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Es war der achtzehnte August im zweiundneunzigsten Jahre des Jahrhunderts.

Vom wolkenlosen Himmel strahlte die heiße Nachmittagssonne. Gydisdorf lag wie ausgestorben. Alle Männer und zum Teil auch die Frauen und Mädchen waren auf den Bergwiesen zur Heuarbeit. Die Fremden benutzten das beständig heitere Wetter zu größeren und kleineren Ausflügen. Auf der verödeten Straße machten sich die Spatzen breit und durchwühlten den aschigen Staub nach verstreuten Körnern. Die Stille lastete förmlich über dem weiten Talkessel, und die unbewegte Luft zwischen den Bergen flimmerte, wie von lauter flüssigen Gold-Atomen.

Rainer war am frühen Morgen auf die Grindelalm gegangen und noch nicht zurückgekehrt. Barbara saß daheim bei der Mutter, die einen argen Kopfschmerz hatte und im Bett liegen geblieben war. Die Kinder spielten auf den Hauswiesen. So lagerte auch über dem Hofe die sonnenschwere Stille.

Im Zimmer war's schwül. Mutter Marthe war eingenickt, und Barbara fühlte Augen und Hände schwer werden bei der Näharbeit. Um sich aufzumuntern, stand sie auf, ging leise hinaus und stellte sich unter die offne Haustür. Nichts regte sich ringsum. Nur um die leeren Ställe summten Scharen schwarzer Fliegen. Der Hund lag im Schatten des Brunnentroges und hechelte mit langheraushängender Zunge. – Barbara lehnte sich an den Türpfosten; es überkam sie eine träumerische Anwandlung; eine Sehnsucht, sie wußte nicht wonach.

Ein Brausen erklang irgendwo in den Bergen. Talaufwärts, beim letzten Gehöft, bewegten sich plötzlich die Zweige der Bäume rauschend gegeneinander. Der Nordost wehte über die große Scheideck herein in die heiße Nachmittagsstille. Nun war er auf dem Ambergerhof angelangt, blies der Frau erfrischend ins Gesicht und lüftete ihr neckisch die Schürze. Sie öffnete die trocknen Lippen und atmete ihn begierig ein. Dann folgte sie mit den Augen seinem eiligen Lauf, der die Baumkronen niedertrat.

Nun war er bei der Kirche; nun fuhr er um das Pfarrhaus; nun zauste er in den Büschen des grünen, schattigen Fremdengartens; immer talab. Nun war er beim »Bären« angelangt, dem großen, aus wetterbraunem Holz gezimmerten Gasthaus. Da fuhr er hinein in eine graue Rauchwolke, daß sie sich duckte und nach allen Seiten auseinanderfloh. Barbaras ungewisser Blick schärfte sich plötzlich. Was war das für eine Rauchwolke?

Aus dem Schornstein kam sie nicht, und von wo sie aufstieg, konnte Barbara wegen der hohen Bäume nicht erkennen. Nachdem der Wind sie flüchtig vertrieben, quollen andre Wolken nach, dunkler, drängender – ganze Massen von zähem, dickem Qualm. Barbaras Gesicht wurde immer aufmerksamer.

Da – ein dumpfes Murren wie ein ferner Donner – dann ein Knall, als entlüde sich eine Kanone. Ans dem Dache des Bären schoß eine Feuersäule und reckte sich prasselnd himmelwärts.

Barbara fuhr auf, und stand dann eine Weile wie erstarrt. Sie hörte schreien und rufen im Dorf. Wer noch in den Häusern war, stürzte heraus auf die Straße. Und das Feuer wuchs. Der Wind duckte die Flammen nieder, daß sie nachher um so toller aufloderten. Er riß sie auf die Nachbardächer und schleuderte brennende Bündel wie Zündstoff umher.

Ueber die Wiesen herunter stürmte der Alois mit angstentstelltem Gesicht; die Kleinen folgten schreiend. Das brachte Barbara aus ihrem Entsetzen zu sich. Sie nahm Mareili auf den Arm, und versuchte die Knaben zu beruhigen.

»Uns wird's nicht treffen – wir sind zu hoch und zu weit zurück. Aber die armen Leut'! ach Gott, die armen Leut'! Und die Männer all nicht daheim –« Sie hielt inne, als fiele ihr etwas ein. Dann nahm sie den Alois beim Arm, und sah ihm fest in die Augen.

»Bub,« sagte sie, »mach' geschwind, spring' zum Holderhof, schau nach, ob der Ohm Rainer zurück ist – brauchst nicht ängstlich sein, es geschieht dir nichts!«

Zum Ohm Rainer wäre der Alois gelaufen und wenn er durch sieben Feuer gemußt hätte. In aufgeregter Ungeduld sprang er davon. Warum sie ihn schickte, wußte sie nicht. Sie hatte es sich so angewöhnt, bei allem immer zuerst an ihn zu denken und daß er es wissen müsse. – Dann ging sie mit den Kleinen in die Stube.

Mutter Marthe, aus ihrem Schlaf unsanft geweckt, saß im Bett, und während ihre erschrockenen Augen durchs Fenster auf die wachsende Glut herniederblickten, falteten sich ihre Hände und ihre Lippen murmelten Gebete. Barbara saß neben ihr in qualvoller Unruhe. Kein Mensch in der Nähe, den man hätte fragen können. – Endlich sprang sie auf.

