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Viertes Kapitel.

Die Voraussetzung der jungen Leute war indes unrichtig. Was Gefühle anging, so belasteten sie den Getreidehändler so wenig als ein Schmetterling den Eichbaum; er bestritt ja nicht, daß sie vorhanden waren, aber ins Gewicht fielen sie höchstens, wenn es galt, das Zünglein an der Wage mit Gewalt niederzudrücken, und die Angelegenheit, die er mit Firmin Charmois besprechen wollte, war in seinen Augen ungleich wichtiger.

Es handelte sich um eine Straße, die an Stelle eines Feldwegs den Abhang des Hügels hinuntergeführt werden sollte. Die Besitzer der zerstreut liegenden Häuser hatten es satt, sechs Monate im Jahr bis über die Knöchel in Schmutz zu versinken, und waren beim Gemeinderat sehr dringlich geworden mit ihren Gesuchen um Ausführung des Plans, die sie obendrein damit begründen konnten, daß die neue Straße dem ganzen Ort zu gute käme, indem die Entfernung zur Eisenbahnstation dadurch abgekürzt würde. Toucheboeuf war ganz entgegengesetzter Meinung. An diesem Abhang hatte er ausgedehnte Himbeerpflanzungen angelegt und der Gedanke, ein Stück seines Bodens abtreten zu müssen, brachte ihn außer sich. Das Wohl oder Wehe andrer Hausbesitzer focht ihn nicht an, und er war fest entschlossen, durch maßlos hohe Forderungen für sein Grundstück die Ausführung des Plans zum Scheitern zu bringen. Immerhin war es ratsam, sich einen Bundesgenossen im Widerstand zu sichern, und da Charmois an diesem Abhang auch ein Baumgut besaß, rechnete er fest darauf, ihn zu gemeinsamem Vorgehen bewegen zu können.

Vor neun Uhr schon sah man Toucheboeuf am andern Morgen zwischen seinen Himbeeren umherklettern, anscheinend emsig beschäftigt, nach dem Stand ihrer Reife zu sehen, in Wahrheit ganz erfüllt von andern Gedanken. Er setzte sich dann eine Weile vor das mit Rinden verschalte Gartenhäuschen, wo er den holperigen Feldweg zwischen Baumgütern und Häuschen verfolgen konnte, als er aber Schlag zehn Uhr Charmois' Strohhut zwischen den Hecken auftauchen sah, vertiefte er sich wieder so in die Untersuchung des Gesträuchs, daß sich der Rosenzüchter durch einen freundschaftlichen Klaps auf seinen gebeugten Rücken bemerklich machen mußte.

»Ach, da bist du ja, Firmin!« rief er scheinbar überrascht, aber eher verdrießlich als erfreut. »Da seh' ich eben, wie die Obstdiebe wieder gehaust haben ... wohl der Mühe wert, daß die Gemeinde einen Feldhüter anstellt! Dieser Esel scheint sich die Nachtmütze über die Ohren zu ziehen, während man unsre Beeren plündert! Ich werde mich wahrhaftig selbst in den Hinterhalt legen müssen. Wenn ich aber einen erwische, dem pfeffere ich ordentlich eins aufs Fell ...«

»So ärgere dich doch nicht so unnötig,« versetzte Charmois lachend. »Ein paar Körbe Himbeeren machen dich doch noch lange nicht arm und gegen Beerendiebe zieht man doch nicht gleich mit Pulver und Blei ins Feld.«

»Meinst du? Ich bin für Wahrung des Eigentums in jeder Form, und sieht man einmal durch die Finger, so ziehen sie einem gleich das Fell über die Ohren. Uebrigens löse ich in Paris einen halben Franken für das Kilo Himbeeren und ich habe nicht die mindeste Lust, diesen Ertrag einem Landstreicher zu schenken.«

»Um über die Himbeeren zu reden, hast du mich wohl nicht herbestellt?« schnitt Charmois diesen Zorneserguß ab.

