste Anschauungsmaterial überall den Arbeitern in die Hände kommen, auf deren Bildung Rücksicht? Sind diese nicht in entsetzlicher Weise verderblich, indem sie das Gift verkommener oberer Schichten in die unteren tragen? Doch davon rede ich noch später. Die Dinge sind auf den Kopf gestellt. Statt daß wir uns von den schlichten Klassen Gesundheit holen – ach! leider haben wir es verschuldet, daß sie auch dort nur wenig noch zu finden ist –, sind wir in unserer Verblendung bemüht, sie mit unseren ästhetischen Krankheiten anzustecken im Theater, in der Literatur, in der bildenden Kunst, uns den einzig nahrhaften Born zu trüben und zu verstopfen, aus dem wir Kraft schöpfen könnten.
Dies nur als Parenthese! Nicht eine Volkskunst im modernen Sinne meine ich, wenn ich die schöpferische Thätigkeit großer Kunstperioden Volkskunst nenne. Ist diese zweifellos der Ausdruck eines allgemeinen Bedürfnisses, worin eben ihre Nothwendigkeit, ihr Stil beruht, dann müssen wir Volk in einem weiteren Sinne nehmen. Da umfaßt Volk Hoch und Niedrig, und es erklärt sich daher sehr wohl, daß nur solche Vorstellungen, die Hoch und Niedrig gemeinsam sind, als nothwendige und nothwendig nach Ausdruck und Gestaltung ringende Vorstellungen eines ganzen Volkes bezeichnet werden können.
Es erklärt sich aber weiter hieraus auch die vierte Thatsache, daß immer und immer wieder die Kunst aus der Religion hervorgeht, daß überall da, wo eine große Kunst sich entwickelt, ihr tiefer, geheimnißvoller Grund das religiöse Bedürfniß ist, denn nur ein religiöses, inneres Erleben, das zum Schauen drangt, stellt jene ideelle Gemeinsamkeit her, die alle die verschiedenen Stände eines Volkes umschließt. Da schwinden alle Unterschiede, wie sie denn auch in der Kirche, welche die äußere Gestaltung der ideellen Einheit ist, aufgehoben werden. Religiöse Vorstellungen also, als die stärksten volksgemeinsamen, sind es, die vor allen anderen Gestalt und Gehalt einer großen Kunst werden. Freilich giebt es Religionen, die nicht nach der Seite der Kunst geführt haben, wenigstens nicht dem Schauensbedürfniß ideal gestaltbare Vorstellungen zuwiesen – es sind solche, in denen das Gedankenhafte, das philosophische Erkennen die Anschauung erstickte, wie etwa die Brahmanenlehre der Inder, aus welcher wohl eine tiefste Weltauffassung, aber nicht eine hohe künstlerische Formgestaltung hervorgehen konnte. Die meisten Religionen aber, wenn auch in verschiedenem Grade, sind derart, daß sie Vorstellungen in der Phantasie eines Volkes erwecken, welche nicht nur nach künstlerischen Formen verlangen, sondern diese auch in idealer Weise bestimmen.
Als ein Fünftes gilt es endlich die Art der Entwicklung künstlerischer Anschauung und Gestaltung, wie sie uns von der Geschichte gelehrt wird, zu beachten. Aus der Überfülle und Lebendigkeit der Phantasiethätigkeit, aus dem Verlangen, undeutliche Vorstellungen zu überzeugender Deutlichkeit zu bringen, entsteht das Bedürfniß künstlerischen Ausdruckes, entsteht die Kunst als eine Nothwendigkeit. Das geglaubte Unsichtbare, Erhabene, Geheimnißvolle, welches das Seelenleben bewegt, will als Wirkliches erschaut sein. Die Kunst ist nur ein Sichvergewissern der Wahrheit. Und immer ist es solch starkes Sehnen, solches Hervordrängen übermächtig die Einbildungskraft antreibender innerer Bilder, von dem eine große gemeinsame Kunst, eine Volkskunst ihren ursprünglichen Ausgang nimmt. Und dann werden die Vorstellungen durch lang anwachsende, mühsame Arbeit auf Grund des zunehmenden Naturstudiums ausgestaltet. Die Religion selbst brachte eine Beschränkung des Phantasiewaltens auf ganz bestimmte Aufgaben mit sich, die Kunst in ihrer Entwicklung sieht sich zu immer weitergehender Beschränkung, zur Verdichtung der Stoffe genöthigt, indem zugleich ein stärkeres Unterscheidungsvermögen allen Einzelheiten der Erscheinungen gerecht wird. Und so bilden sich die Anschauungen und Formen, welche jenen Vorstellungen zunehmende Verdeutlichung gewahren, aus, bis die vollkommene Deutlichkeit, der ausgeprägte Stil erreicht ist.
