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Sechstes Kapitel.

Es war Mitte Januar, eine Zeit, wo Saint-Saviol so gut wie die Murmeltiere Winterschlaf hält. In den entblätterten Baumgütern und Gärten hat jede Arbeit aufgehört, nur krächzende Raben treiben sich draußen herum. Wege und Straßen sind naß, schmutzig und einsam; hinter den beschlagenen Schaufenstern der Läden gähnen verdrießliche, unbeschäftigte Geschäftsleute, um sobald die Dunkelheit vollends hereingebrochen ist, ihre Läden und Hausthüren zu schließen. Dann stört nichts mehr die abendliche Stille, als dann und wann der Pfiff einer Lokomotive von Limours her und das dumpfe Gerassel der Lastwagen auf der Straße nach Orleans.

Der Tag war besonders neblig gewesen und die Nacht kündigte sich noch unfreundlicher an als sonst. Ein mit Schnee vermischter Regen peitschte die kahlen Linden auf dem Platz, die Gasflammen zitterten und zuckten unruhig im Nordostwind. Nur zwei Gebäude waren erleuchtet, das Wirtshaus zum ›Blumenkorb‹ und das Café Munerel, wo einige Herren Billard spielten.

Eloi Toucheboeuf saß in einer groben braunen Wolljacke an seinem glühenden Koksofen im bequemen Lehnstuhl. Sabine las ihm die Zeitung vor, er war aber dabei ein wenig eingenickt, als ihn drei sanfte Schläge auf den Fensterladen aus seinem Halbschlummer aufrüttelten. Er stand rasch auf, ging selbst hinaus, um zu öffnen, und führte gleich darauf zwei Kollegen vom Gemeinderat herein, den Apotheker Blouet und den Holzhändler Odoul. Mit aufgeschlagenen Mantelkragen, den Hals bis an die Nase herauf in Wolltücher eingewickelt, stampften die durchnäßten Herren, weidlich über das Hundewetter schimpfend, herein. Sobald sie sich der nassen Ueberröcke entledigt hatten, befahl Toucheboeuf seiner Nichte, Cognac und Gläser zu bringen, und sagte dann: »Du kannst zu Bett gehen, Sabine, und das Mädchen auch ... wir haben nichts mehr nötig.«

Sabine, die kein besonderes Wohlgefallen an dieser Gesellschaft fand, gehorchte willig und wünschte den Herren guten Abend.

»Etwas gemütlicher hier als draußen,« bemerkte der Apotheker, ein mageres, vertrocknetes Männchen in blauem Rock mit einer scharlachroten Krawatte und einem geschnittenen Aeskulapkopf als Nadel, indem er die nassen Stiefel am Kaminfeuer wärmte, »aber wär's nicht Ihnen zuliebe gewesen, Toucheboeuf, wäre ich bedeutend lieber daheim geblieben!«

Der Holzhändler, ein schwerfälliger, vierschrötiger Mann, der sein Aeußeres ebenso vernachlässigte, als der Apotheker auf Zierlichkeit sah, begann mit einer tiefen Stimme: »Sie haben uns herbeschieden, Herr Toucheboeuf – was gibt es Neues?«

Toucheboeuf füllte die Gläser und maß dabei seine Kollegen mit prüfendem Blick.

»Ich danke für Ihr Erscheinen, meine Herren ... vor allem trinken wir einen Schluck! Bei dem Wetter muß man für innere Erwärmung sorgen!«

Man stieß an und trank, sachverständig den Cognac auf der Zunge prüfend. Dann fuhr sich Toucheboeuf mit dem Handrücken über den Mund und begann: »Meine Herren, wir wollen nicht viel, aber ernstlich reden ... Im April finden die Gemeindewahlen statt und der alte Delory tritt vom Amt zurück. Haben Sie einen Bewerber für die Bürgermeisterstelle?«

»Man sagt, daß Charmois danach lechze,« sagte der Apotheker, »und Aussichten habe.«

»Sagt man?« brummte Odoul, der einen ausgeprägten Katholizismus zur Schau trug und die äußerste Rechte im Gemeinderat bildete. »Bei mir nicht! Falls ich wieder gewählt werde, bekommt Charmois meine Stimme nicht. Ich habe ihn im Verdacht, Freimaurer zu sein und gegebenen Falls mit den Radikalen zu gehen. Was halten Sie von ihm, Toucheboeuf?«

»Ich? O, ich anerkenne seine Vorzüge; er hat Verständnis, Thatkraft, aber er ist gewaltthätig und will alles an sich ziehen. Wenn er gewählt würde, wären wir nicht mehr die Herren ... es wird also gut sein, wenn wir uns beizeiten nach einem ernsthaften Gegner für ihn umsehen.«