»Nein, mein Alter,« versetzte Toucheboeuf plötzlich ganz aufgeheitert, indem er seinen Arm durch den des Gevatters schob. »Setzen wir uns ins Gartenhaus ... es redet sich da besser als in der Sonne ... Alles wohl bei dir zu Hause?«

»Ja, es geht, und das Geschäft auch.«

»Das kann ich mir denken! Wo Tauben sind, da fliegen Tauben hin! Und nun noch Medaille und Orden ... gratuliere bestens! Du hast Glück.«

»Das findet mein Herr Schwiegersohn auch,« entgegnete Charmois mit einem Anfluge von Bitterkeit, denn die bissigen Bemerkungen Vignerons und die siebenhundert Franken, die ihm seine Töchter abgeschwatzt hatten, waren noch nicht verschmerzt. »Und daß Medaillen ihre Kehrseiten haben, ist mir auch schon klar geworden!«

»Unsinn! Wird dir das Glück etwa schon lästig? Das rote Band gibt dir ein riesiges Ansehen und du kannst Bürgermeister sein, sobald du Lust hast.«

»Falls man nicht dir die Schärpe umhängt!«

»Mir? Ach, du weißt ja, wie ich darüber denke! Ich stelle mich nicht gern in den Vordergrund und der Bürgermeistertitel lockt mich gar nicht. Nein, nein, ich bin dir nicht im Wege ... ich werde dir im Gegenteil Vorschub leisten ... übrigens wollte ich gerade über Gemeindeangelegenheiten mit dir sprechen! Du weißt ja, die Geschichte mit der Straße soll in der nächsten Zeit auf die Tagesordnung kommen und wir sind zur Aeußerung über die vorgeschlagene Linie aufgefordert ... wie denkst du denn darüber?«

»Ja, man wird den Wünschen der Anwohner wohl oder übel Rechnung tragen müssen ... im Winter wird der Abhang fast unzugänglich und die Kinder können kaum in die Schule kommen vor Schmutz.«

»Mich hat er nie gehindert,« warf Toucheboeuf grimmig hin, »und ich habe die Eingabe nicht unterzeichnet. Hat dich der Schmutz je abgehalten, nach deinen Bäumen zu sehen?«

»Für uns liegt die Sache ganz anders! Wir wohnen nicht da und können uns das Wetter aussuchen. Wenn dein Haus hier stünde, wärest du ganz andrer Meinung!«

»Möglich, aber mit ›Wenn‹ brauche ich nicht zu rechnen! Freiwillig gebe ich nicht zweihundert Quadratmeter guten Bodens her, sondern ich werde mich dagegen sperren und jedenfalls eine Forderung stellen, die sich sehen lassen kann. Wir sind in derselben Lage ... von dir brauchen sie ungefähr ebensoviel Boden und wenn wir Hand in Hand gehen, sind wir Herren der Lage ...«

»Freilich, aber wenn wir den Bogen zu straff spannen, wird man den Plan ganz fallen lassen, und die armen Leute können nach wie vor im Sumpf stecken bleiben!«

»Nun, und wenn? Uebrigens glaube ich das nicht. Die Straßenbaukommission ist zäh und eigensinnig und wird ihre Linie durchsetzen um jeden Preis ... die Herren brauchen ja auch nicht in den eigenen Seckel zu greifen, sondern in den der Gemeinde. Es ist folglich nur recht und billig, daß wir uns ihren Eigensinn zu nutze machen.«

Charmois stocherte nachdenklich mit seinem Stock im Sand herum. Diese Gründe waren ja sehr einleuchtend, und doch konnte er sich eines gewissen Mißtrauens nicht erwehren.