Mit der Entwicklung der Anschauung hangt die Entwicklung des künstlerischen Handwerks eng zusammen. Da es sich hier um ein gemeinsames Schaffen handelt, da das ganze Volk in einem gewissen Sinne mit an ihm betheiligt ist, da die Kunst zuerst von Handwerkern ausgeübt wird, da jeder Künstler eine strenge von einfachsten Anfängen ausgehende handwerkliche Erziehung genießt, bilden sich technische Traditionen aus, die sich von einer Generation auf die andere vererben, durch geniale erfinderische Köpfe bereichert und umgestaltet werden und zu immer höherer Vollkommenheit, die den höheren künstlerischen Anforderungen entspricht, gelangen. Diese Tradition des Technischen ist von unermeßlicher Bedeutung, denn die Technik, als künstlerisches Ausdrucksmittel, ist eine Dienerin, ohne welche die Herrin Intuition hülflos ist.
Neben der Gemeinsamkeit der Ideale und der Überlieferung hochentwickelter Technik ist endlich auch das Verhältniß, in dem der schaffende Künstler zur Allgemeinheit steht, in hohem Grade bezeichnend für eine große Kunstepoche. Es ist ein ganz bestimmtes, umschränktes. Indem nämlich der Künstler als geschulter Handwerker aus den niederen Standen hervorgeht, in dem kraftvollen Boden schlichter Arbeitsgewohnheit wurzelt, in Beziehung zu all dem, was wir als ursprüngliche Arbeit des Volkes verehren, steht, seine Aufträge aber von den höheren, reicher bemittelten Standen erhalt, wird er gleichsam zu einem Bindeglied zwischen den ungebildeten und gebildeten Klassen, zum Verdeutlicher der ideellen Gemeinsamkeit des Volkes. Seine Schöpfungen sprechen zu den Armen und zu den Reichen an Geist, sie sind volksthümlich. Nach unten und nach oben hat er festen Halt, ein nothwendiges Glied der gesellschaftlichen Ordnung. Durch seine technische Sicherheit und durch seine unmittelbare Beziehung zum Auftraggeber erscheint er äußerlich und innerlich vor den Gefahren launischer Willkür gesichert. In solchen einfachen Verhältnissen findet eine gesunde künstlerische Thätigkeit ihren Nährboden.
Von dem weiteren Verfolg in Kürze nur dieses! Im religiösen Glauben wurzelnde Ideen gewannen, wie wir sahen, eine Gestaltung, die bei wachsender Beobachtung der Natur und Ausbildung der Technik zu immer höherer Formulirung der Gesetzmäßigkeit sich erhob, bis sie den ihnen vollkommen entsprechenden Ausdruck in künstlerischen Gebilden erlangen, die den Höhepunkt der Entwicklung bezeichnen. Ist dieser erreicht, hat der künstlerische Drang das Ideal verwirklicht, mit diesem Augenblicke tritt eine Abschwächung der künstlerischen Kraft ein. Wohl aber ist nun eine mühsam erworbene Technik da, welche spielend zu verwerthen ist, eine Kenntniß der Natur, welche mit Leichtigkeit zu gestalten gestattet, und ein Schatz von Formen und Motiven, der ausgenutzt werden kann. Auf lange wirken diese Errungenschaften nach. Schon früher hat sich der Übergang von der religiösen zur weltlichen Bildung in der Gesellschaft vollzogen, hat individualistisches Streben die Bande der inneren Gemeinsamkeit gelockert. Eine vornehme und reiche Kaste, welche die Bildung pflegt, ja sie fast ausschließlich für sich in Anspruch nimmt und ihr Sonderleben führt, protegirt die Kunst; fürstliche Wünsche, ältere Gewohnheiten bis zum üppigen Luxus steigernd, machen sich die Künstler dienstbar. Das Verhältniß zwischen den drei Faktoren: Handwerkerthum, Künstler und Auftraggeber ändert sich. Der Künstler löst sich vom Handwerk und erhebt sich in die Sphären anspruchsvoller Unabhängigkeit. Akademische Lehranstalten treten an die Stelle der Werkstatt. Der profane Stoff, der neben dem religiösen schon früher eine Rolle, aber eine untergeordnete, spielte, drängt