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Am Nachmittage verließ Rainer Amberger allein das Haus. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, seine Schwägerin ungestört zu sprechen; er hatte sie sogar gemieden. Er wollte nicht in die Gefahr kommen, nach Ulrichs Geheimnissen gefragt zu werden. Daß es zwischen den Brüdern keinen Streit gegeben habe, sagten ihr sein ruhiges, klares Gesicht und der freundschaftliche Ton zwischen den beiden. Auch Ulrich hatte sein Gleichgewicht wiedergefunden, und nur seiner Frau gegenüber das trotzig Scheue, wie immer nach solchen Nächten. –

Nun ging Rainer aus und sagte nicht wohin. Ulrich wagte ihn nicht zu fragen – er fürchtete eine ähnliche Zurechtweisung, wie er sie in der Frühe dem Bruder hatte wiederfahren lassen. Und Barbara war keine Fragerin. Trotz Ulrich, gehörte sie durchaus nicht zu denen, die alles wissen wollen.

Als er mehrere Stunden später wiederkam, fand er die Geschwister im Hausgärtchen. Barbara hackte die Bohnen, und Ulrich band den Kürbis am Zaun auf; es war, als sei nie etwas zwischen ihnen gewesen.

Mit seiner ganzen Frische, und doch mit einem Hauch von tiefem Ernst auf dem hübschen Gesicht trat Rainer vor sie hin.

»Nun ist's abgemacht,« sagte er. »Ich habe den Holderhof gekauft.«

Ulrich Amberger ließ das Arbeitsgerät fahren, freute sich laut und herzlich und wünschte dem Bruder Glück und alles Gute zu seinem Unternehmen. Barbara sagte lange gar nichts. Die Hände über den hölzernen Stiel der Hacke gelegt, blickte sie über die grünen Hänge empor zum Holderhof, am Rande des Waldes.

Eine gute Viertelstunde hatte man dahin zu steigen, länger nicht. Da oben würde er nun wohnen, und in jeder Not würde sie zu ihm hinlaufen können. Der Gedanke gab ihr eine freudige Beruhigung, denn daß noch Not kommen würde – viel Not – das war ihr gewiß.

»Es ist gut, daß du hier bleibst,« sprach sie mit nachdrücklichem Ernst. Er nickte ihr freundlich zu; er verstand, was sie meinte.

Die Liebe zur Heimat war es, die ihm den Wunsch erweckt hatte, sich hier ein Heim zu gründen. Die Liebe zum Bruder hatte beigetragen, den Wunsch zum Entschluß werden zu lassen. –

Abends kam der Holderhofbauer herunter, um mit den Brüdern das Geschäftliche abzumachen. Die drei Männer saßen in der Stube beieinander, rechneten und zählten und vereinbarten alles.

Der Holderhofbauer hatte eine reiche Erbtochter aus dem Lütschental geheiratet, die ihm das elterliche Anwesen zubrachte. Nun war der Vater gestorben und er sollte das Gut übernehmen. Da schien es ihm ratsam, den kleinen Hof im Grindelwald aufzugeben, und er trennte sich leichten Herzens von ihm, um des fetteren Besitzes willen. Um St. Bartholomäi wollte er auf und hinunter. Dann konnte der Rainer Einzug halten. Den Hausrat und das Hofgerät hatte er zum Teil mit erworben, den Knecht übernahm er auch. So konnte er sich nur eben hineinsetzen. Für das etwa noch Fehlende an Geschirr und Leinenzeug, sowie für eine ordentliche Magd würde Barbara sorgen müssen.

»Nun fehlt euch nur noch die Frau,« sagte der Holderhofbauer, als sie soweit gekommen waren. »Dann könnt' ihr droben hausen wie ein kleiner König in seinem wohlversehenen Reich!« Aber der Rainer tat einen bedenklichen Zug aus der kurzen Pfeife, und meinte:

»Das will nicht übereilt sein. Mit der Zeit, wenn's sein soll, findet sich schon die Rechte.« –

Anderen Tages gingen sie nach Burglauenen aufs Gericht, um den Kauf in die Akten eintragen zu lassen. Am selbigen Tage kam des Uttdörfers Frau auf Besuch zur Barbara.

Die saß vor der Haustür auf den Steinstufen, putzte grünen Blattsalat zum Abendgericht und machte ein erstauntes Gesicht, als sie die Gred' auf dem Wiesensteige heraufkommen sah.

»Grüß euch, Nachbarin!« rief sie. »Habt euch lang nicht sehen lassen.« Sie stand auf, hielt den Napf voll grüner Blätter mit der einen Hand in die Hüfte gestemmt und streckte die andre zum Willkommen aus.

»Dachte, ihr würdet einmal bei mir vorsprechen,« entgegnete die Frau. »Aber da möcht' ich vergebens warten –«

Barbara antwortete darauf nicht, sondern nötigte ihren Gast auf die Bank, wo sie ihre Beschäftigung gelassen fortsetzte.

Margred Uttdörfer war klein und mager; fast zu zierlich für eine Oberland-Bäuerin. Ihr schmales blasses Gesicht sah noch jung, fast kindlich aus, trotz des wehmütigen Blicks ihrer blauen Augen und trotz der feinen Kummerfältchen um Mund und Stirn. Es war etwas Unfertiges und Bedrücktes an ihr; so, als ob sie immerfort in heimlicher Angst sei, aus der sie sich nicht zu helfen wisse.

»Habt ihr was besonderes, das euch heraufführt?« fragte Barbara, da die Uttdörferin in stummen Sinnen neben ihr saß.

»Was besonderes – nein; nur daß es manchmal gar so einsam ist –« dabei sah sie sehnsüchtig in die Ferne.

»Ihr habt doch Arbeit genug, mein' ich,« entgegnete Barbara fast hart.

