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Nicht der Getreidehändler allein freute sich dieser ergebnisreichen Morgenstunde, auch Sabine wußte sie zu nützen. Seit dem Bruch mit den Charmois wurde sie streng überwacht und durfte selten allein ausgehen, so daß sie in den vier Monaten Desiré kaum zu sehen bekommen hatte, geschweige daß sie mit ihm hätte sprechen können. Sobald ihr also der Onkel den Befehl gab, mit dem Dienstmädchen auszugehen und Einkäufe zu machen, faßte sie den Plan, sich wenn irgend möglich mit dem Geliebten in Verbindung zu setzen. Hastig kaufte sie auf dem Markt das Nötige, schützte dann einen Gang zur Wäscherin vor, die am entgegengesetzten Ende des Ortes wohnte, trug dem Mädchen alle möglichen kleinen Besorgungen auf und befahl ihr schließlich, bei dem Krämer auf dem Platz der Quinconces ihre Rückkehr abzuwarten.
Beflügelten Schrittes eilte sie durch die Waldstraße der Chataigneraie zu, aber je näher sie kam, desto gewagter und aussichtsloser erschien ihr das Unternehmen. Wohl war es eine Wohlthat, einmal wieder das Dach schimmern zu sehen, unter dem der Geliebte wohnte, aber wenn er ihre Nähe nicht ahnte, war dieser Gewinn im Verhältnis zu ihrem Wagnis doch recht armselig. Hineinzugehen war unmöglich, und daß Desiré im Garten arbeiten würde, unwahrscheinlich, denn es hatte heute nacht furchtbar geregnet. Wie also sich bemerklich machen?
Aber es gibt einen Gott der Liebenden! Während Sabine zaghaft an der Gartenhecke entlang strich, trat Desiré aus dem Gewächshaus, blickte prüfend nach den Wolken und entdeckte dabei den Hut der Geliebten über dem kahlen schwarzen Weißdorngestrüpp. Mit raschen Schritten war er an der Hecke. Sabine sah auf, als sie den Kies knirschen hörte, und ein freudiges Ausleuchten in beider Augen und eine heiße Röte auf ihren Wangen war die Begrüßung, dabei legte das junge Mädchen den Finger auf die Lippen und sie gingen wortlos außer- und innerhalb der Hecke weiter bis zu einer Stelle, wo das Gewächshaus sie dem Blick von der Wohnung aus verdeckte. Jetzt blieben sie stehen. Ringsum war kein Mensch zu erblicken, nur Raben kreisten krächzend über die winterlichen Felder.
»Sabine!« flüsterte Desiré, als sie sich über der Hecke die Hände drückten. »Welche Ueberraschung! Welche Freude!«
»Ich bin nicht zufällig hier; obwohl ich wenig Hoffnung hatte, Sie zu treffen, wollte ich doch eine freie Stunde zu einem Versuch benützen – wer weiß, wann die Gelegenheit wiederkehrt!« gestand Sabine. »Mein Onkel läßt mich nicht mehr allein ausgehen, hat mir jeden Verkehr mit Ihnen untersagt ... ach, mein armer Desiré, es steht nicht gut für uns! Ihr Vater ist gewiß ebenso wütend, verbietet Ihnen auch ...«
»Nein, mein Vater hat nichts gegen Sie, Sabine! Er ist vernünftiger als Ihr Onkel, hofft auch, daß dieser sich mit der Zeit beruhigen und besänftigen lassen werde.«
»Ach, da kennt er ihn schlecht!« sagte Sabine, den Kopf schüttelnd. »Er steigert sich im Gegenteil immer mehr in Zorn, schwört Ihrem Vater Rache und hat mir auch mit den Ihrigen jeden Verkehr untersagt.«
»Und Sie gehorchen ihm?«
»Sie sehen es ja, wie treulich!« versetzte sie mit schelmischem Lächeln. »Hier bin ich trotz seines Verbots, trotz der Gefahr, daß mich jemand sehen und bei ihm verklatschen könnte!«
»Ja, aber werden Sie es nicht müde werden, solchen Gefahren zu trotzen?« fragte Desiré mit Bangen. »Und wenn Ihr Onkel so verbissen und rachedurstig ist, wird er Sie da nicht verheiraten wollen mit einem andern ...«
»Mich verheiraten! Ohne meine Zustimmung? Ich habe auch meinen Kopf und werde es dem Onkel beweisen, sobald ich mündig bin, das heißt in fünf Monaten. Bis dahin Desiré, haben Sie Geduld und seien Sie überzeugt, daß ich nicht andern Sinnes werde, was man auch anstellen mag!«
Die braunen Augen strahlten ihn mit so inniger Zärtlichkeit an, daß alle Bangigkeit aus seinem Herzen wich.