sich im Palast und im Privathaus in den Vordergrund – er bringt neue Probleme und Möglichkeiten, die unter glücklichen Bedingungen ein herrliches Nachspiel der hohen religiösen Kunst zeitigen können. Noch bieten sich große Aufgaben, und, berauscht durch alle Reize, welche die leicht schaffenden Künstler dem Leben gewähren, ehrt, ja verwöhnt man diese. Kunst gehört zu der Ausschmückung des täglichen privaten und höfischen Lebens, die Kirche bedarf ihrer pomphaft wirkungsvollen Dienste, und Gemeinsamkeiten, sei es staatlicher, sei es kommunaler, sei es genossenschaftlicher Art, lassen ihre Aufträge ergehen. Aber an Stelle der strengen Größe, Innerlichkeit und Naivetät tritt Pathos und Dekorationssinn. Nur da, wo noch starker Bürgergeist sich bewahrt, wo neue und besondere Bedingungen, wo ungebrochene Lebensfülle und -freudigkeit walten, vermag die profane Kunst zu einer mit der älteren religiösen wetteifernden Blüthe sich zu entwickeln. Bis es endlich zu Ende geht, bis ein letztes Versanden der großen Strömung eintritt. Zum reinen Luxusprodukt herabgesunken, aller inneren Nothwendigkeit baar, ein tändelndes Spiel verliert die entartende Kunst die letzte Fähigkeit zu Stilbildungen, verliert sie die technischen Fähigkeiten. Die schöpferische Kraft, die Jahrhunderte lang sich bewährt, hat sich vollständig erschöpft.
Die Analogie zwischen der griechisch-römischen und der christlich germanischen Kunst gestatten es, Auf- und Niedergang einer vollen Kunstentwicklung in solchen Zügen kurz zu zeichnen.
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Wenden wir uns nun mit so gewonnenen Auffassungen vom Werden und Wesen großer Kunst derjenigen des XIX. Jahrhunderts zu, so haben wir zunächst festzustellen, daß diese auf die Periode einer vollständigen Erschöpfung, wie sie im XVIII. Jahrhundert eintritt, folgt, und daß sie sich nicht aus dieser letzten Phase der Schaffensepoche entwickelt, wenn auch einzelne Erscheinungen derselben noch ein kümmerliches Dasein, weiter fristen. Also es ist ein neues Ansetzen künstlerischer Thätigkeit. Das Urtheil über deren Charakter und Bedeutung hängt sogleich von der Beantwortung der ersten Frage ab: ist diese Thätigkeit in hohen gemeinsamen, fruchtbaren Ideen begründet, entspricht sie einem inneren Volksbedürfniß, entsteht eine Volkskunst, wie wir sie als maßgebend für den Charakter einer starken Kunstentwicklung erkannt haben? Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein. Sie lautet: Nein. Die erste Erscheinung ist nicht etwas Neues, Originelles, sondern der Klassizismus. Aber nicht allein diese Hauptthatsache, sondern alle anderen widersprechen dem, was wir als charakteristisch für große Kunstperioden erfaßt haben.
Aber freilich höre ich da gleich einen Einwand: das ist Alles recht und gut, aber abstrakt; zeigen nicht die Erlebnisse jedes Tages, daß ein gleiches Interesse an der bildenden Kunst, wie heutzutage, vielleicht noch nie geherrscht hat? Finden wir in allen größeren Städten und zu jeder Jahreszeit alle die Schaubietungen von Kunstwerken in den überall sich aufthuenden Ausstellungen, nehmen wir den emsigen künstlerischen Betrieb allerorten wahr, beachten wir die Überfluthung des Büchermarktes durch Werke und Schriften, welche die bildende Kunst behandeln, und hören wir auf allen Seiten der Zeitschriften und Zeitungen von künstlerischen Dingen, die mit Erregung besprochen werden – dann scheint der fragende Ausruf doch sehr berechtigt: hat es denn jemals eine Zeit gegeben, in der die Allgemeinheit so stark von den Angelegenheiten der bildenden Kunst bewegt war, wie jetzt? Und beweist das nicht für deren intensives Leben?