»Ich könnt' sie haben, ja, und manchmal hab' ich sie auch. Aber für gewöhnlich – der Anselm liebt's nicht, daß ich die grobe Arbeit tu, dafür sind die Mägde da, sagt er.«

»Nun ja – ihr habt's Geld, euch zu halten so viel ihr wollt!«

»'s Geld macht nicht glücklich, Ambergerin; ich denk', ihr solltet das wissen. Ihr seid auch glücklich gewesen ohnedem, damals als ihr noch Spitzen verkauftet an die Fremden!«

»'s Geld allein nicht – nein gewiß nicht!« Barbara fühlte allemal eine leise Rührung, wenn sie an jene Zeit dachte. Und Gred' fuhr fort:

»Manchesmal, wenn ich vorbeigekommen bin an der Ecke, wo ihr saßt und immer eifrig die Hölzel durcheinander warft, daß sie lustig klapperten, hab' ich euch euer glückliches Gesicht geneidet!«

»Was hinderte denn euch, glücklich zu sein – damals?« Barbara legte die Hände, die an den Blättern zupften, auf den Schüsselrand und sah die blasse Frau scharf an. Gred' schlug die Augen nieder, wodurch sie noch elender und trauriger aussah und errötete ein ganz klein wenig.

»Es war damals, als ich den Anselm nicht haben sollte,« sagte sie sehr leise, etwas unsicher. Barbara dachte an etwas – –

»Ihr hättet nur damals schon arbeiten sollen,« sprach sie dann und fing wieder an zu zupfen. »Arbeit macht den Kopf klar und das Herz gesund. Mein Gesicht wär damals am End' auch weniger glücklich gewesen, wenn nicht meine Händ' so fleißig hätten arbeiten müssen!« Gred' schüttelte den Kopf.

»Arbeit allein macht auch nicht glücklich,« sagte sie eigensinnig.

»Ja, Frau, was macht dann glücklich?!« Gred' zögerte ein wenig mit der Antwort.

»Liebe macht glücklich,« sagte sie dann leise, aber fest.

»Liebe allein tut's auch nicht,« widersprach nun Barbara ihrerseits. »Die tut viel öfter weh, als gut. Das habt ihr ja auch erfahren. Es muß von allem etwas sein.«

Darauf gab die Uttdörferin keine Antwort; und eine Weile schien es, als wolle heute zwischen den beiden Frauen keine rechte Unterhaltung zustande kommen. Barbara war mit dem Salatputzen fertig geworden, stellte die Schüssel neben sich auf die Erde und schüttelte die Schürze aus. Dann rief sie dem Alois, der mit den kleinen Geschwistern am Brunnen planschte, daß er die Schüssel ins Haus trage. Der Knabe war herzugesprungen, ergriff mit seinen strammen Aermchen den Napf, und trug ihn langsam und vorsichtig fort.

»Wie gesund schaut der Bub' aus,« sagte Margred, »und wie verständig er ist!«

»Ja, Gottlob,« entgegnete Barbara mit freudigem Mutterstolz. »Ich hab' nicht viel Müh' mit den Kindern. Es steckt eine gute Art in ihnen; das haben sie vom Vater. Mög's so bleiben!«

Margred dachte an ihre vier Buben, die einer immer unbändiger waren als der andre, die der Mutter die halbe Lebenskraft gekostet hatten und nun dafür sorgten, daß sie nie zur Ruh kam. Sie sagte etwas dergleichen, und Barbara war sogleich mitleidig und sprach ihr Mut zu. Daß diese Kinder ihre Art auch vom Vater hatten, und daß es eine ungute Art war, davon sprach keine. Die Uttdörferin sprach überhaupt nie von ihrem Mann. Man wußte nicht, ob sie ihn noch liebte oder nicht; nur, daß er sie schlecht behandelte und daß sie immer erbärmlicher wurde, das wußte jeder. Weil sie es aber selbst nie aussprach, überhaupt still für sich hin war, kümmerte man sich weiter nicht darum.

»Bei euch ist ja jetzt der Rainer,« sagte sie plötzlich und spielte zerstreut mit dem blanken Geschnür ihres Mieders.

»Ja, schon lange,« entgegnete Barbara.

»So – ja, ich hab's schon sagen hören. Bei uns hat er sich noch nicht sehen lassen.«

»Habt ihr ihn erwartet?«

»Erwartet grad' nicht. Nur, wo er so lang fort war, mein' ich, hätt' er uns einen Gutentag sagen können, so gut wie allen andern im Dorf!« Sie sah fortgesetzt in ihren Schoß, während sie sprach.

»Bei allen ist er nicht gewesen,« entgegnete Barbara. »Mit eurem Manne hat er ja wohl nie sonderlich gestanden; das sind alte Geschichten, sagt der Rainer.«

Margred blickte flüchtig auf, es lag ein Schreck in ihren Augen.

»Was hat er euch erzählt davon?«

»Nichts weiter, als daß er und der Uttdörfer niemalen gut Freund gewesen seien; als kleine Buben schon nicht,« entgegnete Barbara gleichmütig. »Das kommt ja vor,« fügte sie begütigend hinzu.

»Ja, freilich kommt's vor –« Margred strich die breite Schürze glatt und schluckte ein paarmal.

»Wie schaut er denn jetzt aus, der Rainer?« fragte sie.

»Braun und männlich schaut er aus; ein schöner Mann ist er zu nennen. Der Ulrich sagt, sehr geändert hätt' er sich nicht gegen früher, nur daß er eben ein Mann geworden ist.« Barbara hatte mit warmer Betonung gesprochen, und die andre sah lächelnd zu ihr auf. Das Lächeln stand ihr gut.

»Ist er noch alleweil fröhlich, wie früher?« forschte sie weiter.

»Fröhlich – ja; und doch ernst.«

»Er war so ein Sonnenmensch –« sagte die Uttdörferin vor sich hin, mit einem wehmütigen Ausdruck. Barbara wunderte diese Bezeichnung; sie sah die Frau nachdenklich an und hatte ihre besonderen Gedanken dabei.

»Ist's wahr, daß er den Holderhof kaufen wird?« hub Margred wieder zu fragen an.

»Er hat ihn schon gekauft. Sie sind heut hinunter aufs Amt, um alles richtig zu machen, der Holderbauer, Ulrich und der Rainer.«

»So wird er also immer hier bleiben?«

»Freilich,« bestätigte Barbara.

Sekundenlang behielt Margred noch den wehmütig sinnenden Blick. Dann war's, als schüttle sie etwas von sich ab. Und dann fing sie an zu reden, ein wenig gewaltsam – vom Wetter, vom Vieh, vom großen Markt zu Interlaken am Mathäitage, zu dem das Bergvolk von weit und breit zusammenströmte, um den Bedarf für den langen Winter einzukaufen.