»Ich kann's nimmer ertragen! Ich mein', ich müßt hinunterlaufen und helfen!«

»Jesus!« schrie die alte Frau, »du wirst doch nicht! Du wärst ganz und gar unnütz – deine Röck' würden Feuer fangen! Denk' an deine unmündigen Kinder!«

»Ich geh' ja nicht, ich weiß selbst, daß es kein Nutzen wär. Aber das müßige Zuschauen – wenn doch der Rainer käm!« schloß sie seufzend. Statt dessen kam endlich der Alois zurück, dunkelrot, mit von Schweiß klebenden Haaren.

»Ohm Rainer ist nicht da,« berichtete er atemlos. »Er ist eben von der Alm gekommen, als das Feuer anfing, und da ist er gleich weitergelaufen, um zu retten, hat er gesagt.«

Natürlich – wie konnt' sie denken, daß er wo anders sei, als da, wo es zu schaffen, zu retten und zu helfen gab! Das Herz ward ihr groß vor Stolz und vor Sorge.

»Gott – Herrgott – sei mit ihm!« –

Die Sturmglocke tönte; ihr lauter, schnell anschlagender Hilferuf füllte die Luft bis hoch hinauf zu den stillen, grünen Almen.

Von Hof zu Hof sprang das Feuer; auf den Flügeln des Windes, im Rausche der eignen, entfesselten Kraft. Ein Brausen und Donnern, wie Meeresbrandung, begleitete die ausgelassenen Flammen auf ihrem wilden Siegestanze. Von den weißen Bergen strahlte die rote Glut zurück, und die Sonne verlor ihren Schein.

An diesem Tage wurde der untere Teil des Dorfes mit all seinen Bauernhöfen und sonstigen Gebäuden in Schutt und Asche gelegt. Da im Anfang nur Frauen und alte Leute zur Hilfe waren, gab es so gut wie keine, und bis die ausgegangenen Männer heimkehrten, waren all die Holzgebäude zusammengestürzt wie Spielzeug. Verwüstet waren die Stätten, die den Reisenden Obdach gegeben; als sie von ihren fröhlichen Ausflügen heimkehrten, von weitem schon die Schrecken der lodernden Brunst gewahrend, fanden sie ihre Habseligkeiten verbrannt, oder auf den Wiesen hinter den Häusern zu unordentlichen Haufen übereinandergeworfen.

Stunde um Stunde verrann. Im Bären war das Feuer bereits erloschen; aber dorfab lohte und brauste es weiter. Zischend und prasselnd verdorrten die aus allen Brunnen und Quellen geschleuderten Wasserstrahlen. Schwere Rauchwolken wälzten sich mit dem Winde talwärts, krochen im Walde hinauf und trübten den strahlenden Himmel. Die wabernde Glut durchhitzte die Luft bis hinan zu den höhergelegenen Höfen.

Für Barbara dehnten sich die Stunden zu marternder Länge. Trotz der Mutter Bitten wäre sie wohl doch hinuntergeeilt, dahin wo alles zusammenströmte. Aber die Magd war ihr, von Neugier getrieben, davongelaufen, der Knecht war auch nicht daheim. Sie konnte nicht die alte Frau und die kleinen Kinder allein lassen. Und auch wenn sie gekonnt hätte – es hielt sie irgend ein Unklares davon zurück. – Sie stand bald am Fenster, bald vor der Haustür; das Brausen und Krachen, Rufen, Schreien und Jammern scholl zu ihr herauf; wie ein feuriger Sturm wallte es über den Dächern, über den Häuptern der rettenden und verlierenden Menschen. Schon oft hat bei solchen Gelegenheiten einer sein Leben gelassen, um ein anderes Leben zu retten; schon oft, der Gefahr nicht achtend, ist er ein Opfer der Flammen geworden, deren Raub zu schmälern er sich mühte, voll Mannesmut und Christenliebe.

Ein Frieren überlief die Frau, trotz all der Hitze. Wo blieb der Rainer? – Kam denn niemand, ihr eine Kunde zu bringen von der Stätte des Verderbens? – Ihr Hof lag weit ab, und keiner hatte Zeit.

Doch, da kam jemand von der Straße herauf. Margred Uttdörfer war es; sie winkte Barbara schon von weitem zu, wie um sie zu ermutigen. Sie war auf der Brandstätte gewesen, und konnte nicht genug Schreckliches erzählen von der Verwüstung, von dem Jammer all der Obdachlosen. Sie war so erschöpft von der Anstrengung und vom schnellen Laufen, daß sie sich setzen mußte. Barbara blieb vor ihr stehen mit gekreuzten Armen, hörte ihr begierig zu, fragte aber nichts.

»Und übrigens – der Rainer lebt!« rief sie plötzlich. Barbara zuckte zusammen.

»Warum – war er denn in Gefahr?« fragte sie gepreßt.

»In Gefahr? Der? Man meint, für den gäb' es keine Gefahr. Allen voran ist er bei dem Löschen, in die brennenden Häuser hat man ihn stürzen sehen, um den Leuten ihre Habe zu retten. Alle zeigen auf ihn und sprechen von ihm!« Margreds sanfte Augen leuchteten ordentlich, als sie das sagte. »Ich hab' gemeint, ihr müßtet euch um ihn ängstigen; aber wenn ihr mit angesehen hättet, mit welcher Lust und mit welcher Kraft er losgeht, wie ein Soldat auf den Feind – freuen würdet ihr euch! Warum seid ihr nicht hinuntergegangen?«

»Die Mutter ist krank und die Magd ist fort« sagte Barbara.