Diese Erscheinungen dürfen uns nicht einen Augenblick blenden. Wir müssen vielmehr sogleich erwiedern: in allen jenen Zeiten, da die Kunst nothwendig und natürlich erwachsen ist, sind nicht entfernt so viel Worte über sie gemacht worden wie in unseren Tagen. Gerade alle diese historischen Betrachtungen und ästhetischen Diskussionen, das unaufhörliche Reden über die Kunst ist das bedenklichste Zeichen für diese selbst. Es weist darauf hin, daß sie nicht etwas natürlich Gegebenes, was sich von selbst versteht, sondern etwas nicht innerlich Begründetes und daher äußerlich zu Rechtfertigendes ist. Kein ruhiger Besitz, sondern ein gesuchter, gewollter. Alles geschäftige Interesse an künstlerischen Fragen spricht nicht für, sondern gegen die kraftvolle innere Bedeutung unserer Kunst. Wohl aber, wie gesagt, verkünden andere Dinge sehr vernehmlich, daß diese, als Ganzes betrachtet, aller gesunden Bedingungen entbehrt und daher in keiner Weise der großen alten verglichen werden kann. Und zwar gilt dies nicht nur von der Kunst der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts, sondern auch von der neuesten, von der ja gerade gesprochen wird, als erhebe sie sich zum Höchsten aller Zeiten.
Drei früher als wichtig festgestellte Erscheinungen kommen da zunächst in Betracht.
Erstens: es fehlt jede Beschränkung bezüglich der zu behandelnden Stoffe, jeder wohlthätige Zwang von Seiten bestimmter herrschender gemeinsamer Vorstellungen, vielmehr ist es in die volle Willkür jedes einzelnen Künstlers gegeben, zu schildern, sagen und behandeln, was er will und auch wie er es will.
Zweitens: alle Tradition fein durchgebildeter Technik ist verloren gegangen, es mangelt an aller Handwerksgeschicklichkeit. Bis heute hat sie nicht wieder erworben werden können. Mühsam müssen alle bedeutenden Maler sich um die Entdeckung und Verfeinerung der Ausdrucksmittel abquälen und bekennen –, wie gerade besonders die beiden Meister, mit denen wir uns näher beschäftigen –, durch ihr Suchen und ihre Aussprüche, wie hinderlich sie es empfinden, daß sie an nichts fest Gegebenes und Ausgebildetes anknüpfen können. Man denke nicht leicht über diesen Punkt. Am Technischen: an der Präparirung des Grundes, an der Farbenzubereitung und am Farbenauftrag hängt schließlich Alles, und rein aus der Technik läßt sich in unseren Tagen die Meisterschaft eines Malers bestimmen. Früher war das anders, da waren selbst Schwachbegabte im Besitze soliden Könnens, weil sie die gründliche Schule in der Werkstatt eines Meisters durchgemacht. Von dem Wahn der modernen Virtuosen, ihre skizzirende Behandlung sei hohe Technik, werde ich noch später zu sprechen haben. An Stelle der souveränen Beherrschung der Ausdrucksmittel, welche für große Kunst charakteristisch ist, also ein unaufhörliches Schwanken und Versuchen oder ein bequemes Sichgenügenlassen an primitivstem Verfahren. Man scheint gar nicht mehr zu wissen, welch ästhetischen Reiz die Farbenmaterie, subtil behandelt, an sich besitzt, obgleich es Böcklin und Thoma wieder gelehrt.
