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Der andre Morgen kam so strahlend herauf, wie der vorige Abend es verkündet. Im ersten Frühlicht wurde aufgebrochen, denn es war wichtig, die weiten Schneeflächen zu überschreiten, ehe die Sonne die über Nacht erstarrte Oberfläche wieder schmolz, so daß der Fuß bei jedem Schritt tief einsank, und die Ueberschreitung der Eisspalten mit Hindernissen und Lebensgefahr verbunden war.
Noch verkündigte kein wärmeres Licht das Nahen des Tagesgestirns. In kaltem Blau standen die Spitzen, als die Männer vor die Tür der Hütte traten. Dünne Frühnebel schwebten streifig über den Eisfeldern, so daß der Felsrücken, auf dem sie standen, darin schwamm wie eine Insel. In leichtem Flor sich auflösend, stiegen sie langsam an den Wänden des Eiger und des Vieschergrates empor, während sie über dem Abgrunde des Gletschers lagerten als unbewegliche Masse.
Rainer Amberger fröstelte in der empfindlichen Morgenkühle, und es war ihm lieb, daß es gleich scharf los ging. Zunächst über das Dach der Hütte und ein paar Felsbuckel wieder auf den Firn, und in scharfem Gange den steilen Hang hinan zum unteren Mönchjoch. Die Stunde rückte vor; die fahlblaue Morgenluft tönte ein rosiger Hauch, der sich auf den Schneespitzen zu warmen Färbungen vertiefte. Der schweigsame Ernst dieser erdfernen Welt schien verklärt, wie von einem gütigen Lächeln des nahen Himmels. Ueber die vereisten Felsen des Joches ging es in munteren Sprüngen in die jenseitige Mulde des meilenweiten Ewigschneefeldes.
Zur Rechten lag der Mönch, mit seinem dachartig geformten Gipfel; ein verschneiter Koloß. Sein First leuchtete sanft in Vorahnung der Sonnennähe. Gradeaus ragten aus Eis und Schnee die Felsenmassen des Trugberges, dessen langhingestreckter Rücken das Ewig-Schneefeld von dem dahinter eingebetteten Jungfraufirn trennt. Auf die von Fels- und Eisspitzen wild gezackte Lücke zwischen Trugberg und Mönch – das obere Mönchjoch – die Richtung haltend, überquerten sie fast ohne Schwierigkeiten das flache, weiße Gefild.
»'s ist extra hergerichtet für euch, Amberger,« meinte Peter Schlegel, »daß sich euer Wunsch ohne Hindernisse erfüllen läßt. 's ist nicht immer so mühelos und so lohnend. Kein Wind, keine Wetterwolken. Eine Aussicht wird's geben, um die euch manch einer herzlich beneiden tät'!«
Vielfach abweichend von der vorgenommenen Richtung, der eine nach rechts, der andre nach links suchten sie immer vergeblich nach den Spuren derer, um derentwillen sie ausgezogen waren. Auch Rainer fühlte sich von dem Eifer ergriffen, der ihn, den allzusehr mit sich selbst Beschäftigten, bisher ziemlich unberührt gelassen hatte.
»Sie werden nach Lauterbrunnen zurückgegangen sein,« meinte Schlegel. Aber Almer wandte dagegen ein:
»So müßten sie bis gestern mittag dort gewesen sein, wenn es sie nicht irgendwo hier oben aufgehalten hätte.«
»Sie können auf der Lauterbrunner Seite verunglückt und inzwischen aufgefunden sein,« bemerkte Rainer.
Sie beschlossen, auf alle Fälle bis zur Spitze vorzudringen, um nichts zu versäumen, was durchforscht werden konnte. Ueber den Weg konnte kein Zweifel bestehen; er war durch die Bildung der Berge, durch die angegebenen natürlichen Richtungen immer derselbe. Waren sie abgeirrt, so hatte ein Suchen in diesen unabsehbaren Eiswüsten keinen Zweck.
Sie wanderten noch im Schatten. Aber über die Höhen leuchtete schon das glänzendste Sonnenlicht. Immer zarter, immer schleierhafter wurden die Morgennebel, und je höher sie zogen, je durchsichtiger taten sie sich auseinander. Als sie die Region der Sonne erreicht hatten, schwammen sie über den Firnen noch ein Weilchen wie ein goldiger Dunst – dann verflüchtigten sie sich ganz. Nicht der leiseste Luftzug bewegte die himmlische Klarheit. Und höher, immer höher stieg die Sonne.
Nun standen die Männer auf dem schmalen Schneegrat des oberen Mönchjochs. Zu ihren Füßen ein neues Meer von bläulichem Eis und glitzerndem Schnee, das sich drüben steil bergan zog. Aus den weißen Massen ragte ein gewaltiger Felsberg empor; die nur von kleinen Schneefeldern unterbrochenen Steinwände reckten sich gigantisch und düster himmelwärts; aber auf dem beschneiten Scheitel war ein Leuchten und Flimmern, wie von einem königlichen Strahlendiadem.
»Das ist die Jungfrau,« sagte Christen Almer, blieb stehen und faltete die Hände um seinen Bergstock. –
Wenn man vor der Erfüllung eines lebenslangen Wunsches steht, so fühlt man sich wohl von einem seligen Zagen ergriffen, nun die Hand auszustrecken und zu ergreifen, was unserer sehnenden Seele vorgeschwebt hat wie ein Traumgesicht in unirdischer Ferne.
So erklärte sich Rainer das Zagen, das ihn plötzlich durchzitterte. So hoch war er gelangt, so nah stand er der Höhe des Wunderberges, daß ein einziger kühner Sprung scheinbar ihn hinübertragen konnte auf den strahlengekrönten Gipfel. Und doch, wenn dieser Sprung ausführbar gewesen wäre, er hätte gezögert, ihn zu tun.
Der Berg wandte ihm seine düstre Seite zu. Nicht mehr den lichten, aus Helle und Glanz gewobenen Mantel trug er hier, der auf der andern Seite schimmernd und feierlich von der höchsten Spitze bis auf die grünen Matten der kleinen Scheidegg niederfloß, und in dem er zu sagen schien: komm herauf, und feiere mit mir! Ein düstrer Panzer gürtete seine Lenden, und sein dunkel emporgereckter Leib schien zu drohen: bleibe mir ferne – meine Umarmung ist dein Tod!
»Sie sieht nicht freundlich aus von hier, die schlimme Königin,« sagte Peter Schlegel, der es gewohnt war, daß die Leute, die er von hier heraufbrachte, erstaunte und wohl gar enttäuschte Gesichter machten. »Man ist zu nah und zu tief. Oben stellt sich's anders.«
Da tat Christen Almer einen lauten Ruf. Sein scharfes Auge hatte auf dem Firnfeld, darüber hin sie nun die Richtung nehmen mußten, einen winzigen dunklen Punkt entdeckt. Von Gestein konnte er nicht herrühren; es konnte ein von Menschen zurückgelassener Gegenstand sein. Sie vergaßen, was sie eben noch sprachen, setzten sich auf die schräge Halde und rutschten ab, in die Mulde hinunter.