»Ihr kommt doch auch hinunter, Ambergerin?«

»Glaub's kaum,« erwiderte Barbara stirnrunzelnd. »Vielleicht, daß der Uli geht, wegen dem Vieh. Ich werd's kaum von nöten haben.«

»Ich geh vielleicht mit hinunter, diesmal. Ich hätt' mich auf eure Gesellschaft gefreut, vielleicht überlegt ihrs noch?«

Dann stand sie auf und verabschiedete sich. Sie hatte nie viel Ruh. Sie warf im Gehen einen langen Blick auf die Haustür, als hätte sie sich gefreut, jemanden dort heraustreten zu sehen. Dann ging sie bergab, schnell und geräuschlos.

Barbara sah ihr nach, ohne eigentlich an sie zu denken. Ihre letzte Rede hatte ihr trübe Gedanken gemacht. Was sollte sie auf dem Markt in Interlaken – sie hatte ja kein Geld. Das Bißchen, was der Uli ihr dann und wann gegeben hatte in letzter Zeit, zuletzt heute früh, das schmolzen die täglichen Notwendigkeiten fort, eh' sich's ansammelte, so sparsam sie sich auch einrichtete. Er hielt sie knapp; aber sie war froh, wenn sie nur keine Schulden hatte, und fragte nicht, woher es kam, wenn einmal ein Silberstück für sie abfiel.

Aber noch ein anderer Gedanke beunruhigte sie: der Uttdörfer würde auch in Interlaken sein; er würde ihr den Mann verführen, wie letzthin im Frühjahr. Und wenn der Uli wieder schwach war, und wieder Unglück hatte – nein, es durfte nicht sein. Es mußte verhindert werden. Wie – das würde sie mit dem Rainer besprechen. Der Rainer würde einen Rat wissen.

Dann fiel ihr wieder ein, was Margred von ihm gesagt hatte: daß er so ein Sonnenmensch gewesen sei. Hatte sie ihn so genau gekannt? Es mußte etwas dahinterstecken – wo, wie und was, darüber war sich die Barbara nicht im klaren. Aber aller weiblichen Neugier zum Trotz dachte sie nicht weiter darüber nach.

*

Vierzehn Tage noch blieb Rainer Amberger als Gast unter dem Dache seines Bruders; dann bezog er den Holderhof und nahm sein Eigentum in Besitz.

Während dieser Zeit ging Ulrich nicht ins Wirtshaus, und in seinem Hofe war eine friedliche Stimmung. Draußen war mehrtägiges Regenwetter eingetreten; man war viel im Zimmer; Barbara stellte zusammen, was der Schwager im Haushalt bedürfe und womit sie ihm etwa aushelfen könne, bis das Nötige beschafft sei; man sprach von der Zukunft und es schien, als sei sie hell und freundlich für einen jeden. Nur, daß es über Barbaras Gesicht manchmal hinzog wie Wolken über den Sommerhimmel.

Rainer fand keine Veranlassung mehr, mit dem Bruder über sein gefährliches Treiben zu reden. Er wollt' es nicht übereilen; nicht etwa gar einen Streit vom Zaun brechen; denn das hatte er schon gemerkt: der Uli war sehr empfindlich in dem Punkt. Und er blieb ja nun dauernd hier – da konnte er abwarten und beobachten.

An dem Tage, an dem Rainers wenige Habseligkeiten aus dem Amberger Hause nach dem Holderhof hinaufgeschafft wurden, war seinen Gastgebern fast weh zu Sinn. Sie hatten sich so eingelebt mit ihm, seine frohe Laune hatte ihnen so gar gut getan. Und wenn er auch ganz in der Nähe blieb – es war doch anders; er war nicht mehr jede Stunde bei ihnen, er hatte seine eigne, ihn beschäftigende und ausfüllende Arbeit; das enge Miteinanderleben mußte aufhören. Es dünkte ihnen, daß sein Fehlen fortan eine dauernde Lücke geben müsse, und das Zimmer auf der Stiege, das immer unbewohnt gewesen war, bis vor sechs Wochen Rainer es bezogen hatte, dünkte sie nun zum erstenmale leer. Um den Abschied weniger fühlbar zu machen, begleiteten sie ihn beide hinauf in sein neues Heim, wo Barbara ihm das erste Mittagessen kochen wollte. Der Alois bettelte solange, bis er die Erlaubnis erhielt, mitzukommen, während die beiden Kleinen bei der Magd zurückgelassen wurden.

Um die elfte Stunde machten sie sich auf den Weg; gleich hinter dem Hause auf Wiesenpfaden zwischen hölzernen Zäunen steil bergan. Rainer, mit dem Buben an der Hand, ging voraus. Er war in ernster, fast bewegter Stimmung. Er begann heut einen neuen Lebensabschnitt; und tat er es auch mit Lust und Mut, und unter den gesichertesten Verhältnissen, so machte doch eine Rührung, über die er sich nicht völlig Rechenschaft geben konnte, sein bewegliches Herz schwellen und seinen Mund stumm. Es war, als schließe er einen heiligen Bund mit der heimatlichen Erde. – Um so fröhlicher plauderte Alois.

»Gelt, Ohm Rainer, ich darf dich besuchen kommen auf deinem Hof? Und ist nur gut, daß ich heut den Weg kennen lerne; dann kann ich ein andermal allein hinaus! Möcht' nicht immer jemand Zeit haben, mich zu begleiten!«

»Freilich, Bub,« sagte der Mann freundlich, aus seinen ernsten Gedanken heraus. »Komm schon, so oft du magst – und so oft's die Mutter erlaubt. Sollst's gut haben bei mir!«

Der Holderhof war sehr klein und bescheiden im Vergleich zu dem Amberger Erbgut. Aber die Gebäude waren gut erhalten, der Hof sauber und ordentlich, wozu schon der Rainer selbst ein gut Teil beigetragen hatte; und im Stalle stand ein ansehnliches Vieh, das mit verkauft worden war, und jetzt auf der Grindelalm an der großen Scheidegg weidete, an deren Nutzung der Holderhof von jeher einen Anteil hatte. – Die Wiesen auf dem Hertenbühl brachten ein gutes Gras, und das Waldstück lieferte Holz und Streu. Zum Schätzesammeln war's nicht; aber zum bequemen Auskommen, wenn man arbeitsam und ordentlich war. Und daran würde es Rainer nicht fehlen lassen.

