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Neuntes Kapitel.

Ende März unter Frühlingssturm und Regen begann der Wahlkampf. Abends fanden im weißgetünchten Saal des Blumenkorbs, wo man sonst Hochzeiten feierte, Versammlungen statt, zu denen die Wähler sich herbeidrängten. Die Musikestrade trug den Tisch des Vorsitzenden und diente als Rednerbühne. Zwei Strömungen waren in der Versammlung zu unterscheiden, beide gleich kräftig, dann und wann heftig gegeneinander prallend. Zur Linken scharten sich die Anhänger des »Bisherigen« um Toucheboeuf, den Holzhändler Odoul und den Apotheker Blouet, zur Rechten die Fortschrittler um den jungen Doktor Jourd'heuil und den wohlbeleibten Wirt selbst, der sich der neuen Kundschaft freute.

Gleich nach der ersten Versammlung und nach einer zweiten Beratung mit Adeline Nivard, beschloß Firmin Charmois, seine Schiffe hinter sich zu verbrennen. Er meldete sich zum Wort und bestieg mutig die Rednerbühne. Die große Stille, die sofort eintrat, und die Menge der ihm erwartungsvoll zugekehrten Gesichter schüchterten ihn anfangs ein; bei seinen Rosen hatte er sich nicht zum Redner ausgebildet und die Kehle war ihm einen Augenblick wie zugeschnürt. Aber er wollte und mußte sich Luft machen und die Echtheit der inneren Bewegung verlieh seinen Worten Kraft.

»Meine Freunde, ich bin euch kein Fremder,« begann er. »Ihr habt mich an der Arbeit gesehen! Seit zehn Jahren sitze ich im Gemeinderat; ich habe immer ehrlich meine Meinung vertreten, immer der Allgemeinheit zu dienen gesucht. Weder an meinem guten Willen, noch an meiner Aufrichtigkeit könnt ihr zweifeln, und so werdet ihr mir auch glauben, was ich euch jetzt freimütig auseinandersetzen will. Ich dachte nicht anders, als daß ich im Kreis meiner bisherigen Kollegen vor euch treten, meinen Namen auf ihrer Liste sehen würde, aber während ich arglos zu ihnen stand, haben verschiedene unter ihnen mir zwar öffentlich die Hand geschüttelt, insgeheim aber verräterisch an mir gehandelt; sie haben sich verschworen, mich aus dem Gemeinderat zu vertreiben, oder mich, falls ich doch von euch gewählt würde, zum Rücktritt zu zwingen. Man hat mich von ihrem Treiben unterrichtet, und da ich nicht der Mann bin, über den man sich lustig machen soll, erkläre ich an dieser Stelle öffentlich, daß ich keinerlei Gemeinschaft mehr mit ihnen haben will, mich von den Judassen, die im Dunkeln schleichen, lossage. Ich verbitte mir, daß sie meinen Namen auf ihre Liste setzen, er ist mir zu gut dazu! Trotzdem ziehe ich mich nicht von der Wahl zurück, ich bitte im Gegenteil die Wähler, mir ihr Vertrauen zu erhalten, es aufs neue zu beweisen und es auf die auszudehnen, die mir als wahre Freunde zur Seite stehen. Es sind aufgeklärte, rührige, thatkräftige junge Männer, die sich nichts Besseres wünschen, als ihre Kräfte in euren Dienst zu stellen. Sie wünschen wie ich und wie ihr alle, daß unser Gemeinwesen nicht zurückbleibe, daß es wie andre in den Genuß zweckmäßiger Verbesserungen trete und an Bedeutung gewinne. Wir brauchen bessere Straßen, bessere Straßenbeleuchtung, gesundheitsgemäße Abzugskanäle; wer heute nicht vorwärts schreitet, geht zu Grunde. Zu gemeinsamer Arbeit für das allgemeine Wohl habe ich mich mit ihnen vereinigt und bitte die Wähler, uns nicht voneinander zu trennen, wenn sie zur Urne schreiten!«

Diese unverblümte Erklärung traf die Gegner gänzlich unvorbereitet – darauf waren sie nicht gefaßt gewesen! Die drei Führer sahen sich betroffen an, dann meldete sich der Apotheker als der Redegewandteste zum Wort.