»O Sabine! Ich habe Sie ... ich habe dich ja so lieb und wenn du mich auch liebst, will ich gewiß mutig ausharren!«
»So ist's recht! Nun wissen wir, woran wir sind, und ich muß schleunigst fort, daß der Onkel nicht Verdacht schöpft ...«
»Nein, Herzchen, noch nicht!« flehte er, ihre Hand festhaltend. »Wir müssen auf Mittel und Wege sinnen, uns zu treffen ... bedenke doch, wie lang fünf Monate sind! Verabreden wir einen Ort, wo wir uns sprechen könnten, falls sehr Wichtiges vorfiele ... geht dieser Onkel denn nie aus?«
»Doch, aber er hütet sich wohl, es mich vorher wissen zu lassen ... im Haus wäre es auch rein unmöglich, die Magd paßt mir auf und am nächsten Tage wüßte es das ganze Nest.«
»Toucheboeuf geht doch noch ins Café?«
»Ja, am Sonntag von drei bis sieben Uhr.«
»Die Zeit müssen wir benützen! Jetzt wird's ja noch so früh dunkel, kein Mensch denkt ans Spazierengehen, niemand wird uns sehen ...«
Sie zuckte die Achseln, aber ein Lächeln spielte um ihre Lippen.
»Sabine, ich beschwöre dich!« flehte er.
»Es ist viel gewagt,« flüsterte sie. »Aber ich weiß eben auch nicht, wie ich's monatelang aushalten sollte ... also gut, es sei! Ich will am Sonntag zur Dämmerstunde einen Spaziergang machen ... bis zu Molés Grab hinaus ... auf Wiedersehen, Desiré!«
»Dank, tausend Dank, Sabine! Am Sonntag also!«
Sie hatte sich schon losgerissen und ging, die nassen Stellen des Weges vermeidend, zierlich wie eine Bachstelze die Hecke entlang. Desiré blickte ihr nach; das flüchtige Glück war verflogen wie ein Traum, aber der Gedanke an den Sonntag wärmte ihm das Herz.
Jenes nur den Bewohnern der Umgegend bekannte Grabmal liegt mitten in Feldern und Himbeergebüsch. Im Schatten von Ulmen, Weiden und Eschen ruhen die Ueberreste von François René Molé, der zu seinen Lebzeiten dem Théatre Français und der Akademie angehört hat. Molé hatte in seinen späteren Jahren ein Landhaus in Antony inne und man erzählt sich, daß, als bei einer fröhlichen Gesellschaft, die er Kollegen gab, die Rede auf die den Schauspielern angedrohte Exkommunikation gekommen sei, Molé bemerkt habe: »Ficht mich wenig an. Ich weiß ja gewiß, daß ich nach meinem Tod sofort ins Paradies komme!« Er hatte sich nämlich ein Gütchen gekauft, das den Namen ›Paradies‹ führte, und sich einen Begräbnisplatz darin ausgesucht. In der That wurde er 1802 an dieser einsamen Stätte begraben. Es war im Winter und der Leichenzug, der am Nachmittag vom Haus abgegangen war, konnte auf den schlechten Wegen nur so langsam vorrücken, daß die Nacht hereinbrach und der Sarg bei Fackelschein versenkt wurde. Der in antiken Formen gehaltene Grabstein mit Inschriften, die den Ruhm des Künstlers verkündigen, ist von einem eisernen Gitter umgeben, und aus den jungen Bäumchen der Anlage sind seither alte Riesen geworden. Niemand pflegt das Grab, das verrostete Gitter ist unter Gras und Schlingpflanzen kaum mehr sichtbar, so daß ein Fremder achtlos daran vorübergehen würde, aber die Liebespaare kennen den Weg und schätzen die Einsamkeit der Stelle. So beschützt der Komödiant, der in Liebhaberrollen seine höchsten Triumphe feierte und noch mit sechzig Jahren für seinen ›unvergleichlichen Kniefall‹ berühmt war, noch im Tode die Liebenden, und die alten Ulmen, die sein Grab beschatten, haben manch zärtliches Stelldichein gesehen!