Es sah noch kahl aus im Innern des Holzhauses und mutete die Eintretenden frostig an, trotz der dumpfen, ungelüfteten Sommerhitze. Barbara öffnete schnell ein Fenster, daß die reine, laue Luft hereinströmte, und stellte einen Strauß weißer Sternblumen und gelber Arnika, den sie im Heraufkommen an den Wiesenrändern gesammelt hatte, in einem irdenen Kruge auf den Tisch. Da sah es gleich anders aus. Ulrich lobte seine Frau, die darüber mädchenhaft errötete und sagte zum Rainer:

»Such' dir auch bald so Eine.« –

Sie blieben mehrere Stunden bei ihm; verzehrten, was Barbara ihnen kochte, und gingen auf dem Hofe hin und her, ratschlagend und Umschau haltend, während drinnen die Frau noch hie und da eine pflegende Hand anlegte, und der von ihr gedungenen Magd nützliche Anweisungen gab.

Dann nahmen sie Abschied voneinander, mit vielen guten Wünschen und dem Versprechen, gute Freundschaft zu halten. Ulrich und Barbara mit dem Knaben verließen den Hof. Rainer blieb allein zurück. An den Zaun gelehnt, sah er ihnen zu, wie sie abwärts steigend, sich immer weiter von ihm entfernten.

Sie waren noch jetzt wie ein paar Liebesleute, wenn sie einen guten Tag hatten; namentlich der Ulrich sah seine Frau an mit glänzenden Augen wie ein verliebter junger Bursche; er hatte ja auch alle Ursache dazu. Es kam dem Rainer ungeheuerlich vor, daß sich über diese Liebe ein Schatten legen – ein Wurm in ihr entstanden sein sollte, der das Glück zernagen und den häuslichen Frieden vergiften möchte. –

Um die Feierabendstunde desselben Tages schlenderte Ulrich Amberger mißmutig über seinen Hof. Er wußte nichts mit sich anzufangen; er langweilte sich; Barbara war geschäftig und schweigsam. Rainer, der sonst immer ein Wort zu reden wußte, der keine Langeweile und keine schlechte Laune aufkommen ließ, – Rainer war nicht da. Zu ihm hinlaufen konnt' er doch nicht schon wieder; und daß Rainer herunterkommen würd', gleich am ersten Abend, war nicht wahrscheinlich. – Sonst war er doch auch allein gewesen, und hatt' es nicht empfunden. Aber das macht die Gewöhnung, die Verwöhnung!

Barbara merkte gleich, daß ihm etwas im Kopfe stecke, und gleich waren wieder ihre Befürchtungen da, und die Falte zwischen den Brauen.

»Was gibt's denn, Uli, daß d' so ein lamentables Gesicht aufsetzt?« fragte sie immerhin noch freundlich.

»Ich kann mich nicht daran gewöhnen, daß wir wieder allein sind,« sagte er. Sie sah ihn forschend an, und meinte:

»Ja – mir fehlt auch etwas. Aber das ist nun nicht anders.«

»Ich möcht' ein wenig ausgehen, um mir die Zeit zu vertreiben,« sagte er nach einer Weile in gleichgiltigem Ton, und guckte in den Himmel dabei. So sah er nicht das Verfinstern in den Augen seiner Frau.

»So –« klang es herbe. »Da werd' ich noch völliger allein sein.«

»Du kannst doch auch einmal ausgehen!« rief er ein wenig ungeduldig. »Was hindert dich?« Sie zuckte die Achseln.

»Ich mag aber nicht,« sagte sie kurz und ging ins Haus.

»Sie mag nicht –« brummte Ulrich vor sich hin. »Ich seh aber nicht ein, warum ich deshalb auch nicht mögen sollt –«

Es wurde nicht mehr davon gesprochen. Aber als Barbara nach dem Abendessen, als sie in der Vorratskammer die Ueberreste weggestellt hatte, wieder ins Zimmer kam, war Ulrich nicht mehr da. Als sie vor die Haustür trat, sah sie ihn über die Wiesen hinuntergehen, in seinem guten Zeug, mit langen Schritten, als fliehe er, oder als könne er's Ziel nicht erwarten.

*

Auf das schöne, warme Sommerwetter folgte eine lange Regenzeit. Die Berge verhüllten ihre Häupter, und über ihre narbigen Leiber rieselten und rauschten zahllose Bäche und Bächlein hernieder, stürzten über steile Wände und zerstäubten auf dem grauen Fels. Täglich lauter brauste die geschwollene Lütschine, und in der Morgen- und Abendkühle stiegen dicke weiße Nebel aus ihren grauschaumigen Fluten, und krochen in den Ellernwald, der die sumpfige Niederung des alten Gletscherbettes bedeckte. Auf der einzigen Straße rieselte unaufhörlich das trübe Gewässer; es erfüllte die Rinnsteine, es unterwusch die kleinen Holzstege über den Wiesenrinnsalen. Es tropfte von den Dächern und von den Bäumen in eintönigem Fall; es klatschte auf den großen Pflastersteinen der Höfe und sammelte sich mit klapperndem Geräusch in den blechernen Gefäßen, welche die Bäuerinnen dazu unter die Traufe trugen.

Die Fremden verließen das Hochtal; von den Einwohnern ging nur hinaus, wer hinaus mußte. Still und trüb und grau die ganze Welt, und alle Tage ward's kühler.

Einer der Wenigen, die sich durch das Wetter nicht mehr oder minder verdrießen ließen, war der Rainer. In seinem derben Regenloden war er den ganzen Tag tätig, drinnen oder im Freien, wie's eben nötig war. Mehreremale machte er den zweistündigen Weg zur Grindelalm, die an derselben Bergwange gelegen, wie das Dorf und der Holderhof, aber talaufwärts, wo der Talgrund sich zur großen Scheidegg hinaufhebt, die mit Felsgeröll und Steinblöcken gekrönt, als steiler Grat das Grindelwaldtal gegen das Rosenlaui zu abgrenzt.

Abends, mit der täglich früher einbrechenden Dunkelheit, besuchte er diesen oder jenen Bekannten, oder er hatte selbst Besuch. Am liebsten ging er »nach Hause,« das war der Amberger Hof immer für ihn gewesen, und das blieb er auch. Wenn er da eintrat, regentriefend, den Bart und das ganze Gesicht voll nasser Tropfen, und schon in der Tür fröhlich lachte über das närrische Wetter, macht' es ihn wohl manchmal stutzig, daß nicht dieselbe Fröhlichkeit ihm zurückklang. Weil sie sich aber noch allemal bald einfand, legte er dem nicht viel Gewicht bei, sondern schobs auch auf das schlechte Wetter, darüber man sich am besten in guter Gesellschaft tröstet.