»Ganz einverstanden! Aber wer kann in Betracht kommen, das ist die Frage! Leute mit Verwaltungstalent gibt's nicht dem Dutzend nach, und kennen Sie unter den Aufgeweckteren im Gemeinderat viele, die es nach der Schärpe gelüstet? Sie zum Beispiel, Odoul, würden Sie sich darum bewerben?«

»Ich? Ganz unmöglich! Habe weder Zeit noch Geld dafür übrig.«

»Und wüßten Sie einen andern zu nennen?«

»Hm ... wenn Herr Toucheboeuf Lust hätte, er wäre ein vortrefflicher Ortsvorstand ... unabhängig, vermöglich, einflußreich, dem Charmois in jeder Weise gewachsen.«

»Sehr verbunden für die gute Meinung,« entgegnete Toucheboeuf herablassend und spöttisch, »aber mir fehlt's am Ehrgeiz. Ich habe den Posten immer abgelehnt, weil ich nicht gern in den Vordergrund trete.«

»Es gibt Fälle, wo man seine persönlichen Neigungen opfern muß,« drängte Odoul. »Besonders wenn es gilt, in der Person des Gegners eine Gefahr zu bekämpfen ...«

»Ja, ja, Toucheboeuf, Sie müssen sich opfern!«

»Ich kann nur wiederholen, daß ich keine Lust dazu habe,« versetzte Toucheboeuf mit seiner gutmütigsten Miene. »Natürlich wenn sich gar kein andrer fände, wenn es notwendig würde, um die Gemeinde vor der Tyrannei eines Charmois zu bewahren ...«

»Das läßt sich hören!« rief Odoul. »Alle Gutgesinnten werden Ihre selbstlose Hingebung zu schätzen wissen.«

»Ganz famos, nur, meine Herren, dürfen wir nicht zu früh frohlocken,« sagte der Apotheker, der gern den feinen Politiker spielte. »Charmois hat Anhänger, sein Ordensband blendet die Leute, so leicht wird es nicht halten, ihn aus dem Gemeinderat zu verdrängen ...«

»Das fällt uns ja gar nicht ein,« warf Toucheboeuf überlegen hin. »Das wäre ja eine große Dummheit! Im Gegenteil, wir behalten seinen Namen auf unsrer Liste bei, dann stellen Sie, Odoul, oder Sie, Blouet, eine zweite auf, aus der alle Anhänger von Charmois gestrichen werden, und ist der Gemeinderat einmal beisammen, so wählen wir den Bürgermeister, der uns paßt, und stellen den Rosenzüchter, der in seiner Siegesgewißheit keine Schwierigkeiten machen wird, kalt. Charmois ist eitel wie ein Pfau und wird sicher aus dem Gemeinderat treten, wenn er die Schärpe nicht bekommt, und dann sind wir ihn los!«

»Bravo, Toucheboeuf! Sie sind ein Diplomat!«

»Ob ich ein Diplomat bin, weiß ich nicht,« sagte Toucheboeuf, in sich hineinlachend, »aber wer mir zu nah tritt, lernt meine Klauen kennen.«

»Herr Toucheboeuf, meine Stimme ist Ihnen sicher,« erklärte Odoul mit einer abergläubischen Ehrfurcht vor diesem Rachegeist.

»Die meinige auch,« beteuerte Blouet.

»Verstehen wir uns recht ... wenn ich mich der Last dieses Amtes unterziehe, so liegt das nicht weniger in eurem Interesse als im meinigen. Wir schütteln einen Störenfried ab, der uns allen lästig ist. Sie müssen im Auge behalten, daß der Kampf gegen Charmois in erster Linie Ihren eigenen Vorteil bezweckt. Die Vorbereitungen zur Schlacht müssen sofort in aller Stille getroffen werden ... ich werde die Hände auch nicht in den Schoß legen!«