»Meine Herren,« hob er in leichtem, scherzhaftem Plauderton an, »die seltsame Rede, die wir eben zu hören bekamen, überrascht mich nicht minder als Sie! Herr Charmois beklagt sich über seine Kollegen und droht, ihnen die Leuchte seines Geistes zu entziehen! Er scheint sich für unentbehrlich zu halten, worin er sich gründlich täuscht; wir halten ihn nicht zurück, ja, das Bedauern, daß unsre Wege sich trennen, wird sehr gemäßigt durch die Richtung, die wir ihn einschlagen sehen ...« Ein spöttischer Blick streifte die Gegner. »Nur gegen die Verleumdungen, die uns Charmois ins Gesicht schleudert, muß ich mich persönlich und im Namen meiner Freunde aufs ernstlichste verwahren. Ich will ja die Ehrlichkeit, womit er sich brüstet, nicht in Zweifel ziehen, dann hat ihm aber seine Phantasie einen Streich gespielt ... Die Geschichte von der Verschwörung gegen ihn würde einem Zeitungsroman zur Zierde dienen, leider ist sie nur eine Ausgeburt seines offenbar kranken Gehirns, und ich erkläre mit aller Entschiedenheit, daß von unsrer Seite nichts geschehen ist, seine Wahl zu hintertreiben!«

»Nicht einmal den Mut eurer Schlechtigkeit habt ihr!« rief Charmois, mit dunkelrotem Kopf auf die Rednerbühne eilend. »Trotz ihrer Entschiedenheit wiederhole ich die Behauptung, daß eine Verschwörung gegen mich stattgefunden, daß die Herren sich jeden Abend bei Herrn Toucheboeuf versammelten, der die Sache angezettelt hat und die Herren am Schnürchen zu halten glaubt wie Hampelmänner. Er meint, wenn er mich aus dem Gemeinderat hinausbugsiert hätte, würde alles nach seiner Pfeife tanzen. Ich bin ihm unbequem und ich kann euch auch sagen, weshalb ... er weiß, daß ich die Herstellung der neuen Straße wünsche ... das erzürnt ihn! Dieser Weg, der für alle Bedürfnis ist und Wohlthat wäre, schädigt Herrn Toucheboeufs persönlichen Vorteil, weshalb er mir eines Tages unumwunden den Vorschlag gemacht hat, die Regierung zu zwingen, daß sie uns den nötigen Boden zum doppelten Wert abkaufe ...«

»Das ist erlogen!« knirschte Toucheboeuf, die geballte Faust in die Höhe streckend.

»Das ist wahr!« rief eine Stimme aus der Versammlung.

»Das wage man, mir ins Gesicht zu behaupten!« rief Toucheboeuf, wie ein gereizter Stier vorwärts stürzend.

Jetzt trat der Gärtner Jacquin, ein rauhborstiger Geselle im Arbeitskittel, vor.

»Wahr ist's,« wiederholte er, »denn Sie haben mir eines Morgens in Ihrem Himbeerland den nämlichen Vorschlag gemacht. So gut Sie mich drankriegen wollten, haben Sie's bei Herrn Charmois auch versucht.«

Zischen und Verachtungsrufe ertönten.

»Es ist erlogen,« kreischte Toucheboeuf wieder.

»Hinaus mit Toucheboeuf! Setzt ihn an die Luft!« schrieen Jacquins stämmige Freunde.

Man schrie und tobte von beiden Seiten, bis die Versammlung sich in wildem Tumult auflöste.

Am andern Morgen tauchten an jeder verfügbaren Mauer bunte Anschlagzettel auf, mit einer Wahlliste der ›Freisinnigen, fortschrittlichen Vereinigung‹ ›Firmin Charmois, Rosenzüchter, Ritter der Ehrenlegion‹ an der Spitze. Erst am zweiten Tag darauf erschien die der Konservativen, alle bisherigen Gemeinderäte enthaltend bis auf Firmin Charmois, an dessen Stelle ›Marius Lavaur, Professor am Lyceum Buffon‹ getreten war – grausamer hätte man den Rosenzüchter nicht verletzen können, als durch diese öffentliche Kundgebung von dem Abfall in der eigenen Familie.