»Krank? Doch nicht schlimm?«

»Nein – nur ihre bösen Kopfschmerzen.«

»So laßt mich hierbleiben, indes ihr hinuntergeht!« rief Margred gefällig. »Bleibt solang' ihr wollt – ich versäum' nichts, und ich werd' die Kranke gut versorgen!« Aber Barbara kopfschüttelte.

»Ich dank' euch. Ich geh' nicht hinunter. Helfen kann unsereins nicht – so mag ich nicht müßig die Greuel anschauen.«

Dabei blieb sie. Margred fand sie einsilbig und wenig zum Sprechen aufgelegt, und verließ sie bald wieder. Barbara sah ihr nach mit einem schweren Blick.

»Wie ihre Augen leuchteten –« sprach sie bei sich selber. »Und ich – ich vergeh' vor Angst. Aber sie ist ja immer größer, als ich. –«

Und wieder verging eine Stunde. Barbara hatte den Tisch gedeckt und die Abendsuppe aufgetragen, setzte ihre Kinder auf die Holzschemel und tat ihnen auf. Mutter Marthe, der gegen Abend etwas wohler war, saß im Bett und löffelte einen Tee. Da klang draußen ein schneller Schritt, und eh' man ihn noch recht gehört, ward eilig die Tür aufgerissen und Rainer trat ein.

Ohne Hut, ohne Stock; berußt und beschmutzt von oben bis unten; an der rechten Seite war ihm der Aermel und die Hose zerfetzt von Brandlöchern, und die Haare an der Schläfe weggesengt. In dem rauchgeschwärzten Gesicht strahlten seine Augen, als käme er von einer Hochzeitsfeier. – Barbara schüttete die Suppe, die sie eben dem Mareili auf den Teller füllen wollte, daneben aufs Tischtuch.

»Raini!« schrie sie auf. All ihre befreite Angst lag in dem Schrei. Sie wurde ganz blaß und fing an zu zittern. Am liebsten hätte sie es dem Alois gleich getan, der von seinem Stuhl herunter, mit einem wahren Freudengeheul dem Manne an den Hals sprang. – Aber der Mann hatte heut nicht die gewohnte Aufmerksamkeit für den Knaben, sondern wehrte ihn sanft ab. Seine strahlenden Augen ruhten auf Barbara, und es trat ein feuchter Schimmer hinein. Raini – so hatte sie noch nie gesagt. Und wie sie dastand – grad als wollte sie zu weinen anfangen. Er ging auf sie zu und hielt ihr die Hand hin.

»Magst sie nehmen –« sagte er mit unsicherer Stimme, »sie ist nicht sauber –« Sie nahm sie und drückte sie heftig. Sprechen konnte sie nicht.

»Ich dacht' mir,« sagte er dann mit der alten frohen Frische, »ihr würdet hier oben in einer Unruh' sitzen, und da wollt' ich schnell heraufspringen und euch einen Bescheid bringen. Und dann, Bärbeli, weißt, gib mir was zu essen! Ich bin völlig leer im Magen, hab' seit heut' früh nichts gehabt!« Sie lief davon, als sei sie froh, einmal hinauszukommen; er folgte ihr mit nachsinnendem Blick. Dann ging er zur Mutter Marthe, die das schweigend abgewartet hatte. Er erzählte ihr, die schlimmste Gewalt des Feuers sei nun gebrochen; nur auf einem Hofe brenne es noch; aber die Arbeit sei noch längst nicht zu Ende; es gälte, die schwelende Glut vollends zu ersticken, und all die heimlos Gewordenen zu bergen. – Derweil ging und kam die Bäuerin mit allerlei Eß- und Trinkbarem, schweigend, geräuschlos, geschwinde, und dabei wischte sie sich ein paarmal verstohlen die Augen. Rainer sah das nicht, denn er stand am Bett und kehrte der Stube den Rücken. Aber Mutter Marthes Augen folgten der Tochter mit kluger Aufmerksamkeit. – Nun war alles bereit und Barbara rief ihn.

»Da möcht' ich mich schnell noch ein wenig säubern,« rief er; »der Rauch beißt mir in die Augen, und was ich anfasse, wird schwarz.«

Nachdem er das in der Küche getan, setzte er sich mit an den Tisch und aß mit gesundem Hunger, dessen erste Stillung ihn vorerst schweigsam machte. Barbara saß neben ihm und sah ihn an, von oben bis unten, als sei sie in Bewunderung völlig versunken. Plötzlich strich sie leise mit der Hand über den verbrannten Aermel.

»Raini – was hast du angegeben!« sagte sie, halb Scherz, halb nachträgliche Sorge in Blick und Stimme. Er lachte.

»Ja – Bärbeli – wenn man gegen das Feuer kämpft, so darf man das Gebranntwerden nicht scheuen!«

»Ich hab' gehört, wie du's getrieben hast,« fuhr sie fort, bewundernd und vorwurfsvoll. »Die Uttdörferin war bei mir; sie hat dich gesehen.« Er wurde ein wenig rot.