»Ja, wie viel meinst du denn, daß man verlangen könnte?«

»Zehn Franken gilt der Quadratmeter guten Bodens bei voll im Ertrag stehenden Anlagen unter Brüdern, sie müssen uns aber auch schadlos halten für die Durchschneidung unsrer Grundstücke, die den Anbau erschwert. Zwanzig Franken wäre daher ein ganz angemessener Preis und würde jedem von uns vier Tausendfrankenscheine eintragen.«

Der Rosenzüchter spitzte unwillkürlich die Ohren. Viertausend Franken! Die Summe hätte ihm gar nicht gelegener kommen können!

»Dir ist wohl etwas zu Kopf gestiegen,« wandte er gleichwohl ein. »Viertausend Franken! Die Ingenieure würden dir ins Gesicht lachen!«

»Vielleicht wenn ich allein vorginge, wenn wir aber beide die Forderung stellen, schwerlich.«

»Hm! Das hat manches für und manches gegen sich ...«

Firmin Charmois versank in Nachdenken. Der Vorschlag war verlockend, aber sein Rechtlichkeitsgefühl sträubte sich dagegen; er witterte irgend einen Hinterhalt und wollte nicht blindlings in die Falle gehen. So saßen die zwei Männer schweigend nebeneinander, von köstlichen Nelkendüften aus den benachbarten Gärten umweht.

»Ein herrlicher Morgen!« bemerkte Charmois, einmal um das Gespräch abzulenken und dann auch weil er wirklich für Natureindrücke empfänglich war, »Blumen und Obst gedeihen dieses Jahr!«

»So rede doch nicht, um nichts zu sagen,« erwiderte Toucheboeuf verächtlich. »Es handelt sich für den Augenblick nicht um den Ertrag, sondern um den Wert unsres Bodens. Verabreden wir uns klipp und klar: du gibst mir dein Wort, nicht billiger zu verkaufen als ich?«

Derart an die Wand gedrückt, geriet der Rosenzüchter in eine höchst unbehagliche Stimmung.

»Unsre Lage ist doch nicht ganz die nämliche,« brachte er vor. »Ich muß gewisse Rücksichten nehmen auch der Regierung gegenüber, die mir soeben eine Auszeichnung verliehen hat ...«

Das Ordensband! Toucheboeuf fand ohnedies, daß Charmois sich gar zu wichtig damit mache ... daß Uebergewicht, das dem bisher Gleichgestellten dadurch in den Augen seiner Mitbürger verliehen wurde, wurmte ihn ohnehin schon.

»Du gehst also nicht darauf ein?« fragte er giftig.

»Das sag' ich ja nicht ... ich möchte nur erst mit meiner Frau darüber sprechen.«

»Du besprichst Geschäfte mit deiner Frau?«

»Gewiß, und ich habe mich noch immer wohl dabei befunden. Regine ist sehr praktisch.«

»Ganz nach Belieben! Du kannst ja auch deinen Sohn um seine Ansicht fragen, der wird gewiß mir beistimmen ... Er war gestern bei uns,« warf Toucheboeuf arglistig hin, »hat meiner Nichte eine merkwürdige Rose gebracht. Ein netter Bursche ... Sabine findet das, glaube ich, auch!«

Charmois' Gesicht heiterte sich auf bei dieser Anspielung.

»Sie ist auch ein nettes Mädchen und bei uns allen gut angeschrieben. Desiré wird sich freuen, wenn ich ihm hinterbringe, was du eben gesagt hast ... jetzt adieu, Alter!«

Er war aufgestanden und Toucheboeuf gab ihm das Geleite.

»Gehen wir nicht auseinander, ohne uns fest verabredet zu haben, Firmin,« sagte er, ihn wohlwollend auf die Schulter klopfend. »Versprich mir wenigstens, nicht mit den Behörden abzuschließen, ohne daß du mich davon benachrichtigst!«

»Was das betrifft, sei ohne Sorge! Ich werde dich von allem in Kenntnis setzen.«

»Ich nehme dich beim Wort!«

»Und ich werde Wort halten.«

»Da schlag' ich ein,« sagte der Getreidehändler, ihm die breite Tatze hinstreckend. »Bleibt dabei!«