Ja, der arme Firmin sollte den Kelch des Wahlungemachs bis zur Hefe leeren! In der nächsten Woche brachte ein Winkelblatt, das die Gegner gut bezahlten, einen Artikel über ihn. Man behandelte ihn darin als Freimaurer, beklagte seinen bis zum Wahnsinn gesteigerten Ehrgeiz, der ihn getrieben habe, seine eigene Vergangenheit, seine Ueberzeugungen zu verleugnen und sich in die Arme von Leuten zu stürzen, die nur Unruhe stiften wollten, kein Herz für Saint-Saviol hätten, dem sie fremd seien. Man zog auch sein Privatleben herein, deutete an, daß er besser thäte, sein Geschäft zu treiben, als Politik, daß dieses stark zurückgehe, und daß verschiedenen Mitgliedern seiner Familie eine strengere Beaufsichtigung ihres Lebenswandels not thäte. Dagegen wurde Marius Lavaur als ein erhabener Charakter gepriesen, der unerschrocken an seinen Ueberzeugungen festhalte und sich von einem Schwiegervater losgesagt habe, der mit den »Anarchisten« verbündet sei. Diese frechen Uebergriffe auf das Privatleben, diese Uebertreibungen und Entstellungen brachten den armen Charmois geradezu außer sich. Die erste Wirkung des Schmähartikels war ein heftiges endgültiges Verbot jeglichen Verkehrs zwischen Desiré und Sabine.

»Alles, was mit dieser Canaille in Beziehung steht, ist mir verhaßt, laß dir das gesagt sein und schlage dir das Mädchen aus dem Kopf!« schrie der Vater. »Lieber würde ich mir die Hand abhauen, als meinen Segen zu einer solchen Heirat geben!«

Der Sohn senkte stumm den Kopf, am Abend aber benahm sich das junge Liebespaar unter den grünenden Bäumen auf Molés Grab sehr klassisch – es klagte gleich Cid und Ximene über die Leiden und Thränen, die ihnen der Väter Thaten schufen! Die Zusammenkünfte der beiden waren viel häufiger geworden, denn Toucheboeuf ging ja gegenwärtig jeden Abend in eine Versammlung oder ins Café und konnte die Nichte nicht mehr so streng überwachen.

Während im Tabaksqualm der Versammlungen Haß und Neid tobten, atmeten sie draußen mit der linden Frühlingsluft nichts als Liebe, Veilchenduft und Lenzeswehen ein. Die Bangigkeit, die ihnen der wachsende Haß der Väter verursachte, die Wolken, die ihren Himmel auch am lichten Frühlingstag verhüllten, und das Verantwortlichkeitsgefühl, das Sabines unbedingtes Vertrauen dem jungen Mann auferlegte, schützte sie indes vor den Einflüsterungen der liebeatmenden Natur. Ihre Liebe blieb rein und keusch; nur ein inniger Händedruck verriet die süße Glut der beiden. Desiré neigte immer wieder zur Mutlosigkeit, und so mußte Sabine ihn und sich mit ihrer Zuversicht stärken.

»Verzweifle doch nicht! Diese Trübsal wird vergehen wie Märzenschnee und unsre Liebe muß die Sonne sein, die ihn auftaut!« sagte Sabine. »Ist sie's denn nicht?«

»Freilich, aber welche Qual, sie heimlich mit sich herumzutragen, als ob sie ein Verbrechen wäre! Ich möchte dich besitzen, Sabine, möchte aller Welt mein Glück preisen und zeigen!«

»Geduld!« entgegnete sie lächelnd. »In zwei Monaten bin ich frei und selbständig ...«

»Aber ich bleibe abhängig von meinem Vater, und wenn er uns seine Zustimmung verweigert, was dann?«

»Dann ... ach, es wird sich schon ein Ausweg finden ...«

Und aus den braunen Augen strahlte ihm solche Liebesmacht, solch seliger Glaube entgegen, daß es auch Desiré wieder leicht ums Herz wurde.