»Ich habe nicht mehr und nicht Besseres getan, als jeder andre.« Dann erzählte er von den Rettungsarbeiten, und wie glücklich man sei, daß kein Menschenleben zu Schaden gekommen. »Gerät und Hausrat dafür umsomehr, denn die meisten Höfe waren ohne einen Menschen, als es über sie hereinbrach.«

Barbara hörte seinem Erzählen aufmerksam zu. Wie schön mußte es sein, so für die Rettung andrer zu arbeiten! Alle Kräfte anzustrengen für einen guten Zweck! Er sprach nicht von sich selber; sagte nie: das hab' ich getan, da hatte ich den Mut; sondern immer nur: wir. Und doch hätte sie gewußt, auch ohne Margred Uttdörfer, daß er mehr getan hatte, als alle andern.

»Raini,« sagte sie, weich wie ein Kind, »wenn du so in der Gefahr warst – wenn du so hineinstiegst in die Flammen – hast du denn nicht ein einzigesmal an uns gedacht, und was aus uns werden sollt', wenn du nicht wieder herauskämst?«

»An so was denkt man nicht in solchem Augenblick,« sagte Rainer. »Da ist die ganze Seele dabei und das ganze Herz.« Barbara schwieg.

»Einmal,« hub der Rainer leiser wieder an, »als ich in einem brennenden Hause stand, und ein Kind suchte, das dringeblieben sein sollte – es war dem Lechner sein Jüngstes – ich fand es nicht, und das Feuer griff immer mehr um sich – da hab' ich an dich gedacht und daß es mir leid sein würde, wenn mein Leben heut zu Ende gehen müßte; und da wollt' ich das Suchen aufgeben und mich in Sicherheit bringen und sagte mir: wer weiß, vielleicht ist das Kind gar nicht drinnen. Und ich stand schon an der Tür. Da hört' ich's oben weinen – ganz deutlich. Und da sagt' ich mir: erst tu' deine Pflicht, und hernach denk' ans Glück, und wenn Gott es dir beschieden hat, so wird er es dir retten auch aus den Feuerflammen. Und da bin ich hinauf und hab's Kind heruntergeholt. Und dabei gab's die Löcher im Zeug, denn die Treppe brannte schon. Draußen hab' ich der Bäuerin das unversehrte Kind in die Arme legen dürfen, und was man dabei spürt, das ist wie eine Himmelsfreude. Und dann bin ich hier heraufgelaufen.« Barbara schwieg noch immer. Sie strich nur abermals leise mit der Hand über seinen Aermel; dann schlug sie die in Bewunderung und Bewegung glänzenden Augen nieder, und stand auf. Sie nahm einen Arm voll Geschirr und trug ihn hinaus in die Küche; setzte alles auf einen Tisch, blieb dabei stehen wie versteinert und hörte nur immer den Rainer sagen: »Wenn Gott dir das Glück beschieden hat, so wird er es dir retten, auch aus den Feuerflammen.«

Es dauerte nicht lange, so kam er ihr nach.

»Bärbeli, ich muß noch eins mit dir bereden. Eins, das mich heraufgetrieben hat, außer allem andern –« Sie sah ihn erwartungsvoll an.

»Möcht'st du nicht auch etwas tun, zur Hilf' für die armen abgebrannten Leut'?«

»Ja – wenn ich nur könnt' –«

»Du kannst schon. Hör' zu. Ich hab' den Bauern, die verschont geblieben sind, vorgeschlagen, wir müßten die Leut', die selber kein Dach mehr über sich haben, unter unsere Dächer aufnehmen, bis sie sich aus der Asche neu aufgebaut haben. Bei vielen wird's für den ganzen Winter sein müssen, denn was bis auf den Grund ausgebrannt ist, läßt sich so schnell nicht wieder aufbauen. Sie haben's zugesagt. Natürlich hab' ich das Beispiel geben müssen, weil ich den Vorschlag gemacht hatte. Gut, hab' ich gesagt, ich will den Lechnerbauer bei mir aufnehmen für den Winter, mit Weib und Kindern; und weiter hab' ich gesagt: für meine Schwägerin bürg' ich, daß sie auch eine Familie aufnimmt. Und das ist, was du tun kannst, Bärbeli. Willst du?«

Es war doch wohl mehr, als sie gedacht hatte. Eine Wolke von Unbequemlichkeiten und Unzuträglichkeiten stieg vor ihr auf; und sie selbst hatten doch knappe Auskommen in diesem Jahr. Rainer fühlte ihr Zögern, und mehr noch, er verstand es auch.

»Ich hab' dir Christen Ulmer ausgesucht,« sagte er. »Es sind ältere, ruhige Leut'. Sie haben nur eine Tochter bei sich, die für die Eltern sorgen würde so gut wie daheim, so daß du davon nicht mehr Arbeit hätt'st. Sie wollten ihre Wintervorräte in deinen Keller geben, so daß du nur den Platz zu schaffen hätt'st für die Menschen und ein paar Stück Vieh.«

Sie dachte an ihre leeren Ställe und lächelte trübe.

»Die Uttdörferin hat auch welche genommen,« fuhr Rainer fort. »Sie sind sogar schon da.«

Was Margred konnte, das konnte sie auch.

»Schick' mir, wen und soviele du willst,« sagte sie. »Jeder, den du mir bringst, soll mir ein lieber Gast in meinem Hause sein.«

»Ich dank' dir,« sagte er herzlich. »Ich muß nun wieder hinunter. Ich werd' dir die Leut' schicken, wenn ich sie dir nicht selbst bringen kann.«

Er eilte fort und sie ging hinein zur Mutter, um alles mit ihr zu bereden. – Das Zimmer auf der Stiege wurde wieder einmal gelüftet und wohnlich gemacht, und eine Bodenkammer dazu gegeben. Die Magd, die inzwischen wiedergekommen war, mußte das Vieh im Stall zusammenrücken und eine frische Streu schütten.