»Wann kommst wieder einmal zu mir, nachschauen?« fragte er einmal den Ulrich. »Ich mein' ich bin fast jeden zweiten Tag herunten, und du hast dich noch nicht ein einzigesmal bei mir sehen lassen!« Ulrich schien verlegen.

»Ja – weißt, Raini – 's Wetter war mir zu schlecht. Und in der Stub' sitzen, das können wir besser bei mir, als bei dir!«

»Du sollt'st nur öfter hinaufgehen,« sagte Barbara, ohne von ihrem Flickzeug aufzusehen. »Dann braucht'st nicht soviel über Einsamkeit klagen!« Es klang bitter und vorwurfsvoll; Rainer blickte erst sie, dann den Bruder an, und verschwieg die Frage, die sich ihm auf die Lippen drängte.

Am anderen Tage kam Ulrich aber doch nicht auf den Holderhof, und am nächstfolgenden auch nicht. Als Rainer bis zum Dunkelwerden vergeblich gewartet hatte, machte er sich auf, und stieg wieder im strömenden Regen den Berg hinunter.

Es war Samstag abend, und Barbara hatte scheuern lassen. Rainer wischte sorgfältig die nassen Stiefel auf der Strohmatte an der Haustür ab, und ging über den noch naßglänzenden Flur ins Zimmer. Barbara hantierte mit dem Hausrat, um nach dem gründlichen Reinigen alles wieder an seinen Platz zu stellen. Sie wandte sich um und sah den Eintretenden so erstaunt an, daß er lachen mußte.

»Nun – Barbara – tust ja, als trete ein Gespenst über die Schwelle!« Sie stellte den Stuhl hin, den sie gerade durch die Stube trug, und stützte sich darauf. Das Erstaunen in ihrem Gesicht erlosch, und die Falte auf der Stirn erschien.

»Wo ist denn der Uli?« fragte sie, und sah ihm finster und bang in die hellen Augen.

»Ja, den such' ich ja eben! Ich hab' den ganzen Nachmittag auf ihn gewartet, und da er nicht kam, hab' ich mir gesagt: so werd' ich halt zu ihm hinuntergehen.«

Barbara senkte den Kopf. Rainer dünkte, daß sie stöhne.

»Der Uli ist vor einer Stunde fort,« sprach sie mit schwerer, dumpfer Stimme. »Er hat mir gesagt, er werde wohl einmal zu dir hinauf müssen.«

»Und wo – meinst du – ist er nun geblieben?«

»Das fragst noch? – Ins Wirtshaus hinunter! Wohin sonst!« Rainer warf den Hut fort und tat ein paar erregte Schritte; derweil sie unbeweglich stehen blieb.

»Ist's das erstemal, daß er hinunter ist – seitdem?« fragte er dann endlich, fast zaghaft.

»Längst nicht mehr,« sagte sie. »Aber es ist das erstemal, daß er mich – belogen hat!« Er sah, wie ihr das weh tat. Aber es war nicht ihre Art, zu klagen; und Leute, die nicht klagen mögen, lassen sich auch nicht gern bedauern. Darum sagte Rainer nichts dergleichen, sondern fing am anderen Ende an.

»Du hast gewiß zuviel mit ihm gescholten, wegen der andern Male!« Sie hob den Kopf hoch, ihre Augen blitzten.

»Ich hab' dir schon einmal gesagt: ich schelte nicht. Ich bin ganz still, und ertrag's schweigend, seit ich gesehen hab', daß er nicht auf mich hört. Aber wozu das – ein Mann, der nicht einmal den Mut hat – –« sie brach ab; sie schlug einen Augenblick die Hände vors Gesicht. Dann drehte sie sich um und fuhr fort, zu räumen. »Vergib, daß d' in solche Unordnung gekommen bist,« sagte sie. »'s ist Samstag heute.«

Er hörte kaum darauf. Er verstand, was in ihr vorging, und wie sie die Lüge des Gatten kränkte. Er verstand auch, daß er jetzt nicht weiter mit ihr davon reden dürfe. So schwieg er, und überlegte.

»Ja – wie ist's dir lieber,« sagte er schließlich, »soll ich dir ein wenig Gesellschaft leisten, oder hast noch zu tun und bist müd'?« Sie drehte sich um und sah gerührt nach ihm hin.

»Bleib' schon,« sagte sie, »sollst den nassen Weg nicht umsonst gemacht haben. Ich werd's Abendbrot richten – wenn du inzwischen mit den Kindern fürlieb nehmen willst.«

Sie schickte ihm die Buben hinein, und während er mit ihnen schäkerte und scherzte, stand sie in der Küche, würgte an ihrem Schmerz, und wischte immerfort die Augen, weil sie vor der Magd die Tränen nicht weinen wollt'. Lieber wär's ihr gewesen, der Schwager wäre gegangen; dann hätt' sie sich nicht soviel Gewalt antun brauchen. Nachher aber tat seine Anwesenheit ihr doch gut. Sie fühlte sich minder verlassen und hilflos in ihren Sorgen, und seine freundliche Art machte ihr das Herz, das sich in Aerger und Kummer so schnell verhärtete, wieder weich. Als sie gegessen hatten, und er nun gehen wollte, bat sie ihn, noch ein wenig zu verziehen. Sie ließ abräumen, und schickte die Kinder in die Kammer. Sie drückte die Tür fest zu und setzte sich ihm gegenüber an den großen Tisch.

»So, Rainer – nun hätt' ich noch eine Bitte.«

»Wenn die Erfüllung bei mir steht, soll's nicht daran fehlen!«

Sie legte die Arme auf die hölzerne Platte und sah auf ihre ineinandergelegten Hände nieder.

»Gehst du auf den Markt nach Interlaken?« fragte sie.