Desiré war am nächsten Sonntag längst auf seinem Posten, als er Sabine endlich bei einbrechender Dunkelheit vorsichtig herankommen sah. Sie hatte ein schwarzes Spitzentuch um den Kopf geschlungen und tief in die Stirne gezogen. Stumm vor innerer Bewegung drückten die Liebenden sich die Hände und setzten sich auf den steinernen Sockel des Grabgitters. Der Nachmittag war regnerisch gewesen, die Luft aber ungewöhnlich mild; jetzt hatte sich der Himmel aufgehellt und ein goldener Schimmer leuchtete noch im Westen. Man sah in der Ferne die Dächer von Saint-Saviol, wo aus manchem Fenster schon ein Licht schimmerte. Rings war es still und einsam; eine ferne Kirchenglocke weihte das feiertägliche Schweigen.
»Komme ich spät?« fragte Sabine, sich an Desiré schmiegend. »Ich war längst auf dem Sprung, mußte aber warten, bis das Mädchen endlich in die Vesper ging ... Der Onkel sitzt fest im Café und kommt vor einer Stunde nicht heim!«
»Wie selig ich bin, dich an meiner Seite zu haben,« flüsterte Desiré, den Arm um sie schlingend.
Die strahlenden Augen, der süße Mund entzückten ihn mehr als je in der schwarzen Spitzenumrahmung.
»Ja, selig ... und doch war mir vorhin das Herz recht schwer,« fuhr er fort. »Ich machte mir Vorwürfe, dich um diese Zusammenkunft gebeten, dich Gefahren ausgesetzt zu haben ... wenn dich doch jemand gesehen hätte, wenn der Onkel früher heimkäme ...«
»Das wäre schrecklich! Er tobt mehr als je gegen deinen Vater und sinnt ihm Rache. Was er eigentlich vorhat, weiß ich nicht, aber fast jeden Abend kommen Gemeinderäte zu ihm, die sich mit ihm einschließen und beraten.«
»Er will meines Vaters Wahl verhindern, aber das wird ihm sauer werden, so gerieben er auch ist. Wir werden uns zu wehren wissen! Firmin Charmois hat mehr Freunde in Saint-Saviol als Toucheboeuf Feinde, und das will viel heißen!«
»Für uns ist jeder Ausgang gleich traurig,« sagte Sabine seufzend. »Siegt Herr Charmois, so rast mein Onkel, und geht es umgekehrt, so wird dein Vater nichts mehr von mir wissen wollen. Weißt du noch, wie ich schon im Frühling das Vorgefühl irgend einer großen Gefahr hatte?«
»Sprechen wir nicht davon!« bat Desiré, Sabine fester an sich drückend. »Wenn du mündig bist, werden wir vereint unsern Willen schon durchsetzen können ... einstweilen haben wir uns nur recht lieb und lassen wir uns das kurze Beisammensein nicht durch Sorgen verkümmern!«
»Du hast recht,« stimmte Sabine bei. Ihre Hände umschlossen sich in innigem Druck und zwanzigmal tauschten die beiden dieselben zärtlich-kindischen Fragen und Antworten, wie es bei Liebenden Brauch ist.
Je mehr die Dämmerung sich ausbreitete, desto geborgener fühlten sie sich. Weiße Nebel, die vom Fluß heraufwallten, schlossen sie von der Außenwelt ab, und zwischen dem schwarzen Gezweig der entlaubten Ulmen schimmerte da und dort ein Stern. Dem stillen Genügen, sich aneinander zu schmiegen, gesellte sich der schwermütige Reiz des sanften Wiegenlieds, das ihnen die Vive sang, die leise an ihnen vorüberrauschte, so rasch wie die Minuten der ersehnten Stunde. Plötzlich durchdrang ein Glockenschlag die abendliche Stille – sechs Uhr verkündete die Rathausuhr von Saint-Saviol.
»Sechs Uhr!« rief Sabine aufspringend. »Ich muß eilends heim, um vor dem Onkel da zu sein. Auf Wiedersehen, Desiré.«
»Wann?« fragte er, sie zurückhaltend. »Wir müssen das genau verabreden.«
»Nun denn, so sei jeden Sonntag um diese Stunde hier; wenn es irgend möglich ist, werde ich auch kommen. Aber jetzt müssen wir uns trennen!«
Sie zog das Spitzentuch dichter um ihr Haar, setzte leichtfüßig über den Straßengraben und war im Nebel verschwunden.