Rainer Amberger zögerte noch. Was er sah, ließ ihn nicht los. Ein breiter Sonnenstrahl fiel auf den Jungfraugipfel, erleuchtete die Luft hoch über dem bläulichen Eistal, und legte sich auf den schweigenden Grat, darauf Rainer stand, und auf die starrenden Felsen ringsum; er fühlte die belebende Wärme auf seinen Kleidern bis in das Blut hinein. Eine leuchtende Brücke baute sich über schwindelnde Tiefe von ihm zu dem Ziel seines Sehnens. Ach, daß er sie besteigen könnte!
Er atmete tief. Die andern waren weit ab, er hörte ihre Stimmen nicht mehr. Allein war er, ganz allein in der sonnigen Himmelsnähe. Kein Laut irgend welchen Lebens war zu vernehmen; und doch jauchzte die ganze Welt um ihn her, und sang ein erhebendes Psalmenlied zu des Höchsten Ehre. Auf brausenden Schwingen trug es des Mannes Seele empor, dieses gewaltige Lied. Sein wundes Herz tat starke, ruhige Schläge. Sein bedrücktes Gemüt ward erfüllt von einer großen Zuversicht. Er sah die himmlischen Heerscharen sitzen auf leuchtenden Thronen, und hörte ihren Gesang zu dem Getön ihrer Harfen:
»Heilig, heilig, heilig ist Gott der Herr, und alle Lande sind Seiner Ehre voll!«
Und Rainers Seele stimmte ein in den himmlischen Lobgesang, und was ihn irdisch gegrämt, verflüchtete sich unter dem gewaltigen Brausen, wie die Frühnebel in der Morgensonne.
Dann eilte er den andern nach.
Er fand sie in eifrig erregter Unterhaltung und Beratung. Was Christen Almers Blick aus der Ferne erspäht, hatte sich in der Nähe erwiesen als ein Häuflein aufeinandergeschlichteter leerer Flaschen und Blechdosen, dazu einige verbrauchte Lappen und verkohlte Holzstücke. Es war anzunehmen, daß die Vermißten hier auf dem Firn die Nacht nach dem Unwetter zugebracht hatten. Es mochte hier oben in dem Bergkessel länger angedauert und ihnen die Fortsetzung ihres Weges über die Joche unmöglich gemacht haben. So hatten sie es vorgezogen, hier, wo sie vor Abstürzen und Steinschlägen sicher waren, den gestrigen Morgen abzuwarten, und waren dann durch das Rothtal nach Lauterbrunnen zurückgekehrt, wo sie in anbetracht ihrer ermüdeten Kräfte erst nachmittags angekommen sein mochten – vielleicht zur gleichen Zeit, als die Gydisdorfer zu ihrer Hilfe ausrückten.
Diese Ueberlegung und die Wahrscheinlichkeit, daß die ganze Unternehmung umsonst sei, verstimmte die braven Männer ein wenig, – und als Rainer sie einholte, waren sie eben einig, wieder umzukehren. Da hatten sie aber mit dem Rainer nicht gerechnet. Umkehren, so kurz vor dem Ziel, seinem Ziel, und ohne ihr Unternehmen aufs Weitgehendste ausgeführt zu haben, das gab es nicht für ihn. Nach langem Hin- und Herreden, wobei sie fast aneinandergerieten, stieß er seinen Stock trotzig in den Schnee und rief:
»Gut, so kehrt um, aber ohne mich. Eure Zeit darf ich für mich allein nicht in Anspruch nehmen, das seh' ich gern ein. So werd' ich allein hinaufsteigen. Ich kann nicht anders – ich muß. Gott helfe mir. Amen.«
Damit wandte er sich um und ging. – Die beiden Männer sahen einander betroffen an.
»Amberger!« rief Almer dem Davoneilenden nach. Er hörte nicht. Da lief er hinter ihm her.
»Amberger! so hört doch! nehmt doch Vernunft an!« Rainer blieb stehen. Als Almer ihn eingeholt hatte, legte der Mann ihm mit väterlicher Miene die Hand auf die Achsel und sagte:
»Laßt mit euch reden, Rainer. Ich habe nicht umsonst vier Monate lang Gastfreundschaft genossen in eurer Väter Haus. Ich will euch gern den Gefallen tun. Ich bin nicht nur um klingenden Lohn zu haben. – Also wenn ihr's euch denn in den Kopf gesetzt habt – meinetwegen, so will ich euch führen. Allein laß ich euch nicht. Wenn euch ein Unglück zustieße – ich hätt' ein für allemal mein gut's Gewissen verscherzt. Aber ohne gut's Gewissen keine sichren Tritte; und ohne sichre Tritte – was machten wir da auf den Bergen!«
Rainer schwieg. Inzwischen war auch Schlegel herangekommen, und fand sich, wenn auch brummend, zum Weitergehen bereit. Und wenn sie nun doch einmal oben waren, konnten sie auch den kurzen Abstieg nach Lauterbrunnen machen, und da vielleicht gleich von dem Schicksal der Vermißten hören.
»Wer weiß, wozu's gut ist!« sagte der Rainer. »Wer weiß, ob sie nicht irgendwo liegen zwischen der Spitze und dem Rothtal!«
»Dann haben die Lauterbrunner sie längst geborgen!« murrte Schlegel. Dann gab er dem Rucksack einen energischen Schwung und ging hinter den beiden andern her. –
Die achte Morgenstunde war angebrochen. Zwischen dem Mönch und der Jungfrau stieg die Sonne empor. Milliarden blitzender Fünkchen tanzten auf dem Schneefelde, dessen harte Oberschale mit jedem Schritte morscher wurde. Almer und Schlegel trieben zur Eile; Es blieb dem Rainer keine Zeit, Umschau zu halten. Nur fühlen tat er die Erhabenheit, die ihn umgab; sie trug ihn, sie umleuchtete ihn. Er fühlte keine Ermüdung, keine Anstrengung. Hinauf! hinauf! Das war sein einziger Gedanke. Es war, als mache er eine Himmelfahrt.
Je mehr sie sich dem Rothtalsattel näherten, dessen vereiste Paßhöhe erstiegen werden mußte, um die einzige von dieser Seite aus zugängliche, südliche Seite des Berges zu gewinnen, um so steiler stieg der Weg. In einer Schneerinne erklommen sie den Grat, über den meterbreite Schneewächten herüberhingen. Almer, der wieder zuvorderst ging, schlug sie mit dem Eispickel durch, um Platz zum Durchkriechen zu schaffen.
»Achtung!« schrie er.
Sei es, daß die Wächte vom vorgestrigen Morgen morsch und rissig geworden, sei es, daß frischer Schnee einen zu großen Druck ausübte – statt des beabsichtigten Durchschlupfes entstand ein Bruch, der sich mit donnerndem Getöse längs des Grates fortsetzte. Eine fürchterliche Schneewelle rauschte und polterte über den Hang die Rinne hinunter, bis sie auf dem Firnfeld wie gefrorener Schaum zerstäubte.