Sie schüttelten einander die Hand und trennten sich an der Grenze der Himbeerpflanzung. Charmois ging aber nicht gleich nach Hause, sondern stieg den Hügel vollends hinunter. Toucheboeufs Ausführungen hatten ihn beunruhigt, sein Gleichgewicht gestört und er hatte das Bedürfnis, in frischer Luft mit sich ins reine zu kommen. Je weiter er ging, desto mehr schwand auch der fremde Einfluß, desto mehr kehrte seine geistige Selbständigkeit wieder. Das Bild des blühenden Geländes, der Blumen und reifenden Kirschen, der im Sonnenschein blinkenden weißen Häuser, die da und dort im Grün auftauchten, hatte etwas Wohlthuendes und befreite ihn von den Anwandlungen der Selbstsucht. Indem er den holperigen, von tiefen Geleisfurchen durchschnittenen Feldweg entlang ging, stellte er sich vor, wie das Regenwasser hier Pfützen bilden, den Boden aufweichen, in eine Schlammmasse verwandeln mußte, und er sagte sich, daß es kein Uebermut war, wenn die Anwohner eine zu allen Jahreszeiten gangbare Straße forderten. Sie zahlten ja ihre Steuern so gut als die andern und verdienten dieselbe Rücksicht, wie die Bewohner des Orts.

»Scheint mir, der Schlaumeier will mich drankriegen,« überlegte Charmois. »Er hält mich wohl für dümmer, als ich bin, und meint, ich werde ihm blindlings ins Garn laufen! Ich kenne den Kunden ... er führt immer zwei oder drei Pläne zugleich im Schild, der reine Schreibtisch mit Geheimfächern! Im Frühjahr soll die Wahl sein ... ob er selbst die Schärpe haben will, oder einen Strohmann vorschieben, den er am Gängelband führt, ist mir zwar nicht ganz klar geworden, aber daß er mich nicht zum Bürgermeister machen will, darauf ginge ich jede Wette ein. Jetzt drängt er mich, gemeinsames Spiel mit ihm zu machen ... zu seinem Vorteil, nicht dem meinigen. Die paar tausend Franken, die ich vielleicht bekäme, würden mich Beliebtheit und Ansehen kosten, mindestens dreißig Stimmen würde ich bei der Wahl einbüßen und die Herren von der Regierung würden meine Rechtlichkeit bezweifeln. Unterstütze ich dagegen das Gesuch, trete ich meinen Boden billig ab, so fördere ich eine gerechte Sache, beweise ich meine Uneigennützigkeit und gewinne alle Welt für mich. Am gescheitesten wär's vielleicht sogar, das für die Straße nötige Stück von meinem Baumgut unentgeltlich abzutreten ... an Geld verblutet man nicht und es könnte mir hundertfach hereinkommen! Freilich ... jetzt habe ich mich verpflichtet, nichts ohne Toucheboeufs Wissen zu thun, und wenn er erführe, daß ich abgefallen bin, würde er irgend eine Teufelei aushecken ... Pah! Mit Schelmen darf man nicht zu ehrlich umgehen! Der Gevatter hat mich hineinlegen wollen und ich werde nicht der Einfaltspinsel sein, mit einem Menschen, der seiner Lebtage andre genasführt hat, gar so heikel umzugehen. Einige Schlauheit braucht man nun einmal in dieser Welt ...«

Unter solch verständigen Betrachtungen war Firmin Charmois bis in die Nähe von Antony gekommen, dessen Kirchturm plötzlich zwischen den alten Linden vor ihm aufragte. Umkehren mochte er nicht, denn da wäre er dem Getreidehändler gerade in den Weg gelaufen, so ging er denn in weitem Bogen nach Hause. Der Gang zwischen Feldern und Gärten stimmte ihn vollends heiter, und als er die Chataigneraie schließlich erreichte, war er fest entschlossen, dem Magistrat sein Grundstück zur Verfügung zu stellen. Das hatte Sabines Onkel nicht erreichen wollen.


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