»Ich glaub's kaum; ich hab' nichts zu handeln fürs erste.«

»Aber du könnt'st es doch ums Vergnügen tun wollen!«

»Ich bin genug in der Welt umhergekommen all diese Zeit; ich sehn' mich noch nicht nach Abwechslung. – Sag's nur frei heraus,« fuhr er fort, als sie den Kopf immer mehr hängen ließ. »Du möcht'st gern, daß ich hingeh', weil der Uli hingeht; gelt?«

»Ja, Rainer,« atmete sie auf. »Aber ich fürcht', du wirst mir's abschlagen, denn der Uttdörfer geht auch, und wenn sie denselben Weg gehen, sind sie nicht von einander zu trennen.«

»Wenn ich eine Pflicht hab', wird der Uttdörfer mich nicht hindern, sie zu erfüllen,« sagte Rainer stolz. »Und wenn ich mit ihm um den Uli kämpfen müßt – nun, wir werden ja sehen, für wen der Uli sich entscheidet!«

»Erwart' dir nicht zu viel,« sagte die Frau mit einem trüben Seufzer. »Ich fürcht', der Versucher vermag mehr über ihn, als die Bruderlieb'!«

»Nicht vor der Zeit verzagen, Schwägerin! – Also wenn das deine Bitt' war, daß ich den Uli begleiten soll zum Herbstmarkt, so ist's abgemacht, daß ich mitgeh'. Ich werd versuchen, ihn vor schlechter Gesellschaft zu hüten. Versprechen kann ich dir nichts; das ist eine schwere Aufgabe, die geschickt angefangen sein will. Vorher aber werd' ich noch einmal mit dem Bruder reden.«

Draußen hatte sich ein Wind aufgemacht. Sie hörten ihn plötzlich ums Haus heulen, und Rainer machte ein Fenster auf, um zu sehen, woher er blase.

Es war ein Trockenwind, der von den Seen das Tal herauffegte, die Wolken durcheinanderjagte und gegen die Berge wälzte. Der Regen hatte aufgehört, Hie und da schimmerte ein Stern, und ein Stück des Eiger sowie die breite Kuppe des Wetterhorns zeichneten sich schneeweiß gegen das düstere Grau ab. Rainer bog sich vollends zum Fenster hinaus und ein reiner, frischkalter Luftzug strömte ins Zimmer.

»Schau', Barbara, droben hat's geschneit!« rief er zu ihr. Sie kam und lehnte sich neben ihm hinaus.

»Da wird's ander Wetter geben,« meinte sie. »Wär auch gut; der lange Regen fällt einem zuletzt auf's Herz.«

»Die Sonne bleibt am Himmel, wenn sie auch schon einmal hinter dicke Wolken geht – sie muß doch endlich wieder scheinen. Vertrau' auf die Sonne – auf den lieben Vater, der sie nicht wird auslöschen lassen!« Rainer sprach es in tiefem Herzenston, und der Barbara kamen fast die Tränen. Dann sagte er ihr Gutenacht, setzte den Hut auf, und ging. Wohl kam es ihn hart an, sie in ihrem Kummer allein zu lassen – aber es war doch besser so.

Die rieselnde Eintönigkeit draußen hatte sich in ein stürmisches Brausen verwandelt, das den Mann wild anfaßte, als er vor die Tür trat, und an ihm rüttelte und zerrte, wie er langsam zu seinem Hofe hinaufstieg. Es war fast dunkel um ihn her. Die Lichter all in den Häusern glitzerten unstet hinter den feuchten Scheiben. Zwischen den Bergen brodelten und drängten die Wolken, und gaben bald hier, bald dort ein Stück Felswand frei. Von den Bäumen flogen sturmzerfetzt die ersten Blätter.

Der Wind versetzte dem Manne den Atem, so daß er stehen blieb und sich umwandte, um sich zu verschnaufen. Da sah er grad unter sich den väterlichen Hof; ganz deutlich erkannte er die schwarzen Umrisse der Gebäude. Ein einziges Licht schimmerte durch die stürmische Nacht; das Licht, bei dem Barbara weinte. Oder war sie zu stolz zum Weinen, auch wenn sie allein war?

Wie mocht' es nun in dieser Nacht, am kommenden Morgen zugehen, dort unten?

Rainer vergaß das Weitergehen; inmitten in all dem Gebraus setzte er sich auf einen Stein am Wege und verfiel in schwere Gedanken. Wie er dem Bruder helfen könne, ohne sich ihn zum Feinde zu machen, das erwog er heut ernstlicher denn je. –

Am anderen Morgen hatte der Sturm seine Arbeit getan. Die Spitzen der Berge waren frei; nur hie und da in den Schluchten und engen Einschnitten lagen noch einzelne Wolken, die den Weg über die große Scheidegg nicht hatten finden können. Und überall droben lag blendendweiß der erste Schnee, bis auf die grünen Almen herunter, daß die braunen Wände der Hütten anzuschauen waren wie die Steinblöcke, die hier und da aus dem Schnee hervorlugten. Vom blauen Himmel herunter schien die Sonne, als habe sie nicht Lust, das weiße Tuch zu dulden. Aber es war doch eine andere Sonne, und die Luft, die beruhigt und klar zwischen Himmel und Erde wehte, war auch eine andre. Die satte Schwüle des Sommers war gewichen; ein herber, kühler Hauch entströmte dem Licht und dem Atem der Erde. Es war Herbst geworden.

Rainer stand vor seinem Stall und beaufsichtigte einige kleine Ausbesserungen an Tür und Fenstern. Es konnte bald nötig werden, das Vieh einzutreiben; da mußte alles bereit sein.

Er war nicht wenig erstaunt, als plötzlich der Bruder den Hof betrat, und eilte ihm froh entgegen.

»Ja, schau, das ist g'scheit, daß du dich endlich auch einmal sehen läßt!« rief er herzlich. Ulrich nahm nur zerstreut die dargebotene Hand. Er sah bedrückt und geärgert aus.

»Ich hab' gehört, daß du gestern bei der Barbara gewesen bist – was mußt's auch grad gestern sein – und da mußt' sie natürlich erfahren, daß ich eine Ausred' gemacht habe. Nun, du kannst ja nichts dafür – aber verwünscht unangenehm ist's!«

»Ja, aber – du hätt'st dir doch die ganze Unannehmlichkeit ersparen können, wenn du die Ausred' nicht gemacht hätt'st!«

»Ich hatt' sie aber nun einmal gemacht,« sagte Ulrich Amberger unwirsch. Rainer sah ihn voll Liebe an.