Christen Almer war von den stürzenden Massen kaum berührt worden; er stand so dicht an den Grat gedrückt, daß die weiße Sturzwelle über ihn hinweggeschossen war, ohne ihn zu berühren. Als der Aufruhr von stürzenden Klumpen und stäubendem Schnee sich gelichtet, suchte sein Auge die Männer, die einige Schritte hinter ihm gestanden hatten. Sie waren nicht mehr da. –
Schon wollt' er rufen – da erklang ein helles Jauchzen, und etwa hundert Schritt weiter unten wühlte sich aus den niedergegangenen Schneemassen eine menschliche Gestalt hervor, schüttelte sich und plusterte sich wie ein beschneiter Vogel, und sandte dabei dem Gefährten zur Beruhigung einen fröhlichen Jauchzer hinauf. Es war Rainer Amberger.
Wo aber war der andre?
Sie riefen und schrien – schon wollten sie hinuntersteigen, wo die gewaltigen Schneetrümmer auf dem Firnfeld aufgeschlagen waren. Da hörten sie Antwort; dem Schalle folgend, fanden sie ihn.
Von einem großen Stück getroffen und durch die Wucht des Schlages aus dem Gleichgewicht gestoßen, hatte er sich überkugelt und war neben der Rinne, in der sie heraufgekommen waren, eine starrende, senkrechte Eiswand hinuntergestürzt, bis er auf halber Höhe in einem Spalt hängen geblieben war. Oben am Rande stehend, konnten sie ihn sehen.
»Bist du unverletzt?« schrie Almer hinunter.
»Ja –« klang es zurück – »so ziemlich; nur die Hand. Ich werd' nicht allein hinaufkönnen; es wird einer herunter müssen mit dem Seil!«
Aber welcher? Hinunterzuklettern erforderte mehr Gewandtheit; oben zu stehen und das Seil zu halten, mehr Uebung und Kraft. Rainer war sofort bereit hinabzusteigen, und da nicht viel Zeit zum Ueberlegen war, machte er sich sofort daran.
Almer untersuchte zunächst den Schnee am Rande der Wand, an der Stelle, wo man hinunter mußte, und stieß ihn ab, soweit er lose war. Dann band er Rainer am Seil fest. Dann suchte er sich in einiger Entfernung am Rande eine Stelle, wo er sich fest einstemmen konnte; eine Zacke, um die er das andre Ende des Seiles hätte schlingen können, gab es nicht – er war ganz allein auf die eigene Kraft angewiesen.
»Ich werd' euch nicht zwei auf einmal heraufseilen können,« sagte er bedenklich. »Ich möcht das Seil leer hinunterlassen – aber der Peter wird sich's nicht festschlingen können mit der verletzten Hand. Ihr müßt's ihm bringen und ihn an eurer Stelle festmachen, und dann warten, bis ich euch nachhole. Wird's gehen –?«
»Es muß!« rief der Amberger mutig. Und schon ließ er sich vorsichtig über den Rand hinaus. Almer stemmte aus Leibeskräften. Von der schweren Last gezogen, senkte sich das Seil in die Tiefe. Manchmal, wenn der Amberger die Füße auf einen Vorsprung stellen konnte, hing es schlaff; aber immer schon nach wenig Sekunden zog es allmählig wieder an.
»Weiß der Himmel, wo der Mann den Verstand her hat!« dachte Christen Almer, und beruhigte sich immer mehr. Es war ihm doch lieber, den Ungeübten auf dem gefährlichen Wege in seiner sichren Hand zu halten, als sich selbst, zwischen Tod und Leben schwebend, von unerprobten Armen abhängig zu wissen.
»Halt!« tönte es von unten. Eine gute Weile verstrich. Almer lauschte atemlos, ohne auch nur einen Augenblick das Seil lockrer zu halten. Ein plötzlicher Ruck – es konnte seiner Hand entgleiten, und die unten wären verloren.
»Auf!« tönte Ambergers helle Stimme.
Almer zog an; langsam und vorsichtig. Meist hing die Last schwer und bewegungslos; nur selten schien es dem Angeseilten zu gelingen, mit Hand oder Fuß nachzuhelfen. Endlich – dem Almer drohten vor Anstrengung die Adern zu platzen – tauchte Peter Schlegels Kopf über dem Rande herauf. Ein letzter, kräftiger Ruck – er war oben. Stöhnend ließ sich Almer in den Schnee fallen.
Der Abgestürzte hatte einen zerfetzten Rock, eine zerschundene Backe und die Hand war gequetscht und blutete heftig; sonst war ihm nichts geschehen. Er war auch ganz guter Dinge trotz seiner vorherigen Brummigkeit.
»Mach' schnell, hol' den Amberger auf,« rief er, ehe er weiter von sich selber sprach. »Der sitzt wie die Maus in der Falle in meiner Spalte – sie ist nach unten offen, und wenn er sich nicht mehr halten kann, rutscht er durch. Er ist ein gut Teil schmäler als ich!«
Und wieder glitt das Seil in die Tiefe. Almer beugte sich, platt auf dem Bauche liegend, über den Rand hinaus, um zu sehen, ob er sein Ziel erreiche.
Inzwischen hing Rainer Amberger festgeklemmt in dem eisigen Riß. Solange er mit dem Verletzten zu tun gehabt, waren alle seine Sinne in Anspruch genommen worden durch die schwierige Arbeit, in der engen Kluft, in der sich kaum einer am andern vorbeischieben konnte, das Seil von seinen Hüften zu lösen und dem andern umzulegen. Nun war der andre hinauf, und er schwebte allein zwischen Himmel und Erde, ohne andern Halt, als seine stemmenden Glieder. Ueber ihm zwischen verschneiten Eisrändern das Aetherblau; unter ihm in bläulicher Tiefe der harte Firn.
Wenn er jetzt die stemmenden Arme und Kniee losließe, nur ein ganz klein wenig – dann stürzte er über die scharfkantigen Schrunden und Zacken hinab; dann kam er unten an, tot, oder mit zerschmetterten Gliedern. Die leicht erreichbare Möglichkeit, seine gestrigen Gedanken wahr zu machen, erfüllte ihn mit Schaudern; mit Staunen über sich selbst.
Nach Leben schrie alles in ihm; nach Leben und Arbeit; nach Leben mit seinem warmen Blut, seinen jungen Augen, seinem frischen Herzen; nach Leben in einer Welt, wie diese –
Straffer spannten sich seine Muskeln; er hob den Kopf und spähte nach oben. Das Seil kam. Oft blieb es sitzen zwischen Zacken und stufenförmigen Vorsprüngen. Dann mußte es angezogen und von neuem gesenkt werden. Aber es kam näher – schnell und sicher. Nun war es da. Vorsichtig den einen Arm von der Eiswand lösend, ergriff es der Mann. Nun brauchte er auch den andern Arm. Nur mit den Knieen und den genagelten Sohlen gegen die glatte Wand gestemmt, schlang er sich das Seil um und schürzte es fest, mit mehreren Pausen, weil immer dazwischen die Arme die ermattenden Beine unterstützen mußten. Nun hielt die Schlinge.