Über das Dritte: den Mangel an jedem gesunden Verhältniß zwischen Künstler und Allgemeinheit brauchte ich fast kein Wort zu verlieren! So offenkundig ist er. Die armen Künstler des XIX. Jahrhunderts! kann ich nur sagen. Alle die vielen edlen, strebenden Talente, die unserer Theilnahme sicher sind, mit was haben sie sich denn ihr Leben lang abzuquälen gehabt? Eben mit der Unnatur der künstlerischen Bedingungen. Nur ganz ausnahmsweise tritt wünschend und bestimmend der Auftraggeber zu dem Künstler in Beziehung, und dann zumeist von keinen großen Ideen geleitet und wahrer Geschmacksbildung baar, eher das Schaffen hemmend, als es fördernd. So wenig wie ein einzelnes Bedürfniß, kommt aber auch ein wirkliches allgemeines dem Schaffenden hülfreich entgegen, denn die Bestellungen seitens des Staates, der Städte und der Vereine sind in der Regel dazu angethan, das künstlerische Wollen herabzuwürdigen, statt es zu steigern. Die unselige Gewohnheit des Ausschreibens von Konkurrenzen verräth die Unsicherheit der künstlerischen Absichten und des Geschmackes bei den Auftraggebern, sowie den Mangel an Vertrauen in sich und in die Künstler auf das Deutlichste und verschuldet alle die trostlosen Erscheinungen öffentlicher Kunst, aus denen die Charakter- und Lieblosigkeit der Kunstzustände erschreckend spricht. Das Gute und Originelle muß bei solchen Wettbewerben, über welche unfreudige und ängstliche Kommissionen entscheiden, ja fast immer den Kürzeren ziehen.
Was blieb unter solchen Umstanden Anderes übrig, als daß der Künstler, von keiner Seite gehalten und ermuntert, vielmehr zu einem beschämenden Gefühl seiner Überflüssigkeit gedrängt, sich genöthigt sah, seine Produkte auf den Markt zu bringen, sie in großen Ausstellungsbuden feilzubieten? Und welche gefährlichsten Folgen mußte nicht solcher Betrieb für ihn selbst und sein Schaffen haben, da schließlich Alles darauf hinauslief, aufzufallen und zugleich jeder Sinn für die Größenverhältnisse eines Kunstwerkes, für deren Angemessenheit zu den behandelten Vorwürfen erstickt ward! Welche Folgen auch für das Publikum, das in solche Ausstellungen geht, weniger um zu kaufen, als sich zu bilden, zu unterhalten und Kritik zu üben! Ist nicht Alles dazu angethan, selbst das wenige noch vorhandene gesunde, natürliche Gefühl zu ertödten? Veranstaltungen, so zum Ruin aller künstlerischen Bildung bestimmt, wie diese, hat es schwerlich je gegeben. Schon dieses Ausstellungsunwesen dürfte doch genügen, über den Charakter unserer Kunstverhältnisse keinen Zweifel aufkommen zu lassen. Ein willkürliches Spiel, durch kein tieferes seelisches Bedürfniß bedingt, scheint die künstlerische Thätigkeit in der Luft zu schweben.
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Wir fragen uns, wie konnte es dazu kommen? Warum waren für die Entstehung eines neuen gesunden Lebens in der bildenden Kunst die Möglichkeiten nicht gegeben, nachdem das Alte sich ausgelebt? Wir alle wissen, welche entscheidenden Wendungen am Ende des XVIII. Jahrhunderts in den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Zuständen sich vollzogen. Sind sie es gewesen, welche der bildenden Kunst hinderlich waren? Liegt die Schuld an der Zersplitterung der Interessen, wie sie nach den verschiedensten Seiten im XIX. Jahrhundert eingetreten ist, an den mächtig sich vordrängenden Bemühungen um reichste Ausbildung aller technischen, praktischen Seiten der Zivilisation? Gewiß ist hierin eine Erklärung zu finden, und Vieles wäre darüber zu sagen, was unsere kurzbemessene Zeit uns nicht vergönnt. Aber eine bedeutsame Wahrnehmung macht doch stutzig und hindert daran, einen Mangel an allgemeinen Ideen, die zu künstlerischem Ausdruck drängten, für die Schwäche der bildenden Kunst verantwortlich zu machen, und zumal in Deutschland, auf das wir den Blick ja vornehmlich richten. Verräth sich das Wirken solcher Ideen doch in gewaltigsten Kunstschöpfungen, in denen der Dicht- und der Tonkunst. Dieselbe Zeit, welche die bildende Kunst hülflos in beklemmenden Verhältnissen sich abquälen sieht, erlebt die Thaten Goethes, Schillers, Beethovens, Richard Wagners. Es ist also doch ein gemeinsames Verlangen, nach künstlerischem Ausdruck ringend, vorhanden!