Fast jeden Sonntag trafen sie sich nun an dem verwitterten Grabmal, und dank ihrer Vorsicht wurden sie von niemand bemerkt. Sabine machte sich immer zuerst auf den Heimweg, während Desiré noch eine Weile wartete und dann einen weiten Bogen beschrieb, um aus ganz entgegengesetzter Richtung zu Hause anzulangen. An einem Februarabend jedoch, als Sabine wieder hastig den schmalen Fußweg zur Waldstraße hinanging, tauchte plötzlich eine weibliche Gestalt vor ihr auf, die ihr absichtlich den Weg zu vertreten schien. Die Tage hatten schon zugenommen, und so war es noch ziemlich hell. Das furchtbar erschrockene junge Mädchen wollte seitwärts ins Feld einbiegen, aber eine freundliche Stimme rief ihr zu: »Vor mir brauchst du keine Angst zu haben, Kind! Ich will dir wohl und du darfst mir trauen!«
Die geheimnisvolle Sprecherin rückte ihr dabei näher und Sabine erkannte ihre eigene Tante, jene Adeline Nivard, die Toucheboeufs Zorn so erregte, den Schandfleck der Familie!
Trotzdem sie etwas zu stark geworden war, konnte man der Fünfzigerin noch wohl ansehen, daß sie einst den Namen der schönen Adeline verdient hatte. Die üppige Gestalt war jetzt allerdings zu stark geschnürt, aber noch immer geschmeidig und ebenmäßig, die Haut war zart und weiß geblieben, das krause kastanienbraune Haar wenig ergraut, die etwas vortretenden großen Augen hatten noch das zärtliche, verheißende Leuchten. In dem jetzt fleischigen Doppelkinn unterschied man die Spuren der einst so verführerischen Grübchen, die auffällige Kleidung, der wiegende Gang, der schelmische Blick und die weiche lockende Stimme, alles deutete auf eine Frau, die ihr Leben damit hingebracht hatte, Freuden zu genießen und - zu spenden.
Betroffen und befangen stand Sabine der Verwandten gegenüber, die man sie meiden gelehrt hatte und deren Eingriff in ihr Leben sie beängstigte.
»Der Zufall hat mir dein Geheimnis verraten, Kind,« fuhr die liebkosende Stimme fort, »aber fürchte nichts ... ich werde es nicht mißbrauchen! Auf einem Abendspaziergang kam ich in die Nähe des Grabmals, hörte Stimmen, vermutete ein Liebespaar und blieb stehen! Was ihr euch zu sagen hattet, macht euch keine Schande, aber es geschah so laut, daß jeder Vorübergehende es hören konnte, und das war nicht sehr klug, mein Liebchen!«
»O Fräulein Nivard,« stammelte Sabine, »ich bitte ... ich flehe Sie an ...«
»Zuvörderst sei so gut und nenne mich Tante! Du bist nun einmal die Tochter meiner Schwester und deshalb habe ich Teilnahme für dich. Natürlich hat man dir beigebracht, mich zu hassen, und führt dein Herr Onkel die häßlichsten Reden über mich ... er, er allein hat alles Unheil verschuldet ... Hoffentlich kann ich ihm auch noch einmal im Leben etwas am Zeug flicken!«
Fräulein Nivard hatte sich wieder in Bewegung gesetzt, dem Ort zu, und Sabine ging gehorsam neben ihr her.
»Sei ganz ruhig, ich werde nicht nur über eure Zusammenkünfte schweigen, sondern kann euch beiden vielleicht sogar beistehen ... dein Liebster gefällt mir! Du hast Geschmack gezeigt in deiner Wahl und es wäre jammerschade, wenn zwei Leutchen, die von der Natur füreinander geschaffen sind, nicht zusammenkämen!«
Sie waren nun an der Kreuzung der Wald- und Sonnenstraße angelangt. Ein neues Haus, von einem Garten und einem ausgedehnten Baumgut umgeben, bildete die Ecke der noch wenig angebauten Straßen.
»Hier wohne ich,« sagte Adeline, die von einem Schutzdach bekrönten Stufen des Hauseingangs betretend. »Ich fordere dich jetzt nicht auf, mit mir hineinzugehen, weil du dich sputen mußt, in die Kirchstraße zu kommen, aber vergiß nicht, daß dies das Haus deiner Tante ist. Wenn du mich brauchen kannst, wenn man dir da unten das Leben sauer macht, so komm zu mir ... du hast hier eine Heimat.«
»Danke ... wie gut Sie sind ... Tante ...«
»Wenn ich so gut bin, könntest du mir auch zum Abschied einen Kuß geben!«
Das junge Mädchen that, wie ihr geheißen wurde, und die Tante küßte sie noch zärtlich auf den weißen Hals.
»Nun mach, daß du heimkommst, Liebchen! Vertraue mir, es wird dich nicht gereuen!«