Der Wahlkampf wurde mit jedem Tag stürmischer. Das Blättchen, das sich die Altenpartei gekauft hatte, fuhr fort, Firmin Charmois zweimal die Woche mit Nadelstichen und Peitschenhieben zu züchtigen, so daß der gequälte Mann gar nicht mehr aus dem Wutzustand herauskam. Er konnte nicht mehr schlafen, wurde fürchterlich reizbar und Frau Regine hatte viel auszustehen. Sie hatte nie gewünscht, daß er sich am öffentlichen Leben beteilige, hätte es viel lieber gehabt, wenn er in Ruhe seinen Geschäften nachgegangen wäre, durfte aber davon nichts mehr verlauten lassen, denn der geringste Widerspruch rief schreckliche Auftritte hervor.

»Ich kenne den Vater gar nicht mehr,« klagte sie bei Florence, »die schlechten Menschen haben ihn rein verhext! Ein Hitzkopf war er ja immer, aber bisher war's nur Strohfeuer, das schnell abflackert, jetzt glostet's weiter. Irgend ein Wort, das ihn ärgert, und er tobt, daß man an Leib und Seele zittert! Die Politik hat ihn verrückt gemacht; bei Nacht träumt er davon und gönnt mir auch keine Ruhe mehr - plötzlich weckt er mich und hält mir Reden, die er in der Versammlung loslassen will. Seine Rosen und das ganze Geschäft sind ihm gleichgültig geworden, und wenn Desiré nicht wäre, müßten wir bald zu Grund gehen.«

»Ach, das wird ja vorübergehen,« meinte Florence leichthin, »Wenn Papa Bürgermeister ist, denkst du auch nicht mehr daran!«

»Meinst du?« versetzte Frau Regine, sich mit ihrer Stricknadel durch die Haare fahrend. »Die Frage ist nur, ob er's wird. Wenn er durchfällt, so sind wir das Gespött der ganzen Gegend, und wenn er gewählt wird – meinst du, daß der Bürgermeister uns Butter aufs Brot streicht? Nein, wahrhaftig nicht! Alles, was dabei herauskommt, ist mehr Umtrieb und mehr Kosten! Das hat man von den Ehren, sonst nichts! Ich sage dir, ich habe förmlich Heimweh nach der Zeit, wo dein Vater und ich gearbeitet haben wie die Negersklaven, und er nichts im Kopf hatte, als seine Rosen!«

Die grünen, gelben und blauen Anschlagezettel brachten fortwährend Neues. Drei Tage vor der Wahl lautete einer davon:

»Wenn ihr mich dem Gemeinderat erhalten wollt, so stimmt für unsre ganze Liste. Streicht keinen Namen und fügt auch keinen hinzu, damit gewiß alle diese ehrenwerten Männer an meiner Seite stehen. Tretet zur Urne mit dem festen Bewußtsein, ein Recht auszuüben und eine Pflicht zu erfüllen, indem ihr unerschrocken für Gerechtigkeit und Fortschritt, für Blühen und Gedeihen der Gemeinde sorgt.

Firmin Charmois.«

»Wähler!« – so lautete ein sofort erschienenes Toucheboeufsches Plakat – »Ihr habt zwei Listen vor Augen. Auf der einen die erprobten Männer, denen ihr bisher euer Vertrauen schenktet, auf der andern dagegen ein einziger davon und an seiner Seite Umstürzler, Leute ohne Treu und Glauben! Vergleicht und wählt! Von euch hängt Heil oder Unheil der Gemeinde ab!«

Trotz seiner stolzen Zuversicht fragte sich Firmin Charmois am Tag des Waffenstillstands vor der Schlacht wohl tausendmal, ob er nicht auf den Holzweg geraten sei. Wie Gewitterwolken stiegen immer neue Zweifel in ihm auf; die Haltung der Wähler in den letzten Versammlungen hatte ihn sehr beunruhigt; schweigend, ohne Beifall oder Unmut zu äußern, hatten sie die Reden verschiedensten Inhalts mit unergründlich geheimnisvollen Gesichtern angehört. War ihre Zurückhaltung nur Vorsicht, Angst vor Toucheboeufs Rache? Oder sprach sich darin ein Mißtrauen gegen die neuen, gar nicht zündenden Namen aus, die Charmois dem seinigen beigesellt hatte? Diese Ungewißheit folterte den armen Firmin und doch wieder ... gerade in den letzten Tagen vor der Wahl hatten ihm manche Begegnende heimlich zugelächelt, mancher oberflächlich Bekannte hatte ihm herzhaft die Hand geschüttelt, und das hob seinen Mut wieder. Er fühlte sich wie von einer stillen unterirdischen Strömung des Wohlwollens getragen.