Mit Dunkelwerden kamen sie herauf. Betten und Kleider trugen sie auf ihrem Rücken – das einzige, was sie von allem Hausrat noch retten konnten, als sie, vom Heu heimeilend, den Hof bereits in Flammen stehen fanden; vor sich her trieben sie zwei Kühe, ein Stierkalb und ein paar Ziegen. Die Frau und das Mädchen weinten; der Mann hatte einen schweigenden Schmerz im bärtigen Gesicht.

»Der Rainer schickt uns,« sagte er zur Ambergerin, als sie ihnen auf dem Hof entgegenkam.

»Und ihr seid mir willkommen,« antwortete sie. »Soviel ich vermag, will ich tun, eure Not zu lindern und euch in eurem Unglück zu helfen.« –

So taten sich an diesem Abend viele Tore, Türen und Herzen auf für die, welche viel oder alles verloren hatten, und das Jammern und Klagen erstickte endlich in Rührungstränen und Dankesworten. Rainer Amberger führte den Lechner, seine Frau und die drei kleinen Kinder hinauf nach dem Holderhof. Er griff selbst allenthalben mit zu, sie gut unterzubringen, und die vor Hunger weinenden Kleinen satt zu machen. Er wartete, bis alle zu Bett lagen, ermattet von Kummer und Aufregung. Dann ging er noch einmal hinunter.

Die weiche dunkle Nacht lagerte sich über den Tälern; der junge Mond lugte über dem Eiger hervor, die Sterne flimmerten und im blühenden Grase zirpten die Grillen. Aus den Trümmerstätten des untern Dorfes quoll und brodelte der Rauch und kroch in schweren Schwaden das Tal hinab; wie eine graue Nebelwolke lagerte er zwischen den Bergen, und Brandgeruch füllte die Luft; der Wind war vorübergebraust; Stille war in den Wäldern. Ab und zu zuckten Feuerflammen aus dem Schutt empor und verbreiteten roten Schein; aber sie fanden keine Nahrung mehr und sanken wieder in sich zusammen; oder sie erloschen zischend unter dem von aufmerksamen Wächtern geschossenen Wasserstrahl.

Auf der Straße ging Rainer; erst mit einigen andern; dann, nachdem sie ihn verlassen, um nach Hause oder auf ihren Posten zu gehen, schlenderte er allein umher zwischen den verwüsteten Höfen, mit wachsamem Auge und bewegtem Herzen. Denn die Gewalt des Elementes, darin sich die Allmacht Gottes und die Ohnmacht des Menschen ergreifend offenbart, und das Leid so vieler hatten seine Seele erschüttert.

Bald aber hoben sich seine Gedanken hinaus über Leid und Brand und Trümmer und sein Blick suchte an dem dunklen Bergeshang die Stelle, wo der Hof seiner Väter stand; er kannte sie genau; ein Licht brannte dort noch, trotz der nächtlichen Stunde.

Der Tag, der so viele Freuden vernichtete, so viele Hoffnungen begrub, hatte ihm eine große Freude gebracht, und die Hoffnung auf ein großes Glück. Aber er verschloß beides, Freude und Hoffnung, in seiner tiefsten Brust, denn seine Zeit war noch nicht gekommen. An einen halbverkohlten Pfosten gelehnt, sah er zu den Bergen hinauf, über denen die sternengestickte Himmelsfahne hing.

»Einmal kommt über jeden Menschen das Glück,« dachte er bei sich. »Und wer schon einmal mit tausend Schmerzen hat verzichten müssen, dem schenkt es der liebe Gott um so schöner wieder! –«

Erst als der frühe Morgen die kurze Nacht wieder ablöste, ging Rainer Amberger nach Hause.

*

Niemals hatte Gydisdorf soviel Fleiß, Arbeit und Emsigkeit erlebt, als in den auf den großen Brand folgenden Wochen. Jeder tat, was er konnte, um bis zum Winter den Schaden soviel wie möglich wieder auszubessern. Der Schutt wurde geräumt, Holz und Steine herangefahren und die Unversehrten leisteten den Abgebrannten bereitwillig und brüderlich Hilfe mit Fuhren und anderen Diensten. Bald wuchsen aus den schwarzen Brandstätten die hellen Holzhäuser hervor, und schauten gar fröhlich aus zwischen den grünen Wiesen mit den herbstbunten Kirschbäumen. Wer nicht zu völlig vernichtet war und das nötige Geld hatte, kam zum Winter wieder unter Dach. Frost und Schnee stellten sich ungewöhnlich spät ein, als nehme der liebe Gott Rücksicht auf die armen Menschlein, denen er so übel mitgespielt, ohne zu sagen, warum.

Um Weihnachten konnte auch Christen Ulmer sein neu hergerichtetes Häuschen wieder beziehen. Freilich sah's kahl darin aus, denn das Hausgerät konnte nur allmählich wieder angesammelt werden. Aber es war doch ein eigenes Dach, und man brauchte der Ambergerin nicht länger zur Last liegen. Die hatte sich mit ihren Gästen so angefreundet, daß sie ihr Scheiden fast ungern sah. Die langen Herbstabende hatten sich gar gut miteinander verplaudert, und besonders Mutter Marthe hatte an Christen Almers Frau eine Alters- und Gesinnungsgefährtin gefunden, mit der sie viel in Erinnerungen lebte, und manchen Gedanken über Leben und Sterben tauschte.