Ein Händedruck und noch ein Trunk besiegelten das Bündnis, dann mummelten sich die Gäste wieder warm ein und verließen das Haus, nachdem sie sich vorsichtig überzeugt hatten, daß die Straße menschenleer war. Mit dem Bewußtsein, ein großes Stück vorwärts gekommen zu sein, verriegelte Toucheboeuf hinter ihnen die Thüren und legte sich zu Bett. Seit ihm ›Charmois' Verrat‹ im Tanzzelt verraten worden war, erfüllte ein glühender Rachedurst sein ganzes Wesen. Jede freie Minute nützte er, die Fäden des Netzes zu spinnen und zu verknüpfen, worin der Feind umgarnt werden sollte: mit hartnäckiger Wut dachte er sich aus, wie er seine liebsten Hoffnungen zerstören könnte. Die befohlene Trennung zwischen Sabine und Desiré war der erste Schachzug gewesen, denn im Sohn hoffte er den Vater zu treffen, und da er seine Nichte streng beaufsichtigte, hielt er den Streich für gelungen. Nachdem er nun auch die Vorarbeit für die Bürgermeisterwahl gethan hatte, sann er darauf, nach und nach Charmois' Getreue abspenstig zu machen, ihn gänzlich zu isolieren.

»Der Höhepunkt wäre es, wenn wir einen von seinen Schwiegersöhnen zur Gegenpartei ziehen könnten,« überlegte er, während er in sein Schlafzimmer ging, an dessen Fenster der Regen klatschte. »Und warum denn nicht? Wenn man's geschickt angreift ...«

Am andern Morgen war er gerade daran, die Angeln der Hausthür selbst zu ölen, als Leontine Lavaur, seine Mieterin, in den Thorweg trat. Es war ihm nicht angenehm, in der alten Hausjoppe und Holzschuhen von einer Dame und dazu noch Charmois' eigener Tochter betroffen zu werden, und Toucheboeuf wollte mit flüchtigem Gruß in seinen Hausflur verschwinden, aber Frau Leontine ging ihm nach und sagte flüsternd: »Verzeihen Sie, Herr Toucheboeuf, ich hätte gern um eine Unterredung gebeten ...«

»Stehe zu Diensten, gnädige Frau ... sobald ich einen anständigen Rock angezogen habe ... Treten Sie, bitte, näher, meine Nichte wird Ihnen einstweilen Gesellschaft leisten ...«

»Ach, Herr Toucheboeuf,« sagte Leontine noch leiser, »ich möchte Sie gerne ohne Zeugen sprechen, ja, ich möchte, daß niemand von diesem Besuch erführe ...« und eine schmale Hand legte sich bittend auf seinen groben Aermel.

Toucheboeuf sah die Hausgenossin etwas erstaunt an und bemerkte jetzt erst, daß sie zu dieser frühen Morgenstunde in höchstem Putz war.

»Das ist etwas andres, Frau Lavaur,« sagte er mit einem boshaften Lächeln. »Vielleicht haben Sie irgend eine Besorgung zu machen? In einer halben Stunde wird Sabine ausgegangen sein und dann stehe ich ganz zu Ihren Diensten.«

Als Frau Lavaur eine halbe Stunde darauf bei ihm klingelte, öffnete Toucheboeuf richtig selbst, und zwar war er frisch rasiert, sauber gekleidet ... ordentlich geputzt hatte er sich!

»Nur herein, verehrte Frau! Wir sind ganz ungestört. Sabine wird eine volle Stunde ausbleiben.«

Er führte sie nun in sein Arbeitszimmer und rückte ihr den eigenen Lehnstuhl vor den Porzellanofen.

»Wärmen Sie nur Ihre zierlichen Füßchen,« sagte er, sich ihr gegenüber setzend, »und schütten Sie Ihr Herz aus!«

»Ach, mein Gott, Herr Toucheboeuf,« begann Leontine, den Schleier zurückschlagend, mit verlegenem Hüsteln. »Sie werden meine Handlungsweise befremdlich finden ... es gilt fast eine Beichte und ich muß zum voraus Ihre Nachsicht anrufen, wie Ihre Verschwiegenheit erbitten ...«

»Darauf können Sie zahlen, Frau Lavaur, mein Mund ist versiegelt ... sprechen Sie ohne Sorge!«

»Ich bin ... mein Mann und ich, wir sind augenblicklich in peinlichster Verlegenheit, und da Sie immer so gütig gegen uns waren, wage ich es, Sie um Rat, ja vielleicht um einen großen Dienst zu bitten.«

Diese Einleitung klang nach einem Darlehen und berührte den erfahrenen Geschäftsmann unangenehm.

»Frau Lavaur, seien Sie überzeugt, daß Ihr Vertrauen mich ehrt,« versetzte er mit größter Zurückhaltung, »aber ich meine, wenn Sie eines Rats bedürfen, finden Sie den doch am Besten bei Ihrem Vater.«

»Ach!« seufzte Leontine mit tragischem Augenaufschlag. »Auf meinen Vater darf ich nicht rechnen ... Florence und Desiré, ja, die sind seine Lieblinge ... ich könnte ihm meine Not nicht anvertrauen.«

Wie ein Blitz zuckte es in Toucheboeufs Auge auf.