»Auf!« jauchzte es aus der Tiefe.
Christen Almer zog; diesmal hatte er leichtere Arbeit, als vordem, denn der Mann, den er jetzt heraufzog, gab kräftige Nachhilfe; das Seil schien ihm nur eine Unterstützung zu sein; es trug ihn die eigene Kraft. Mit einem kühnen Schwunge war er über den Rand und oben. Er war sehr blaß und die Knie zitterten ihm ein wenig. Aber seine Augen leuchteten.
Christen Almer sagte gar nichts; irgend eine heftige Bewegung zuckte in seinem bärtigen Gesicht; gewaltsam wickelte er das Seil auf. Peter Schlegel, der sich das Gesicht und die übelzugerichtete Rechte mit Schnee gewaschen und gekühlt und sich einen Verband angelegt hatte, ging auf den Amberger zu, reichte ihm die unversehrte Hand und sprach:
»Ihr solltet auf die Führerschule gehen und euch zu uns tun; solche wie ihr seid, können wir brauchen!«
Rainer sah den Mann betroffen an. Das war ein Vorschlag –
»Ja – geht denn das noch? Mit meinen Jahren?«
»Eure Jahr' sind die besten!« mischte sich Almer ein. »Der Peter hat recht. Und wenn's zu weiter nichts wär, als daß ihr die Leut, die wir führen, mit euren Augen anseht, wenn sie müd' werden oder ängstlich sind –« Das Weitere verlor sich in einem unverständlichen Murmeln.
Ziemlich schweigsam machten sie sich ans Weitersteigen. Rainer fühlte eine Erschütterung in der Seele, die ihm die Zunge lähmte.
Das Erklettern des Grates über den abgebrochenen Schnee machte einige Mühe. Schlegel mußte angeseilt werden, weil er die rechte Hand nicht brauchen konnte. Oben angelangt, sagte er zu den beiden:
»Macht das letzte End' allein; ich halt euch nur auf und bring' euch und mich in Gefahr; auf dem Eishang an der Spitze muß einer alle seine Glieder beisammen haben. Ich erwart' euch hier.«
Sie sahen ein, daß er Recht hatte, und nachdem sie sich auf alle Fälle durch das Seil miteinander verbunden, begannen sie den letzten Anstieg.
Hier gab es harte Stufenarbeit. Das Unwetter hatte alle Spuren menschlicher Füße, die sonst in schönen Tagen oft tagelang zu erkennen sind, verwischt. Christen Almer mußte all seine scharfsinnige Erfahrung zu Hilfe nehmen, um den besten Weg zu finden. Unter den Sonnenstrahlen schmolz auf den höher ragenden Zacken der Schnee und rieselte über die spiegelglatten Mauern. Hier und da war das Eis morsch und rissig. Einmal brachen dicht neben ihnen ein paar große Stücke los und sprangen mit unheimlichem Gepolter in die Tiefe.
»Lange dürfen wir uns oben nicht aufhalten,« sagte er zum Rainer. »Die Sonne wird heute noch etliches abbröckeln.«
Endlich war die Arbeit getan. In tiefem Firnschnee watend, ging es noch etliche hundert Schritt in schwacher Ansteigung zu dem nur noch ein Weniges über das Plateau aufragenden Gipfel.
Rainer Ambergers Herz schlug laut vor leidenschaftlicher Freude. Er sah sich nicht um in neugieriger Ungeduld. Er hielt den Blick gesenkt. Ganz auf einmal wollt' er es haben –
Was das Auge im Tal nicht sieht, was das Ohr in der Tiefe nicht hört, was das Herz des Staubgeborenen nicht erfährt auf der Erde – das offenbart Gott denen, die er liebt, auf den Zinnen seiner heiligen Berge. Da stehen sie ringsum wie lichte Helden im kristallenen Panzer, mit funkelnden Juwelen geschmückt, als warteten sie, daß über ihnen der Himmel sich öffne und der Allmächtige herabsteige, mit heiligem Fuß zu wandeln über die schimmernden Teppiche, die sie ihm breiten. Eine unirdische Stille und Klarheit geht vor ihm her, und aus den Falten seines Sonnenmantels weht der Atem der Ewigkeit.
In entrückter Tiefe liegt der Menschheit Leid und Lust; die grünen Auen und die blauen Seen, die Dörfer und Städte; die Arbeit und Mühe, das Weinen und das Lachen der Tausende. Ausgelöscht die Unterschiede der niedrigen Höhen und Tiefen; weggeräumt alle Hindernisse, die dem Auge da unten den freien Ausblick verengten; zugedeckt von einem bläulichen Duft, und von einem goldigen Dunst.
So blickt der Mensch, wenn er vollendet, von der Höhe des Himmels hernieder auf die Erde, die ihm eine zeitlang seine Welt war. –
Christen Almer hatte sich im Schnee einen Sitz zurechtgedrückt, und wartete in Geduld. So oft er schon auf den Höhen gewesen war, ergriff ihn doch jedesmal wieder die Größe dieses Bildes. Und wer zum erstenmal hier oben stand, mit dem, das wußte er, darf man nicht reden.
Rainer Amberger stand mit dem Gesicht nach Norden, wo die unendlichen Eis- und Schneefelder von Jungfrau, Mönch und Eiger sich hinuntersenken bis auf die großen Matten, und sein Auge suchte einen Ruhepunkt in dem dunstigen Chaos der entsetzlichen Tiefe. Da links lag das Tal von Lauterbrunnen wie ein mit blauer Nacht gefüllter Felsenriß. Da hinten, wo die grünen Vorberge sich zusammenschieben, das mußte Interlaken sein; wo der Uttdörfer seine Strafe abbüßte; wo er, der Rainer, auf der Mauer am rauschenden Aarfluß gesessen und den sehnsüchtigen Blick hier herauf gelenkt hatte, als zu einer letzten und schönsten Zuflucht. Weiter rechts in einer breiter werdenden Mulde das Lütschental, überragt von den steilen Höhen, auf denen die Bußalp hing. Das obere Ende des Tales mit dem Grindelwald und den Häusern von Gydisdorf lag unsichtbar hinter dem Eigergemäuer.
Die Bußalp! In der vorigen Nacht hatte er da gelegen, verhärtet in Wut und Zorn, vernichtet von stürmendem Weh, jugendstarkem Herzeleid; verzagt an Gott, am Schicksal, an den Bergen und an sich selbst. In voriger Nacht! Ihn dünkte, ein Menschenleben sei darüber hingegangen.
Und weiter dünkte ihn, er sei gestorben und stehe am Eingang des Himmels; und ehe das schimmernde Perlentor sich schloß zwischen ihm und der Erde, ging sein Auge noch einmal da hinunter, und suchte, was ihm lieb gewesen, und seine Seele durchwanderte noch einmal in schnellem Gedankenflug den Weg, den er da unten zurückgelegt hatte. Wie sah er verändert aus!