Man hätte sie gern noch zum Fest oben behalten, konnt's ihnen aber hinwiederum nicht verdenken, daß sie grad die Feiertage gern im eigenen Heim verleben wollten, nun es sich ermöglichen ließ. So zogen sie fort mit allem, was sie hier geborgen hatten, und mit einem dankbaren Herzen, und der Hof dünkte den Zurückbleibenden einsam.

Am darauffolgenden Tag stieg Barbara durch den tiefen Schnee hinauf zum Holderhof; Alois stampfte neben ihr her. Sie hatte sich die späte Nachmittagsstunde ausgesucht, damit sie den Schwager sicher träfe. Vor der Haustür klopften sie den Schnee von Kleidern und Stiefeln, und Alois sprang voraus und öffnete die Tür der Stube.

Da saßen am großen Tisch Rainer und der Lechnerbauer, rauchten ihre Pfeifen, und die Bäuerin saß dabei und nähte Hemden für ihre Kinder; die beiden ältesten spielten in der Ecke am Ofen und der Kleinste schlief in einem Korbe. Die Bäuerin neigte sich eben über ihn mit ihrem frischen, rotbäckigen Gesicht, und zog ihm die Decke, die er sich abgestrampelt hatte, über die prallen Beinchen. Barbara sah auf ein Bild reinen Familienglücks, und das Herz tat ihr plötzlich weh.

Rainer war sehr erstaunt bei ihrem Eintritt.

»Grüß dich Gott, Schwägerin!« rief er herzlich. »Was führt denn dich herauf?« Sie war plötzlich verlegen durch die Anwesenheit der andern.

»Ich wollt' einmal nachschau'n, wie's bei dir steht –« sagte sie. »Du läßt dich ja so selten sehen in letzter Zeit –«

»Das macht, ich hab's Haus voll,« rief er fröhlich, und sie dachte mit einem bitteren Gefühl dagegen: und darüber vergißt er mich. Sie begrüßte die Bauersleute und mußte sich dazu setzen. Alois drängte sich an den Ohm Rainer, dem er hunderterlei zu sagen und abzufragen hatte, bis er ihn zu den andern Kindern führte und sie zum Spielen mit kleinen Holzklötzen und Bachkieseln zusammentat.

Inzwischen sprach der Lechner von seinem Unglück und von der Gastfreundschaft, die ihm und den Seinen zu teil geworden.

»Völlig bis auf den Grund vernichtet ist uns alles; wir konnten's nicht fertig schaffen vor dem Winter. Wir können's eurem Schwager nie genug danken, was er an uns tut!«

»Ja, wenn wir den Rainer nicht hätten!« fiel die Frau ein, und ihre schwarzen, muntren Augen leuchteten hell auf. »Wie ein Held hat er gearbeitet gegen das Feuer, und ein Segen ist er geworden für viele! Und ich –« fuhr sie fort, nahm den Säugling, der nicht mehr schlafen wollte, aus dem Korbe, und wiegte die warme, rosige Last auf ihren kräftigen Armen – »ich wär eine unglückliche Frau ohne ihn! Mein Kind hat er mir gerettet aus dem brennenden Hause, als keiner mehr sich hineingewagt! Im Heu war ich mit den andern, und die Magd mit den Kleinen zu Hause. Und als es anfing, hat die Dirn' den Kopf verloren, ist fortgestürzt, um uns zu holen, und als wir kamen, brannte alles, und das Kind mitten drin in den Flammen. Der Rainer hat's erfahren, und eh' ihn noch einer drum anging, ist er hinein, und hat's herausgeholt.« Sie küßte das sich sträubende Kleine mit ungestümer Zärtlichkeit, und ihre Augen hingen am Rainer und standen voll Tränen.

»Ja,« hub der Lechner, selbst gerührt, wieder an, »der Herr Pfarrer hat uns gesagt: Kinder, nächst dem Herrgott droben habt ihr's dem Holderbauer zu danken, daß kein Menschenleben verloren und das Unheil nicht noch größer geworden ist; und wir danken's ihm auch, gelt, Zenzi?«

»Bis zum letzten Ausatmen!« rief sie aus tiefstem Herzen. Da trat der Rainer dazwischen; er runzelte die Stirn.

»Tut mir die Lieb' und laßt das Reden. Ich hab' nur meine Pflicht getan.«

»Ich weiß, ihr hört's nicht gerne,« sagte der Lechner. »Aber die Ambergerin ist eine von eurer Sippe, und da lief mir der Mund über. Und wenn ihr sagt, ihr habt nur eure Pflicht getan, so habt ihr sie doch getan, wie einer, der seinen Nächsten liebt, wie sich selbst.«

»Wenn ich etwas für euch getan, so zahlt ihr mir's heim!« Rainer trat neben die Bäuerin, die mit dem Kinde auf und ab ging, und legte ihr seine braune, kräftige Hand auf die runde Schulter. »Die Zenzi arbeit't den ganzen Tag für mich; sie scheuert und putzt und kocht und wäscht – es ist grad, als hält' ich eine Hausfrau!«

Sie wurde dunkelrot über sein Lob, und obgleich sie das Gesicht senkte, sah Barbara doch die Freude darauf strahlen.

»Ich müßt' ja Schläge haben, wenn ich's nicht täte!« sagte sie leise. Barbara sah und hörte das alles schweigend mit an, und sprach kein Wort.