»Weißt, Uli,« begann er sehr freundlich, »ich sagte dir schon einmal, es ist nicht gut, Heimlichkeiten vor der Frau zu treiben. Es ist ein gefährlicher Weg, und hat ein dunkles End' –«

»Es ist der Barbara ihre Schuld,« fuhr Ulrich in demselben unwirschen Ton fort. »Wenn sie mich meine Wege gehen läßt, ohne zu zetern –«

»Ich glaub' nicht, daß deine Frau zetert,« widersprach Rainer sehr ruhig und mit einer Bestimmtheit, die den andern stutzig machte. Dann sagte er leichthin: »Nenn's, wie du willst. Kurzum, wenn sie nicht so eine Wichtigkeit daraus machte, daß ich hie und da mal ins Wirtshaus geh', was doch ein jeder tut, so braucht ich ihr nichts vorzureden. – Hat wohl schön über mich lamentiert, gestern, gelt?«

»Sie hat nicht lamentiert,« antwortete Rainer.

»Nun also – was sonst?« Rainer sah den Bruder fest an.

»Bist du nur heraufgekommen, um mich über deine Frau auszuhorchen, oder was hat dich sonst getrieben?« Ulrich schlug verlegen die Augen nieder.

»Ich wollt' dir das nur erklären, damit du nicht schlecht von mir denkst, Raini. Es ist manchmal schwer auskommen mit den Weibsleuten –«

»Willst du nicht ein wenig bei mir eintreten?« fragte Rainer, ohne die letzten Worte zu beachten. »Ich hätt' ohnehin gern einmal geredet mit dir!«

Er ging voran und Ulrich folgte zerstreut. Sie setzten sich in die Stube an den Tisch, auf welchem noch der Krug mit den Blumen stand, die Barbara gepflückt hatte. Rainer sah diese Blumen eine ganze Weile schweigend und nachdenklich an.

Und dann redete er mit ihm.

Offen, rückhaltslos, warmherzig und brüderlich; wie es so seine Art war; wie er gar nicht anders gekonnt hätte.

Anfangs schien es, als ob Ulrich schon auffahren wolle; es kam aber nicht dazu. Irgend etwas in seinem Herzen und in den Worten des Bruders entwaffnete die zornige Regung. Er wurde beschämt und verlegen, stützte die Stirn in die Hände und ließ den Rainer reden, bis er sich ausgeredet hatte. Als er auch dann noch regungslos sitzen blieb, fürchtete Rainer fast, zuviel gesagt zu haben, und hub noch einmal an:

»Ich hoff', du bist mir nicht böse, daß ich unaufgefordert solches zu dir geredet hab'. Es ist ja nur die Lieb', die mir's eingibt; ich hab' schon manchen deinen Weg betreten sehen, der nicht mehr umgekehrt, sondern darauf in sein Unglück gerannt ist. Und vor diesem Unglück möcht' ich dich bewahren, dich und alle! Und wenn der gute Gott meiner Red' die Tür zu deinem Herzen öffnen wollt –« Er schwieg, denn Ulrich nahm die Hände vom Gesicht und sah den Bruder spöttisch an.

»An dir ist ja ein Pfaffe verloren gegangen, Rainer!« sagte er bitter. »Hast deinen Leuten da draußen auch öfter solche Predigten gehalten, wie mir, daß du so schön in der Uebung bist?«

»Es braucht keiner andern Uebung, als der Lieb',« entgegnete Rainer unbeirrt. »Die gibt dem Menschen ein, was er zu reden hat. – Und nun sei aufrichtig, wie du's immer gewesen bist, Uli, und sag' mir: Hab' ich nicht Recht?«

»Wenn's so schlimm mit mir stünd', wie du's machst, so hätt'st du freilich Recht mit deinen schönen Drohungen und Prophezeiungen. Aber wer sagt denn, daß es so schlimm steht? He? Die Barbara hat dir's gesagt, du brauchst es gar nicht zu streiten –«

»Ich streit's nicht, von wem sonst sollt' ich's wissen! wem sonst würd' ich's glauben!«

»Nun ja, und die Barbara hat dir einen Trunkenbold und Liderjahn aus mir gemacht, und wenn du solchen Weiberklagen Glauben schenkst, so kannst du mir leid tun, und ich muß dir nur sagen: Du kennst eben die Weiber nicht. Alle wollen sie einen am Gängelband führen, und wenn man ihnen nicht den Willen tut, so taugt man eben nichts!« Er war aufgesprungen und lief in höchster Erregung, die Hände in den Hosentaschen, durch die Stube. Rainer blieb sitzen wo er saß und behielt vollkommen seine Ruh' und Freundlichkeit.

»Deine Frau hat kein Böses über dich gesagt. Aber sie weiß dich in Gefahr, und fürchtet, du könnt'st darin umkommen. – Und ich weiß ja selbst, daß du einen starken Hang zum Wirtshaus hast – und ich hab' mit angesehen, wie du dein bestes Stück Herdvieh verkauft hast, um einzubringen, was du verspieltest.«

Ulrich zuckte zusammen; er wußte keine Antwort.

»Und mir scheint,« fuhr Rainer fort, »du hast dir einen Kameraden ausgesucht, bei dem es besser wäre, du folgtest seinem Locken nicht!« Ulrich lachte wegwerfend.

»Du hast mir schon einmal zu verstehen gegeben, daß du den Uttdörfer nicht magst und keine Gemeinschaft mit ihm haben willst. Das ist aber noch kein Grund für mich, ihn zu meiden, oder ihn für das leibhaftige Böse zu erachten!«

»Du wirst wissen, so gut wie ich, daß Anselm Uttdörfer von jeher einen üblen Ruf gehabt hat. Seine Lebensführung spricht nicht dagegen. Und du gehst auch nicht mit ihm aus Freundschaft, sondern weil er Macht über dich hat.«

»Macht? ich wüßte nicht wieso?« sagte Ulrich ingrimmig. Und dann blieb er dicht vor dem Bruder stehen, sah ihn finster an und sprach: »Nun will ich dir eine Red' halten, Raini. Damals auf der Bußalp hab' ich dir gesagt: was ich tu und treibe, geht dich nichts an. Ich weiß, daß das unfreundlich gesprochen war, und ich will darum heut nicht dasselbe sagen. Aber wenn dir daran gelegen ist, daß wir gute Freunde bleiben, und in Fried' und Eintracht mitsammen leben, dann red' mir nicht in meine häuslichen Angelegenheiten und hantier dich nicht als mein Seelsorger. Und wenn du und die Barbara die Köpf' zusammensteckt hinter meinem Rücken – ich sag' dir's gleich, Raini – ich möcht' das am Ende nicht vertragen. Unsere brüderliche Lieb' in Ehren – aber in so was versteh' ich keinen Spaß!«

Er sprach sehr ernst und sehr nüchtern, gar nicht heftig. Aber er konnte doch den betrübten Blick von Rainers furchtlosen, guten Augen nicht ertragen, und wandte das Gesicht ab.