»Wirklich?« fragte er mit der früheren Teilnahme. »Um was handelt sich's denn, das Sie ihm nicht anvertrauen könnten? Wohl Schulden?«

Nun war das Wort gesprochen und Frau Lavaur begann mit erleichterter Zunge ihre Not zu beichten.

»Nicht persönliche, Herr Toucheboeuf, ich bin Gott sei Dank keine Verschwenderin! Aber mein Mann ... er ist so unbesonnen ... bei all seinen herrlichen Eigenschaften hat er den Fehler, das Spiel zu lieben. Nun hat er sich gestern wieder hinreißen lassen ... hat verloren ... tausend Franken ...«

»Das Gesetz erkennt Spielschulden nicht an,« erwiderte Toucheboeuf ungerührt.

»Das Gesetz vielleicht nicht, aber der Anstand! Der Gewinner ist ein Kollege und will in achtundvierzig Stunden sein Geld haben. Denken Sie doch nur! Wenn die unglückselige Sache vor den Rektor kommt, ist mein Mann verloren! Das Aufsehen, das Gerede, seine Stellung ... in dieser äußersten Not dachte ich an Sie ... Sie als Geschäftsmann können uns gewiß Mittel und Wege angeben ... ja, vielleicht die Summe vorstrecken, die wir in monatlichen Raten abzahlen würden ...«

Toucheboeufs hartes Gesicht sah plötzlich so verschlossen aus wie ein Festungsthor. Mit gebeugtem Rücken, gefurchter Stirne rieb er sich die Hände und versicherte, daß er niemand kenne, der auf so geringe Sicherheit Geld leihe, und daß es sein Grundsatz sei, weder Ratschlage zu geben noch Darlehen, weil ...

»Dann,« unterbrach Leontine seine Auseinandersetzung, »sind wir verloren und können nur miteinander den Tod suchen ... zum Glück haben wir keine Kinder ... niemand wird uns beweinen ...«

Sie zog ihr Taschentuch heraus und wischte sich die Augen. Toucheboeuf klopfte ihr väterlich auf die Schulter.

»Nur die schönen Augen nicht rot weinen, mein liebes Kind, es wäre schade darum ... Hätten Sie mich ausreden lassen, so wüßten Sie schon, daß Eloi Toucheboeuf nicht der Unmensch ist, für den ihn gewisse Leute verschreien. Ich will eine Ausnahme machen, will Ihnen helfen, werde Ihnen die tausend Franken unverzinslich vorstrecken, unter gewissen Bedingungen allerdings ...«

Leontine hatte das Tuch von den Augen genommen und sah den Getreidehändler gespannt, ja etwas beunruhigt an. Dieser nahm ein gestempeltes Papier von seinem Schreibtisch und erwiderte auf ihre stumme Frage: »Beruhigen Sie sich nur! Ich fordere nichts Unmögliches! Sie und Ihr Mann unterschreiben mir diesen Wechsel, zahlbar im April und ... die Gemeindewahlen stehen bevor, wobei mir Herrn Lavaurs Unterstützung von Wert sein wird.«

»O, Herr Toucheboeuf! Wir stehen ganz zu Ihrer Verfügung. Mein Mann wird alles thun ... unsre Dankbarkeit ...«

»Dankbarkeit, liebe Frau Lavaur, ist eine unsichere Sache, ich will etwas mehr. Herr Lavaur soll dieses Papier unterschreiben und mir heute abend bringen ... Wir werden dann ernsthaft miteinander reden und er wird sich gleichfalls schriftlich verpflichten, mir während der Wahlzeit behilflich zu sein. Das Geld wird bereit liegen ... er soll sich nur pünktlich einstellen.«

»Ach, Herr Toucheboeuf, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll!« versicherte Leontine mit freudestrahlenden Augen und einem Lächeln, so süß es die schmalen Lippen nur hervorbringen konnten, indem sie das Papier in Empfang nahm. »Tausend Dank und auf Wiedersehen!«

Geschmeidig wie eine Katze schlüpfte die Professorsgattin durch den Thürspalt hinaus und Toucheboeuf lauschte mit einer gewissen Genugthuung auf das verklingende Rascheln ihrer Röcke.

»Hm,« sagte sich der alte Fuchs, »da wäre ja alles Mögliche zu erlangen gewesen! Ist aber besser so ... nur keine Dummheiten! Uebrigens für meinen Geschmack auch zu mager ... habe etwas Rundliches lieber!«


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