Endlich kam der Wahltag, den ein lichter Frühlingshimmel mit leichten flockigen Wölkchen bestrahlte. Es war der Sonntag Quasimodogeniti. Frisch rasiert und von Kopf bis zu Fuß neu gekleidet, verließ Firmin Charmois schon vor sieben Uhr die Chataigneraie, um sich aufs Rathaus zu begeben. Wohl schnürte ihm innere Bewegung die Brust zusammen, aber er rang mit Erfolg nach äußerer Fassung. Die Morgensonne goß rosigen Schimmer über die vom ersten Grün angehauchte Landschaft; die Sonntagsglockenklänge schwebten fröhlich aus dem romanischen Turm übers Land hin, die Lerchen schmetterten hoch im Blau. Diese frohe Stimmung der Natur schien ihm Gutes zu bedeuten.

Ermutigt und erfrischt betrat er den Saal, wo sich eben das Wahlamt aufthat, dem er selbst neben Toucheboeuf, Odoul und dem Baumschulbesitzer Lanteleme als Beisitzer angehörte. Als bisheriger Adjunkt war der Apotheker Blouet heute Wahlvorsteher. Der Gemeindeschreiber hatte die verschlossene Truhe, die als Wahlurne diente, aufgestellt und die Wählerlisten auf dem Tisch bereit gelegt, während einzelne Zuschauer, die von Anfang an dabei sein wollten, kleine Gruppen bildeten. Charmois drückte dem Doktor Jourd'heuil, Jacquin und Despaquis die Hand und begab sich auf seinen Posten. Der Zufall wollte, daß Toucheboeuf gerade neben ihm saß; doch sahen sie einander nicht an, sondern jeder zog eine Zeitung aus der Tasche und that, als ob er eifrig läse.

Anfangs erschienen die Wähler sehr vereinzelt. Mit ernstem Gruß nannten sie ihre Namen und reichten den sorgfältig gefalteten Stimmzettel dem Präsidenten, der ihn in die Truhe schob, die durch ein kleines Läutwerk an der Innenseite des Deckels eine Empfangsbestätigung abgab. Bis elf Uhr erfolgte die Wahl tropfenweise, nach Schluß der Messe aber stromweise. Das Wahlamt hatte vollauf zu thun, alle Namen zu verzeichnen, und der Andrang wuchs von Stunde zu Stunde. Bis auf die Kranken oder Lahmen fühlte offenbar jeder Wahlberechtigte die Pflicht, zu erscheinen, und Firmin wußte nicht recht, ob diese ganz ungewöhnliche Beteiligung günstig oder ungünstig für ihn auszulegen sei. Seine forschenden Blicke waren ganz vergebens, weder Bürger noch Taglöhner verriet seine Gesinnung.

Um ein Uhr wurde das Wahlamt abgelöst und Charmois eilte nach Hause, um zu essen, aber die fieberhafte Spannung raubte ihm gänzlich den Appetit. Auch duldete es ihn nicht zu Hause; ihm war, als ob seine Abwesenheit von der Urne ungünstig wirken könne, und so stärkte er sich nur mit einer Tasse heißen schwarzen Kaffees und schlich sich davon, von abergläubischer Angst an den Ort der Entscheidung gezogen.

Dort herrschte jetzt Windstille. Die große Masse der Wähler hatte ihrer Pflicht genügt, jetzt kamen nur noch Nachzügler, unschlüssige Leute, die gern bis zum letzten Augenblick zögern. Die Ruhe im Saal steigerte Charmois' Unruhe bis ins Unleidliche; jeder Nerv in ihm zuckte, die Zeit schien ihm zu schleichen, und doch schreckte er zusammen, als es plötzlich sechs Uhr schlug und die Wahl für geschlossen erklärt wurde.