Die Hindernisse, über die er kaum hinweggekonnt – sie schrumpften zusammen zu winzigen Maulwurfshügeln; die Freuden, die ihn dort bewegt, verblaßten unter dem Licht, das hier ihn umleuchtete; die Schmerzen, die je sein Herz durchwühlt, waren verloschen wie Schatten im Sonnenschein. Tief unter seinen Füßen lag das Leben, mit dem er gekämpft und das er geliebt, dafür er all seine Kräfte eingesetzt, darin er gewurzelt hatte. Und siehe, es war alles nicht wert gewesen der unaussprechlichen Herrlichkeit, die ihn hier oben erwartete.
Von allem, was er da unten verlassen und überflügelt, hätte er nur eins mitnehmen mögen, auf daß die Herrlichkeit eine wunschlose sei. Nur Eine! Nur Barbara. Eine wahre, echte Liebe folgt dem Menschen nach bis in den äußersten Himmel; denn solche Liebe ist ein Stück Gottheit. Liebe ist ewig. – Und um dieser Liebe willen mußte er zurückkehren in die dämmernde Tiefe des Lebens. –
Und es war doch auch schön gewesen, dieses Leben, gelebt mit frohem Herzen und hellen Glauben, in rüstigem Schaffen, in selbstbewußter Jugendkraft! Die trägt alles, die schafft alles, die überwindet alles; die baut auf Trümmern und hofft an Gräbern; die ringt mit dem Mißgeschick und triumphiert mit heiligem Lachen über die Dämone der Finsternis. Diese Jugendkraft war noch nicht reif zum Sterben. Diese seine verloren geglaubte Jugendkraft – – allmächtiger Gott – er hatte sie wiedergefunden.
Ein Glück durchbrauste ihn, als sei ein Toter ihm wieder auferstanden. In seinen Augen funkelten Tränen eines berauschenden Siegestaumels. Ja, die Jungfrau, die Königin, die hatte ihn auf die Höhe geführt und hatte ihn das Siegen gelehrt.
Langsam wendete er sich um zu dem, was hinter ihm war: der Himmel, das Wunderland, an dessen Eingang er stand. Berg an Berg, Spitze an Spitze, aufragend aus weißen Meeren, aus glitzernden Wogen ewigen Eises, eine großartige, funkelnde, in ihrem völligen Schweigen übermenschliche Pracht. Und in diese Pracht, in diese Größe, in diese geheimnisvolle Welt göttlicher Offenbarungen hatte er sich den Eintritt erzwungen.
Ja, Peter Schlegel hatte recht. Führer wollte er werden. Mehr und mehr wollte er eindringen in diese Welt, frei von Sünde und ohne Leid, in diese Welt von Helle und Heiligkeit, und anderen verhelfen zu dem, was ihm geworden. Diesen Herbst noch würde er sich ausbilden lassen. Das gab seinem ganzen Leben eine neue Wendung, einen andern Wert.
»Amberger, was geht in euch vor?« fragte Christen Almer, der ihn schon geraume Weile beobachtet hatte. Rainer erschrak fast; er hatte die Nähe eines Menschen völlig vergessen gehabt. Wie aus dem Leben da unten, so klang ihm die Stimme, fremd und fern.
»Ich denk' darüber nach, daß ich Führer werden möcht,« sagte er. Was sonst noch ihn erfüllte und bewegte, hätte er schwerlich in Worte fassen können, auch wenn er gewollt hätte. Almer sagte darauf nichts.
»Habt ihr nun genug?« fragte er, und erhob sich.
»Davon kann man nie genug haben!« Almer lächelte überlegen.
»Man muß sich bescheiden; sonst bleibt man nicht ungestraft! 's ist Zeit – wir müssen hinunter. Schaut, wie die Sonne gestiegen!«
Sie stand fast im Mittag. Senkrecht trafen ihre glühenden Strahlen auf die glitzernden Krystalle. Von der Eiswand, über die sie heraufgekommen waren und wieder hinunter mußten, klang Rieseln und Tropfen, wie das Pulsieren eines friedlichen Bächleins über runde Kiesel zwischen nickenden Ufergräsern.
Der Abstieg war sehr viel unangenehmer, als der Aufstieg gewesen. Ueberall sickerte das Wasser; die Schneedecke über dem Eise rutschte, wo man sie betrat, und das Poltern der losgebrochenen Stücke klang häufiger als vorhin.
»Das ist immer so in sonnigen Mittagsstunden nach starken Schnee- und Regenfällen,« meinte Almer, der mit der größten Vorsicht in die oft schon wieder ausgewaschenen Stufen trat.
Endlich hatten sie flachen Firn unter den Füßen; sie waren wieder auf dem Rothtalsattel angelangt. Während Almer und Schlegel den weiteren Weg berieten, und dabei über den langen schmalen Grat südwärts schlenderten, wo es über eine wilde Felsenwüste ins gletschergefüllte Rothtal niedergeht, stand Rainer mitten auf der Paßhöhe und sah sich noch einmal um in der Welt, in der er sich immer noch als Träumender fühlte; als ein schön und glücklich Träumender. Der Abglanz dieses Traumes, der doch Wahrheit war, verklärte seine männlich schönen Züge. Den schweren Rucksack hatte er abgeschnallt und neben sich gelegt. Seine Augen wanderten ringsum in staunender Seligkeit. Und endlich, langsam, wie durch eine innere Notwendigkeit, falteten sich seine Hände.
»Ich hob meine Augen auf zu den Bergen und siehe, mir ist Hilfe gekommen. Du ließest meinen Fuß nicht gleiten, und hast meine Schritte behütet. Leite mich ferner an deiner Hand, daß ich schaue deine heilige Stätte –«
Hinter seinem Rücken, irgendwo in den Lüften, klang ein Krachen und Bersten. Der einzige Ton in der unirdischen Stille erinnerte ihn an das irdische Leben.
Hinunter nun, mit neuer Kraft und neuem Mut. Hinunter nun, mit dem Herrgott, den er hier oben wiedergefunden hatte, und an dem er nimmer wieder zweifeln würde, nachdem er ihn so greifbar gefühlt!
Hinter ihm, in den Lüften, war ein Klingen und Sausen. Den Eishang herunter sprang ein bläulich leuchtender Block, sprang von Zacke zu Zacke, glitzernde Splitter schlagend. Sprang in die Tiefe hernieder mit immer wachsender Wucht.
Rainer Amberger hörte nichts. Vor das Auge seiner Seele trat Barbara. Heute noch würde er sie wiedersehen.
Der krystallene Block sprang zum letztenmal an der harten Wand auf, und flog im großen Bogen in das Schneefeld hinaus. Er traf den ahnungslosen Mann auf den Rücken, daß er vornüber fiel, schlug auf, sprang weiter, und kollerte dicht an den erschrocken zur Seite springenden Führern vorbei, hinein in die Felsblöcke, wo er mitten auseinanderbarst und liegen blieb.
Dem wilden Getön folgte wieder die unirdische Stille. Leise, leise rieselten die Wasser, und die Sonne lachte.