»Da – nehmt mir das Kind ab, damit's nicht greint,« rief Zenzi, und legte es ihr auf den Schoß. «Ich muß schnell einmal hinaus –«

Barbara sah auf das dicke Geschöpfchen nieder, das mit runden Augen sie anglotzte und mit den kurzen Fingerchen nach ihrem Miedergeschnür griff. Es war ihr wunderlich zu Mut. Sie konnt' sich nicht mehr zurechtfinden auf dem Holderhof. – Einsilbig und ohne aufzusehen beantwortete sie, was Rainer sie nach der Wirtschaft und nach der Mutter fragte. Dann kam Zenzi wieder herein, brachte einen Napf mit heißem Kaffee und einen süßen, goldbraunen Kuchen dazu.

»Trinkt,« sagte sie, und stellte es vor Barbara auf den Tisch. »Es ist kalt draußen!« Dann stopfte sie dem Alois die Hände voll Kuchen. »Ich hab' ihn selbst gebacken, er ist gut geraten!«

Barbara sah ganz verstört aus. Völlig wie seine Hausfrau geberdete sich das fremde Weib. – Sie kostete nur wenig von dem Kaffee; er schmeckte ihr nicht. Mit um so größerem Behagen schlürfte der Alois den Napf aus.

»Beim Ohm Rainer schmeckt's am besten,« sagte er befriedigt.

Nach kurzem Verweilen brach sie wieder auf. Alois fand es viel zu früh; aber sie hörte nicht auf seine und der andern Bitten, und ging ohne gesagt zu haben, weshalb sie eigentlich gekommen war.

»Ich werd' euch ein Stück bringen,« sagte Rainer. »Es muß ja schon völlig dunkel sein draußen.« Schweigend nahm sie es an.

Der Himmel war trübe und die Berge von Wolken verhüllt; es hing noch viel Schnee in der Luft. Man konnte kaum den schmal ausgetretenen Weg mit den Augen erkennen. Rainer ging neben seiner Schwägerin im Tiefen, weil der Pfad für zwei zu schmal war, und der Knabe hielt sich der Mutter auf den Fersen.

»Ich hab' dich eigentlich etwas fragen wollen, Schwager,« hub sie an. »Daß du den Weihnachtsabend mit uns verlebst. Es braucht nicht so düster sein, wie das vorige mal. Und die Mutter tät sich freuen.«

Die Antwort blieb lange aus. Gleichmäßig wühlten seine Stiefel den tiefen Schnee auf, und unter ihren Sohlen knirschte er laut.

»Ich dank' dir schön, Bärbeli. Aber diesmal muß ich wohl zu Hause bleiben.« Sie empfand einen Stich im Herzen.

»Warum?« fragte sie herb und kurz.

»Von wegen meiner Gäste.«

»Die können doch allein feiern – wie sonst – «

»Ja, aber es ist mein Haus,« sagte er ruhig. Dabei bewegte es sich ungestüm in seiner Brust und der Kopf wurde ihm heiß, trotz der Kälte. Gott wußte, wie schwer es ihm wurde, abzusagen. Es war nicht allein die Rücksicht auf seine Gäste, die ihn dazu bestimmte. Allerhand Zweifel regten sich seit einiger Zeit in seinem Herzen; Zweifel, die Barbaras Besuch heut fast zerstreut hätte, und die ihr stummes, trübes Wesen nun wieder heraufbeschworen.

Schweigend erreichten sie den Kreuzweg, an dem sie einst miteinander gestanden, als der Uttdörfer vorüberkam. Da war in seinem Herzen der häßliche Verdacht entstanden, mit dem er dem Ulrich das arglose Gemüt vergiftete. Barbara blieb plötzlich stehen, ihr Gesicht leuchtete ganz weiß aus dem dunklen Kopftuch, ihre Augen wurden starr und das Blut schien ihr zu gefrieren.

Darum! Darum! Weil der Uli dies häßliche Gerücht ersticken wollte – daß es nie wieder auflebte – darum hatte sie ihm schwören müssen. – – Lange hatte sie es vergessen gehabt. Seit dem Brandtage dachte sie wieder daran.

»Was ist dir, Bärbeli?« fragte Rainer, den ihr Stehenbleiben und Stillschweigen wunderte. Sie würgte an ihren Tränen.

»Ich mein', du kannst nun umkehren. Ich will dich nicht länger stören.« Im Dunklen suchte sein Blick den ihren.

»Bist du böse, Bärbeli, wegen meiner Absag'?«

»Nein. Du hast ja recht. Geh nur.«

Er sagte ihr gute Nacht, und dem Knaben. Seine Stimme klang bedrückt, und er wollte schnell ein Ende machen. Da, als er sich zur Umkehr wandte, klang es neben ihm:

»Rainer –« Sofort blieb er stehen.

»Was ist?«

»Rainer – weißt du noch – im Herbst vor dem Unglück mit dem Uli – wie du da einmal bei mir standest, hier an dieser Stelle –« Sie bückte sich tief und stockte.

»Was meinst du? Ich weiß es noch gar gut –«

»Da hast du mir gesagt: ich sollt' meine Augen aufheben zu den Bergen.«

»Ja, ich weiß. Und nun?«

»Damals,« sagte sie, richtete sich wieder auf und starrte in die Wolkenmassen, die über dem Tale lagen, »damals waren die Berge hell und klar. Heut aber sind sie hinter den grauen Wolken – ich seh sie nicht mehr –« Sie brach in Tränen aus und drückte die Hände gegen die Augen.