»So, und nun werd' ich wieder gehen,« setzte er hinzu, als Rainer still blieb. »Wir haben uns ja wohl nichts mehr zu sagen.«

Da erhob sich der andre, ging dem langsam zur Tür sich Wendenden nach und legte ihm die Hände fest auf die Schultern.

»Doch; ich hab' dir noch etwas zu sagen.« Drehte ihn zu sich herum, sah ihm treu ins finstere Gesicht und sprach innig: »Verlier' nicht den Glauben an meine Lieb', und daß ich's gut mit dir mein', Uli! Und – mach' der Barbara keinen Auftritt, weil sie mit mir davon gesprochen hat!« Ulrich zögerte mit der Antwort. Dann sprach er abwehrend:

»Schon gut – ich glaub's ja, daß du das Beste im Sinn hast. Und was ich mit der Barbara zu tun hab', ist meine Sach'.«

Er ging, und ließ dem Rainer eine große Schwere im Herzen.

Auf dem Heimweg bewegten ihn unfrohe Gedanken. Der unfrohste von allen war die Ueberzeugung, daß Rainer recht hatte mit allem, was er sagte; daß er nicht übertrieb, wenn er meinte, daß es schlimm stand, und daß der Uttdörfer eine große Macht über ihn gewonnen habe – die gefährliche Macht des Bösen; die Ueberzeugung, daß jener als sein Bruder auch das Recht habe, so zu ihm zu reden. Aber er kämpfte gegen diese Ueberzeugung, denn sie brachte ihm eine Demütigung, gegen die sein Mannesstolz sich empörte und aufbäumte. Er wollte vor sich selbst nicht zugeben, daß er auf gefährlichem Wege sei, und vor allem sollte es ihm kein andrer, am wenigsten der jüngere Bruder vorhalten dürfen. Er war kein Kind mehr; er wußte allein, was er zu tun hatte.

Und daneben erfüllte ihn ein Groll gegen die Barbara, die in ihrer übertriebenen Aengstlichkeit und, wie er meinte, gekränkt darüber, daß er sich ihr gegenüber seine Selbständigkeit bisher bewahrt hatte, ihm den Bruder auf den Hals hetzte, um durch ihn einen Druck auf ihn auszuüben. Daß der Rainer sich dazu hergab, war ihm unbegreiflich. In trotzigem Eigensinn beschloß er, nun erst recht zu tun, was ihm beliebte, solang es ihm Spaß machte.

Vor dem Uttdörfer hatte ihn Rainer gewarnt. Aber wenn Rainer den Uttdörfer nicht leiden konnte, – warum sollte auch er, Ulrich, darum nichts mit ihm zu schaffen haben? Lieb war er ihm auch nicht, und zum Freunde würde er ihn nicht nehmen. Das hinderte aber nicht, daß er ein guter Zech- und Würfelbruder war. – Was hatte der Rainer so Tiefes gegen ihn? Sollte Barbara recht haben, daß er einmal ein Aug' auf die Margred geworfen hatte und es ihm nun nicht vergessen könnt', daß er sie ihm vorweg genommen? Dann wär's um so richtiger, daß sich nicht die ganze Familie daran beteiligte, bis es der Uttdörfer merkte, und sich womöglich noch groß tat am Wirtstisch; denn das war ihm zuzutrauen!

Unter solchen Gedanken kam Ulrich nach Hause; die Stimmung, die seit heute früh dort herrschte, machte ihn nicht weicher. Barbara war kalt und absprechend, wenn sie überhaupt den Mund auftat. Die finstere Falte war wieder zwischen ihren Augenbrauen. Es war nichts mit ihr zu machen, und er beschloß, nach, mittags baldmöglichst wieder fortzugehen; auf die Alp, zum Vieh; vielleicht auch einmal zum Uttdörfer; nun erst recht! – Vorher nahm er sich aber noch die Frau beiseite.

»Du bist nicht aufgelegt zum Sprechen,« sagte er, gereizt durch das stumme, stolze Wesen, mit dem sie ihm gegenüberstand; »du brauchst auch nicht sprechen. Aber ich sage dir ein für allemal, Bärbeli: wenn du was gegen mich auf dem Herzen hast, so sag's mir, und steck' dich nicht hinter andre. Du richt'st nichts gutes an damit!«

Sie zuckte ein wenig mit den Lippen. Sie wußte, was er meinte, und daß es nicht ausbleiben konnte, daß er darum erfuhr.

»Ich habe dir's oft genug gesagt,« entgegnete sie finster. »Du hast nicht auf mich gehört. Und der Rainer ist der Nächste dazu.«

»Ich sag' dir, du richt'st nichts gutes an!« wiederholte er drohend. »Für heut hast du mir's Zuhausebleiben verleidet,« schloß er. Sie sah ihn scheu an, eh' sie's noch recht wußte.

»Erschrick' nur nicht, du armes Lamm!« spottete er. »Ins Wirtshaus geh' ich nicht – heut wirklich nicht. Aber ich kann nicht bestimmen, wann ich wiederkomm'. Und nun sei gescheit, und gib mir einen Kuss mit auf den Weg!«

Sie nahm sich vor, es zu tun. Aber als er sich ihr näherte, wehte sie der Geruch an, der sie krank machte, der die widerwärtigsten Bilder vor ihre Seele zauberte. Sie schloß die Augen und bog sich fort.

»Ich kann dich nicht küssen!« murmelte sie. Mit einem Fluch verließ er das Zimmer.

Nun war es ihr leid. Nun fühlte sie, daß es falsch gehandelt war, daß sie ihn auf solche Weise nicht an das Haus binden, sondern ihn nur völlig hinaustreiben würde. Rainer hatte es ihr gesagt, und sie hatte es eingesehen. Wie sie sich aber überwinden und ihm nacheilen wollt', sprach er draußen mit einem Knecht, und da ging es doch nicht gut. Und dann verließ er den Hof und nahm den Knecht mit.

In stummer Verzweiflung über sich und ihn und alles begab sie sich in den Garten, nahm den Spaten und arbeitete.

 

* * *


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