Gerade diese Wahrnehmung aber dürfte uns, so meine ich, den gesuchten Aufschluß geben. Er lautet: der Besonderheit gemeinsamer Ideen der neueren Zeit, die als volksthümlich zu bezeichnen sind, dem gemeinsamen inneren Bedürfniß entspricht nicht die bildende, sondern die Dichtkunst und vor Allem die Musik. Große Kunstschöpfungen sind, wie wir gesehen haben, ihrem Ursprung nach auf zeitlich weit zurückliegende Inspirationen der Volksseele zurückzuführen. Der Quell unserer Dichtkunst und Musik ist im XVI. Jahrhundert zu finden. Damals vollzogen sich so tiefgreifende geistige Veränderungen, daß für die Zukunft, bis auf unsere Tage, auch das Geschick der Künste durch sie entschieden werden mußte. Die Reformation bedingte aus sich, wie die neue Weltanschauung, so auch künstlerische Entwicklungen. In welchem Sinne?
Ihre entscheidende That war die weitestgehende Verinnerlichung christlichen Lebens im Glauben, wie wir dies früher schon berührten. Die Welt der Erscheinungen behielt nur noch einen relativen Werth, man drang auf das Wesen: nirgends mit gleicher Intensität wie in Deutschland. Die Reformation war ja ein spezifisch germanischer Akt. Die Kunst, in der sich das Wesen am unmittelbarsten äußert und offenbart, ist die Musik. Die Musik ermöglicht unbedingtesten Gefühlsausdruck, wie er dem Geiste der Reformation ganz entsprach, und daher wird sie die Kunst der neueren Zeit. Sie entwickelt sich aus frischen religiösen Anfängen in immer kühnerer Gestaltung bis zu den allumfassenden Tongebilden des XVIII. und XIX. Jahrhunderts. Und gleichzeitig wird ihre Schwester, die Dichtkunst, welche Wesen und Erscheinungen für die Phantasie verbindet und verdeutlicht, zur Künderin der Ideale. Sieht man die freie Entwicklung und die herrschende Macht dieser beiden Künste, in Sonderheit aber der Musik, so gewinnt man den Eindruck, als wäre von ihnen, welche die neuere germanische Volksseele so voll und unmittelbar ausdrücken, gleichsam alle künstlerische Kraft des Volkes aufgesogen worden, als wäre der bildenden Kunst nichts mehr zu sagen übrig geblieben, als sei sie überflüssig geworden, weil sie dem geistigen Bedürfnisse nicht in dem Grade, wie jene, entsprach. Und dies zwar um so weniger, als eben ihr Formensinn sich erschöpft hatte. Sie erhält keine innerliche Belebung und tritt zurück. Alle ihre Bemühungen, mit der seit Jahrhunderten jung und lebenskräftig sich entwickelnden Tonkunst an Bedeutung zu wetteifern, sind vergebliche.
Indem ich auf diese geheimnißvollen Dinge hinweise, bin ich mir bewußt, wie ungenügend meine Betrachtungen sind. Die Zeit ist zu kurz und der Geist bescheidet sich, solchen Erscheinungen gegenüber seine Engigkeit einzugestehen.
Ein kurzes Wort hat nur noch den hemmenden Einflüssen zu gelten, welche das starke Ausgehen auf Wissen im XIX. Jahrhundert auf die bildende Kunst ausüben mußte. Hemmend, weil eben das bildende Vermögen schwach und nicht widerstandsfähig genug war, solche Einflüsse zu überwinden. Sie kommen von den zwei Wissenschaften, von denen die Geistesthätigkeit der Gebildeten bewußt und unbewußt im Verlauf des XIX. Jahrhunderts mehr und mehr beherrscht ward, von der Geschichte und von der Naturwissenschaft, geistigen Machten, deren besondere Auffassung von der Welt und ihren Erscheinungen einer unbefangenen künstlerischen Betrachtungsweise feindlich ist. Rechnen wir endlich dazu, daß von Seite der Religion starke Impulse dem Künstler nicht gegeben wurden und die Kant'sche Philosophie mit ihrer abstrakten kritischen Erkenntnißlehre sich von allen anschaulichen Vorstellungen entfernte, so dürfte ich die hauptsächlichen Thatsachen, welche für die Erklärung des Charakters der bildenden Kunst im XVIII. Jahrhundert in Betracht kommen, wenigstens berührt haben.