Rainer Amberger lag mit dem Gesicht auf dem Schnee, und rührte sich nicht. Schlegel und Almer beugten sich über ihn, hoben seine Arme, seine Füße – er gab keinen Laut von sich. Sie hoben ihn bei den Schultern auf und kehrten ihn vorsichtig um.
Es war keine Verletzung zu sehen, keine Wunde. Sein Antlitz war braun und frisch; ein glücklicher Friedensglanz lag um den Mund. Die blauen Augen waren weit geöffnet; unnatürlich weit; sie starrten in den Himmel hinauf; unnatürlich starr. – Er war tot. –
*
Sie trugen ihn mit vereinten Kräften durch die Felsenwüste hinunter ins Rothtal. Sie sprachen nicht viel. Mehreremal wischten sie sich die Augen. Sie hatten ihn lieb gewonnen, den sonnigen Gesellen.
In der schauerlich düstren Einsamkeit des nach drei Seiten von himmelhohen Felswänden eingeschlossenen Gletschertals, dessen finsterer Ernst von der langsam gegen Westen sich senkenden Sonne nur wenig gemildert wurde, erreichten sie die Hütte. Sie mußten rasten, denn sie waren völlig erschöpft. Sie legten ihren Toten auf das Gestein vor der Tür, und traten ein.
Auf dem Tische lag das aufgeschlagene Klubbuch, als sei es eigens für sie dahingelegt. Es stand darin zu lesen, daß die vor drei Tagen von Interlaken nach der Jungfrau aufgebrochene Gesellschaft, auf dem östlichen Abstieg vom Unwetter überrascht, auf dem Jungfraufirn habe übernachten müssen. Am Tage nach dem Wetter mit vielen Mühsalen, des kürzeren Weges, halber über den Rothtalsattel hierher zurückgekehrt, seien sie gegen Abend in völlig erschöpftem Zustande von den zu ihrer Hilfe ausgezogenen Lauterbrunnern aufgefunden und heimgebracht worden.
Nachdem sie gelesen, legten sie das Buch aus der Hand und sprachen über das Gelesene nicht ein einziges Wort.
Sie aßen und tranken, weil es notwendig war; Peter Schlegel machte sich einen neuen Verband um die gequetschte Hand. Dann ging es weiter.
Auf der Stufensteinalp stellten sie aus Brettern und Stricken eine Trage her. Ein kräftiger Senne erbot sich, mitzugehen, damit sie sich im Tragen ablösen könnten.
In Stechelberg verschafften sie sich einen Wagen, machten eine Schütte von Heu, legten den Toten darauf, und bedeckten ihn mit einem Plan. So fuhren sie im sonnigen Abendglanz nach Lauterbrunnen. – Hell strahlten die Berge im feierlichen Rund. Von den Felswänden wehten die silbernen Schleier der Staubbäche hernieder auf die blumenbesäten, duftenden Wiesen. Fröhliche Menschen zogen an ihnen vorbei. Sie saßen stumm und in sich versunken auf ihrem Brettersitz, als führen sie das Unglück.
In Lauterbrunnen mußten sie Halt machen und einen anderen Wagen nehmen. Sie erfuhren näheres über das Schicksal der vier, die zu suchen sie den Weg unternommen hatten, der nun am Grabe endigen würde. Es hatte kein Interesse mehr für sie. Nur weiter – weiter.
Nach Zweilütschinen hinunter, und im spitzen Winkel rechts das Lütschinental hinein, nach dem Grindelwald.
Mit schweigendem Bangen beobachteten sie, wie die Sonne sank; wie die weißen Spitzen verglühten; wie der blaue Duft aus den Schluchten stieg und sich über die Landschaft breitete; wie es Abend wurde, und dunkel. Die furchtbaren Anstrengungen des heutigen Tages, zumal der letzten acht Stunden, hatten sie erschöpft. Peter Schlegels Hand brannte, als halte er sie ins Feuer. Aber sie hätten keine Ruh' gefunden unterwegs; sie mußten ihn heimbringen. Heim! ja, wohin denn?
Auf den Ambergerhof; zur Barbara. Da gehörte er hin, von Gottes und Vaters wegen.
Immer dunkler ward es umher. Die Sterne traten hervor, einer nach dem andern; friedlich lächelten sie hernieder, wie an jedem klaren Abend. Von dem kleinen Leid in der irdischen Tiefe wissen sie nichts.
Die Dorfstraße von Gydisdorf war nächtlich leer und still; nur in den Gasthöfen war noch Leben. Niemand achtete des einsamen Gefährts, das langsam und klappernd dorfaufwärts zog.
Bei dem Pfarrer machten sie Halt. Christen Almer sprang vom Wagen und ging ins Haus.
Trotz der späten Stunde war der Pfarrer nicht allein. Margred Uttdörfer saß bei ihm. In ihrer Herzenseinsamkeit kam sie öfters zu ihm um Rat und Trost, und dann plauderte sie sich fest; es graute sie allemal, heimzukehren in ihr verwaistes Haus.
»Wir kommen zurück mit einer schweren Botschaft,« sagte Christen Almer, »und wollen den Herrn Pfarrer bitten, daß er sie uns ausrichten helfe.« Dann erzählte er.
Margred wurde noch blasser, als sie schon war. Mit zitternden Knieen wankte sie hinter den Männern her zum Wagen. Peter Schlegel stand neben der Leiche, von der er das Tuch zurückgeschlagen hatte. Der Mond, der über dem nahen Kirchendach stand, beschien das Gesicht, das jetzt bleich und scharf aussah; aber das glückselige Lächeln war ihm geblieben.
»Die Ambergerin hat noch Licht,« sagte Peter Schlegel, und wies durch die Bäume hinauf. »Ich meine, wir müssen ihn gleich hin bringen, wo er hingehört.«
So brachten sie ihn heim. Christen Almer und der Pfarrer trugen die Bahre. Peter Schlegel mit der verbundenen Hand ging voraus. Margred Uttdörfer folgte, wie eine Schlafwandelnde. Niemand begegnete ihnen.
*
Um dieselbe Mittagsstunde, als Rainer Amberger auf dem weißen Gipfel stand, sein Blick auf den grünen Matten der Bußalp ruhte, und sein Herz des verzagten Trotzes gedachte, mit dem er in jüngstverflossener Nacht dort im feuchten Grase gelegen, und sich von Gott und dem Leben abgewendet hatte, saß auf eben diesen Matten Barbara, und ihr Auge klammerte sich an die schwindelnde Höhe, die er ersteigen wollte.
Sie sahen einander nicht; aber ihre Seelen waren beisammen.
Barbara hatte in der Nacht nicht schlafen können, und am Morgen hatte es sie nicht gelitten in der alltäglich sich weiterspinnenden Einförmigkeit ihrer Umgebung, ihrer Verrichtungen. Wenn sie nichts von ihm erfahren konnte, so wollte sie wenigstens die Höhen sehen, auf die seine unbezwingliche Sehnsucht ihn getrieben – fort von hier. So ging sie im Walde hinauf auf dem Wege zur Bußalp. Auf einer einsamen Wiese kauerte sie nieder und starrte die Jungfrau an.