Im Nu war der Saal gedrängt voll Menschen. Fast alle Wähler wollten der Stimmenzählung beiwohnen und der sonst so stille Raum mit seinen weißgetünchten Wänden war von lärmenden aufgeregten Gruppen erfüllt. Der Apotheker öffnete die Truhe und man ging in all dem Stimmengetöse und Lärm an die Zählung der Stimmzettel. Sechshundert waren abgegeben worden; man verteilte sie in vier Körbe, die von den Stimmenzählern rasch auf kleine Tischchen in den Fensternischen getragen wurden, wo die Eröffnung begann.

Da jeder Stimmzettel sechzehn Namen enthielt, war die Verlesung eine langwierige, mühsame Sache. Der Tabaksqualm steigerte die abendliche Dämmerung noch, und man mußte das Gas anzünden und den Stimmenzählern Lampen bringen. In ihrem rötlichen Schein hoben sich die Gesichter der neugierig um die Tische Drängenden scharf ab, ein wunderliches Schattenspiel. Ueber das dumpfe Schwirren der Privatunterhaltungen erklangen jetzt scharf und hell die Namen: »Charmois, Jourd'heuil, Loyer, Saintot« und so weiter, oder: »Toucheboeuf, Odoul, Blouet, Lanteleme« und so weiter. Von Zeit zu Zeit gab es Erörterungen über einen fehlerhaften Stimmzettel, Rufe und Gegenrufe, dann trat wieder verhältnismäßige Ruhe ein. Charmois lauschte in fieberhafter Spannung; nach und nach war es ihm, als ob sein Name öfter wiederkehrte als der andre, und Hoffnung erleichterte die beklemmte Brust. Von Viertelstunde zu Viertelstunde wurde der Sieg seiner Liste wahrscheinlicher; das bestätigten ihm namentlich die bestürzten Gesichter mancher früheren Kollegen, die freudigen Mienen seiner Anhänger. Um zehn Uhr war die mühselige Arbeit erledigt, der Ratschreiber legte dem Präsidenten das Protokoll vor. Blouet erblaßte, aber er hielt sich tapfer, obwohl ihm die Kniee zitterten. Mit tonloser Stimme las er: »Firmin Charmois – vierhundertzwanzig Stimmen ...«

Donnernder Beifall schnitt ihm das Wort ab, dann folgte sofort wildes Zischen, das Toucheboeufs Abgang galt. Den Arm um Odouls breite Schultern geschlungen, wankte Toucheboeuf unter Hohngelächter als ein gebrochener Mann zum Saal hinaus, während der Apotheker, gute Miene zum bösen Spiel machend, in der Verlesung fortfuhr. Die Vernichtung der Altenpartei war eine vollständige, Chamois' ganze Liste war mit Glanz durchgegangen, die andre dagegen hatte eine lächerlich kleine Minderheit, die sich zwischen hundertvierzig und hundert Stimmen bewegte. Stürmischer Jubel brach los, und man strömte hinaus, um dem ganzen Ort die Siegesbotschaft zu verkünden; wenig fehlte, so hätte man Charmois auf den Schultern getragen! Ein langer Zug, ihm teilweise unbekannter Freunde gab ihm jauchzend und singend das Geleite zur Chataigneraie, pflanzte sich vor dem Garten auf und rief ihm noch »Hoch Charmois!« und »Hurra, unser Bürgermeister!« nach.

Im Haus selbst hatte« sich die vorangeeilten neuen Kollegen versammelt und beglückwünschten sich gegenseitig. Im Nu war im Garten ein Tisch gedeckt worden, die Sektpfropfen knallten und Desiré füllte unermüdlich die Gläser. Florence flog mit einem ungeheuren Rosenstrauß in des Vaters Arme ...

»Meine Freunde! Meine teuren Freunde!« stammelte Charmois gerührt. »Wie glücklich bin ich doch! Ich trinke auf euer Wohl, auf das Wohl der wackeren Bürger von Saint-Saviol, die uns ihr Zutrauen so glänzend bewiesen haben!«

Während hier die Gläser aneinanderklangen, ertönte auf dem Platz der Quinconces dumpfer Trommelwirbel – die »Fanfare« verhöhnte Toucheboeuf unter Loyers Leitung mit einem Trauermarsch vor seinen Fenstern.


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