Es bleibt zum Schlusse nur noch übrig, die bemerkenswerthesten Symptome ihrer Schwäche zu erfassen. Das zuerst zu erwähnende ist die Stillosigkeit, sowohl der Mangel an Stil, was die Gesetzmäßigkeit anbetrifft, als auch der Mangel an einer selbständigen einheitlichen und für die Bedürfnisse der Zeit charakteristischen Formensprache, wie er sich besonders auffallend in der Architektur als Armuthszeugniß gestaltender Kraft geltend macht. Das zweite Schwächesymptom ist die vorwiegende Reflektion, welche eine naive Anschauung nicht aufkommen läßt, sondern der künstlerischen Thätigkeit den Stempel der Absichtlichkeit aufprägt, sie verstandesgemäßen Theorien, Tendenzen und Prinzipien dienstbar macht. Das dritte ist die Abhängigkeit, in welche die Kunst von älteren Kunstperioden einerseits, von herrschenden geistigen Mächten andererseits geräth. Durch das ganze XIX. Jahrhundert hindurch sucht sie nachahmend Stütze und Halt an Vorbildern großer Vergangenheit und unterliegt zu gleicher Zeit den zwingenden Einflüssen, sei es der beiden anderen Künste, Dichtung und Musik, sei es der Wissenschaften, wie der Geschichts- und Naturforschung. Die besonderen Erscheinungen, die damit zusammenhängen, werde ich später beachten. Das vierte Schwächesymptom endlich ist der beständige Wechsel der Richtungen, die sich häufig nach Gegensätzen ablösen. Auch hierüber werde ich noch zu sprechen haben.
So Alles in Allem betrachtet, vergleicht sich diese Kunst einem kraft- und charakterlosen Menschen, der, unfähig sich auf eine Aufgabe zu konzentriren, abhängig von anderen Meinungen und dabei doch rechthaberisch, in seinen Launen wechselnd, sich auf seinen Beruf nicht versteht, wohl aber höchste Ansprüche auf Bewunderung und Respekt erhebt!
Alle diese Kritik aber, die unabweisbar ist, so gerne wir uns auch einem gefällig schmeichelnden Wahne hingeben möchten, galt der Kunst des XIX. Jahrhunderts, ganz im Allgemeinen gefaßt. Sobald wir uns dem Besonderen zuwenden, verwandelt sich solche Unerbittlichkeit des Urtheils in die Anerkennung aller der idealen und eifrigen Bestrebungen, die sich geltend machen. Da zeigt sich das Schauspiel, wie hochgerichtetes Wollen, edle Begabung, ja selbst geniale Kraft, die alle Hemmnisse überwindet, in Einzelnen den Kampf mit den ungesunden und ungünstigen Verhältnissen aufnimmt. Ein tragischer Anblick, der unsere wärmste Sympathie für die Kämpfer erwecken und unsere Bewunderung für ihre trotz Allem bedeutenden Leistungen steigern muß.
Ein kurzer Überblick über die deutsche Malerei des XIX. Jahrhunderts wird uns in solchen hervorragenden Persönlichkeiten das Deutsche kraftvoll wirkend, wenn auch nur in seltenen Fallen zu freiem Ausdruck gelangend, zeigen, indessen wir in dem Allgemeinen nicht die Kraft, sondern die Schwächen deutschen Wesens finden werden. Die Phänomene sind also nicht einfacher, sondern verwickelter Art und verständlich nur, wenn wir die heute angestellten Betrachtungen fest im Sinne behalten. Und damit treten wir nun die durch so verschiedenartige Bereiche führende eilige Wanderung an, die uns vom Beginn des Jahrhunderts bis zu der Gegenwart, bis zu der als Moderne bezeichneten Kunst führen soll.