Sie ängstigte sich um ihn. Nicht, daß sie seiner Kraft und Geschicklichkeit mißtraut hätte; nicht daß sie ihn, den Frohen, Unverzagten einer feigen Gewalttat für fähig gehalten hätte. Aber Unglück ist wohlfeil; und in einer traurigen und bedrückten Gemütsstimmung ist man gern geneigt, das Schlimmste zu glauben.
Das Wetter war schön; der Himmel ebnete ihm den Weg und begünstigte sein Unternehmen. Aber der Tücken und Gefahren sind viel auf den vereisten Pfaden auf schwindelndem Grat, an klaffendem Felsenriß, in weichendem Schnee und unter stürzendem Gestein. – Barbara starrte hinauf, bis das leuchtende Weiß ihr an den übernächtigen Augen wehe tat. –
Jetzt erst wußte sie ganz, wie völlig ihre Seele sich an ihn gehängt hatte. Und wenn er ihr nicht sein durfte, was das Innigste und Beste ist auf Erden, so mocht er ihr doch bleiben als ein Trost und ein Halt; wenn sie nur wußte: er ist da!
Wenn aber sie ihn ganz verlor – – die furchtbare Angst übermannte sie, und drückte ihr Leib und Seele zu Boden. Und in ihrer Not schrie sie zu dem Herrn:
»Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von denen mir Hilfe kommt! Laß seinen Fuß nicht gleiten, Herrgott, und behüte seine Tritte! Leite ihn an deiner Hand, und halte ihm ferne, was ihm Schaden bringen kann, zwischen Himmel und Erde!«
Still war es ringsum; das Wasser rieselte leise über bunte Kiesel zwischen nickendem Ufergrase, und die Sonne lachte.
Durch den leuchtenden Aether hinauf stieg der Schrei ihrer Liebe, hoch über die weißen Gipfel hinaus, und vereinigte sich mit dem jauchzenden Dank, der zu gleicher Stunde, mit den gleichen Worten, aus Rainer Ambergers Seele stieg, als ihr letzter, irdischer Seufzer.
Still war es ringsum. Barbara fürchtete sich. Ein Frieren lief ihr über den Leib, als habe ein kalter Hauch sie gestreift; und dennoch schien die Sonne mittäglich heiß. Schwerfällig erhob sie sich und schlich langsam nach Hause.
Und langsam schlich ihr der Tag. Zweimal sandte sie die Magd hinunter ins Dorf, zu forschen, ob man keine Kunde habe von den Männern oder denen, die sie suchten. Niemand gab ihr Bescheid. Es schien, daß auch noch die zweite Nacht dahin gehen sollte in schlafloser Unruh'. So wollte sie diese Nacht kürzen.
Mutter Marthe war längst zu Bett gegangen. Die Tochter war ohnehin unzugänglich für ihren Zuspruch, und schweigsam über das, was ihr das Gemüt schmerzvoll bewegte.
Ganz allein noch wachte sie auf dem schlafenden Hofe; wachte und wartete. Jeder Augenblick konnte ihn bringen. Und je mehr Augenblicke verrannen, ohne daß sich etwas regte in der nächtlichen Stille, um so zuversichtlicher hoffte sie auf den nächsten.
Sie hatte die Haustür offen gelassen, und die Stubentür nur angelehnt; damit kein Geräusch draußen ihr entgehe; damit er, wenn er von weitem ihr Licht sah, freien Zutritt habe zu ihr. Sie malte es sich aus, wie er hereinkommen würde, mit dem lachenden Gesicht – o gewiß, er würde wieder lachen; er würde es wieder gelernt haben da oben; er würde es auch sie wieder lehren, mit der Zeit, trotz alledem. Ihr Herz schlug so sehr vor sehnsüchtiger Wiedersehensfreude, daß ihr schien, sie müsse es festhalten, damit es nicht davonspringe.
Der Hund schlug an. Sie zuckte zusammen in seligem Schreck. Jetzt kam er! Der Hund kannte seinen Schritt.
Mit zitternden Knieen, ganz langsam, stand Barbara von ihrem Stuhle auf. Ob er hereinkommen würde zu ihr? Ob sie hinausging – ihm entgegen? Sie wollt' ja nichts weiter, als ihn gesund sehen, nur wissen, daß er wieder da sei! Und wenn sie auch nimmer konnten zusammen kommen – wenn er nur lebte! lebte!
Das Bellen des Hundes ging in ein langgezogenes Heulen über, in ein ängstliches, klagendes Winseln. Es berührte sie unangenehm. Sie stand auf, ging zur Tür und lauschte. Es kamen Schritte den Berg herauf, von der Straße her. Aber nicht die rüstigen Schritte eines einzelnen. Es klang – barmherziger Gott – es klang wie damals, als sie den Ulrich brachten!!
Sie stand im Flur, preßte die Stirn an die Wand und lauschte mit angehaltenem Herzschlag. Sie wagte keinen Schritt, keinen Blick zu tun, als stünde sie an einem fürchterlichen Abgrund.
Das heulende Gewinsel draußen hörte auf. Jemand trat über die Schwelle unter der Haustür. Barbara machte eine verzweifelte Anstrengung und sah sich um. Der Mond fiel still herein; in seinem weißen Licht erkannte sie Peter Schlegel; er hatte ein blutiges Gesicht und eine verbundene Hand. Ihre Finger krampften sich ineinander; in ihren verzerrten Zügen lebte nur noch die Angst –
Peter Schlegel blieb betroffen stehen. Er hatte nicht erwartet, sie hier im Flur zu finden. Er hatte den andern nur die Türen öffnen wollen, um dann dem Pfarrer den Vortritt zu lassen. Nun fühlte er, daß er irgend etwas sagen müsse.
»Gott steh' euch bei, Ambergerin!« stammelte er. »Nun bringen wir euch auch den andern!«
Draußen vor der Türe setzten sie ihre Last nieder.
Da ging die Ambergerin über die Schwelle, steif und stumm. Sie ging bis dicht an die Bahre. Sie sah die langausgestreckte Gestalt und das bleiche, lächelnde Gesicht, das der Mond hell beschien. Sie sah, und begriff nicht, was sie sah.
Almer war zur Seite getreten. Der Pfarrer schluckte und räusperte sich und brachte kein Wort heraus. Peter Schlegel, der hinter ihm stand, sagte mit gedämpfter Stimme:
»Ein springender Eisblock hat ihm das Rückgrat zerschmettert.«
Nun erst dämmerte ihr das Begreifen. Sie tat einen Schrei, der weit in die friedliche Nacht hinaus gellte, und den Umstehenden einen kalten Schauer durch die Glieder jagte. Sie stürzte zusammen, warf sich über ihn, und preßte ihr Gesicht auf die Brust, in der das starke, frohe Herz aufgehört hatte, zu schlagen.
Niemand wagte, sich zu rühren und sie zu stören. Nur der Hund, der sich ängstlich verkrochen gehabt, schlich mit eingezogenem Schwanz herzu, und begann, die müde herabhängende Hand zu lecken.
Endlich hob Barbara den Kopf wieder. Aus nächster Nähe sah sie ihn an. Sie schien die Umstehenden zu vergessen.
»Raini! Raini!« klagte sie mit herzzerreißender Stimme. »Kommst du mir so heim! Mein Ein und mein Alles! Mein letztes Glück! –«
Und was sie dem Lebenden nie tun gedurft, bei dem Toten fand sie den Mut: sie streichelte und liebkoste sein stummes Gesicht, sie bedeckte die kalten Wangen mit ihren heißesten Küssen, und ihre Tränen fielen brennend nieder auf seine erstarrten Züge.
Daß sie ihr einen Schmerz brachten, das hatten sie wohl gewußt. Wie groß er war, das begannen sie nun erst zu ahnen.
Der Pfarrer redete zu ihr; gute, starke Worte, von verständnisvollem Mitgefühl eingegeben. Aber was sind Worte in solchen Augenblicken! Sie hörte gar nicht darauf. – Da klang es an ihr Ohr:
»Hebe deine Augen auf zu den Bergen –«
Sie schnellte empor. Ihre Augen leuchteten düster.
»Schweigen Sie davon still, Herr Pfarrer! Ich hab's getan, weil er's gewollt hat. Ich hab's getan, und es hat nichts genützt. Und wenn's doch schon ein Bibelwort sein muß – es gibt eins, das besser für mich paßt, das heißt: »Ihr Berge, fallet über mich! Ihr Hügel, decket mich!« Wehevoll klang es aus, wie ein Jammern um erbarmende Gerechtigkeit.
Margred Uttdörfer schluchzte laut.
Als Barbara diesen Ton hörte, sah sie abermals auf. Als ihre Augen die weinende Frau erblickten, wurden sie starr; allmählich füllten sie sich mit einem brennenden Haß. Sie stand auf. Und diese schrecklichen, starren, hassenden Augen auf die erbebende Frau gerichtet, stand sie sekundenlang, ohne sich zu rühren.
»Du!« quoll es endlich aus ihrer zerrissenen Seele herauf. »Du! Hier! Und du wagst es, an seiner Leiche zu stehen! Du! das Weib dessen, der sie mir beide erschlug!! Fort von hier –« sie hob die Hand, als hielte sie ein Racheschwert.
Margred Uttdörfer wich zurück und bedeckte das Gesicht, weil der schreckliche Blick ihr Angst einjagte.
»Jesus!« stöhnte sie. »Die Ambergerin verliert den Verstand!« Von Entsetzen gejagt, floh sie hinaus aus dem Hofe und verschwand hinter den Häusern. – Barbara hatte sie schon wieder vergessen. In stummer Verzweiflung kauerte sie auf den Steinen und streichelte immerfort das lächelnde Gesicht. Christen Almer wandte sich ab, weil er's nicht mehr ertragen konnte.
»Wenn ich der Herrgott wäre – ich könnt' nicht so grausam sein!« murmelte er.
*
Ueber dem Jungfraugipfel stand der Mond. Hell flossen seine silbernen Schleier nieder. In ihrer Umhüllung stand die hehre Königin, licht und schweigsam, als träume sie einen schönen Traum.
Sie träumte von einem Manne, stark und froh, mit lachenden Menschenaugen, der war zu ihr heraufgekommen, um Ruhe zu suchen für seine Seele. Und die königliche Jungfrau gewann den Erdensohn lieb und legte ihre Hand auf ihn, um ihn zu behalten. Da kam ein Mächtigerer daher, und sprach: er ist mein; er ist gekommen, um mich zu suchen, und siehe, ich habe mich finden lassen. Und hüllte ihn ein in seinen Sonnenmantel und ging mit ihm hinauf, höher als die Wolken gehen, und weiter als der Himmel ist. Und die weiße Königin mußt es geschehen lassen. Nun war der letzte Zipfel des Sonnenmantels verschwunden, weit draußen, jenseits der Erde; und die weiße Königin träumte ihm nach, und sehnte sich nach den himmlischen Höhen, die zu erreichen sie dem frohgemuten Erdensohn als Stufe seiner Füße hatte dienen dürfen. –
Schimmernde Silberpracht auf den Höhen, und samtblaues Dunkel im Tal. Tiefes Schweigen unter den Sternen. Friede auf Erden. –
Im Ambergerhause, vor dem Schoß einer weinenden Mutter, kniete ein vereinsamtes Weib.
Wirst schon von selber kommen, hatte Mutter Marthe zur Tochter gesagt, als sie sich mit ihrem Schmerz trotzig von ihr abwendete. Nun war sie da. Nun lag sie da auf ihren Knieen, und schüttete den ganzen Jammer ihres stolzen, stummen Herzens aus.
»Ich kann nicht weiterleben, Mutter! Hilf mir zum Sterben!« Mutter Marthe legte die zitternde Hand auf ihres Kindes dichten Scheitel.
»So hab' ich auch gesagt und geglaubt, als sie mir deinen Vater ins Haus brachten, mit zerbrochenen Gliedern. Und ich hab' weiterleben müssen – und lebe noch heut!« Barbara Amberger schauderte.
»So gib mir eine Hoffnung, eine Kraft für das lange, öde Leben!« stöhnte sie.
»So hab' ich auch geschrien,« sagte Mutter Marthe, »und hatte nichts.«
»So gib mir einen Trost! eine Linderung für das Brennen im Herzen! eine Heilung für den Schmerz, der in mir wühlt, als hätt' ich ein wildes Tier in meinen Eingeweiden!«
»Das kann ich dir nicht geben, meine Tochter; ich nicht, und niemand!«
»Wie willst du denn, daß ich lebe!« schrie die verzweifelte Frau, »Hilf mir zum Sterben, Mutter, wenn du keine andere Hilfe hast!«
Da stand die alte Frau auf, mit zitternden Füßen.
»Komm mit, mein Kind.« Und sie führte die Tochter durch das Zimmer, in dem nur der Mondschein leuchtete. Sie führte sie an das Lager, auf dem der Tote ruhte, friedlich und lächelnd.
»Hier!« sagte sie feierlich. »Hier kniee nieder und lerne, von wannen die Hilfe kommt, die kein Mensch dir geben kann. Hier bei diesem lerne es, der den fröhlichen Glauben gehabt hat, das feste Herz und das heilige Lachen. Hier bei diesem, der ausgegangen ist, den Herrgott zu suchen, und auf dessen Gesicht geschrieben steht, daß er ihn gefunden hat.«
Wie eine Seherin sprach die einfache Alte, in tiefem Schmerz und in glaubensstarker Erfahrung. Wie aus einer andern Welt klangen ihre Worte.
Barbara Amberger kniete nieder; sie legte die brennend heißen Augen auf die kühle Hand ihres Toten. Ihr war, als bräche in ihrem Herzen ein warmer Quell auf, in dem ihr Blut und ihr Leben dahinströmte. Für einige wohltätige, barmherzige Augenblicke umdunkelten sich ihre Sinne.
Tiefes Schweigen überall –
Der Herrgott ging über die Berge.
Ende.