Das kam dem Manne so unerwartet, daß er völlig ratlos war. Dann, weil Worte ihm fehlten, wollte er leise den Arm um sie legen, wie damals an jenem Herbstabend. Damals hatte sie es sich gern gefallen lassen, weil es ihr gut zu tun schien. Heut, als sie es merkte, wich sie scheu vor ihm zurück. Dann faßte sie sich gewaltsam.

»Bärbeli – was ist denn?« fragte er und beugte sich über sie. Aber sie schüttelte nur stumm den Kopf.

»Gute Nacht,« sagte sie, und eilte weiter, herunter. Nicht einmal die Hand gab sie ihm noch. – Rainer stand regungslos, sah ihre dunkle Gestalt im düstern Abendgrau immer undeutlicher und endlich völlig unsichtbar werden, und seufzte tief. Dann ging er heim.

Beim Abendbrot fragte die schwarzäugige Emmerenz:

»Die Ambergerin hat wohl eine große Trauer um den Mann, daß sie so ernst und so stumm ist?« Und Rainer antwortete ruhig:

»Muß wohl. Einmal meint' ich schon, sie hätt's überwunden. Nun aber scheint's wieder aufzuleben in ihr. Die langen dunklen Abende mögen das Ihrige dazu tun.« Die junge Bäuerin machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Ich dächt', was die Ambergerin erlebt hat, könnt' sie nie wieder vergessen. Wenn ich denk', meiner würd' mir so ins Haus getragen –« sie verstummte schaudernd und sah den Lechner zärtlich an. Der drückte sie fest an sich und rief lachend:

»So würd'st du davonlaufen, um nur ja nichts zu sehen von dem Schrecklichen!«

»Ach, geh doch, du mit deinem losen Mund!« schmollte sie und drückte ihm einen Kuß darauf.

Rainer hatte die beiden beobachtet; er wurde traurig und ging hinaus; er müsse im Stall nach dem Rechten sehen, sagte er. –

Er blieb zu Weihnachten oben und ging auch vorher nicht mehr zum Ambergerhof hinunter. Ueber seine Heiterkeit war eine stille Wehmut gekommen. –

Auch bei der Barbara ging es nicht heiter zu in diesen Festtagen. Ohne die Kinder hätt' man kaum einen fröhlichen Ton vernommen. Sie ging herum mit einem finsteren Gesicht; das Stumme und Starre vom vorigen Jahr war wieder über sie gekommen.

»Was hast du, Tochter!« fragte Mutter Marthe mehr als einmal. Aber sie fragte umsonst; Barbara gab keine Antwort. Da hörte sie auf zu fragen und beobachtete sie nur schweigend. Barbara fühlte das; es machte sie beklommen und trotzig und verdarb ihr vollends die Laune.

Zur heiligen Nacht ging sie hinunter auf den Kirchhof. Sie wußte, daß sie um diese Zeit dort niemand treffen würde. An ihres Mannes Grab stand sie im Schnee, bis ihr die Füße erstarrten, und blickte finster auf den weißen Hügel nieder, und auf den Stein mit der vergoldeten Inschrift. Auf die Berge, die rings umher in unverhüllter Klarheit gegen den hohen Himmel standen, sah sie nicht ein einzigesmal. Als sie endlich wieder nach Hause ging, war ihr Herz schwerer und friedloser, denn zuvor.

Am andern Morgen, nach der Kirche, wich sie dem Rainer aus, als sie ihn auf sich zukommen sah. Als er am Nachmittag zu ihr herunterkam, sprach sie kaum ein Wort zu ihm, sondern überließ ihn der Mutter und den Kindern. Beim Fortgehen sah er sie fragend und traurig an. Sie konnt's nicht ertragen, wandte sich unfreundlich ab und ging in die Kammer. Da drückte sie die Hände an den Kopf wie eine Verzweifelte.

»Ich schwör' es dir! ich schwör' es dir!« murmelte sie vor sich hin mit leidenschaftlicher Gewaltsamkeit; so oft, bis ihre Stimme in Tränen erstickte. –

Sie wollt' es dem Rainer erzählen. Aber sie konnte nicht; sie schämte sich. Er dachte ja vielleicht gar nicht an sie – würde dann erst vielleicht anfangen an sie zu denken. Und es war nicht allein das – es wiederstrebte ihr, ihm das zu erzählen als von seinem Bruder. Es würde ihm des Bruders Andenken trüben, den er geliebt, und von dem er sich geliebt geglaubt. Und sie mußte auch den ganzen häßlichen Zusammenhang erzählen, mit dem Uttdörfer, wie sie ihn sich zurecht gedacht hatte. Nein – es ging nicht; sie mußte es allein auskämpfen. Sie mußt' es auf andre Weise abwenden. Sie mußt' sich ihm verleiden, daß er gar nicht erst auf den Gedanken kam.

Sie tat gleichgiltig und fremd gegen ihn; fragte ihn nicht mehr in ihren oder nach seinen Angelegenheiten und ging nicht mehr hinauf zu ihm, obschon er sie darum gebeten hatte, weil sie an der Emmerenz eine fröhliche Gesellschaft finden würde. Es wurde ihr nicht einmal schwer, seiner Einladung nicht zu folgen; denn seit jenem einen Abend, wo sie oben gewesen, hegte sie eine quälende Eifersucht gegen die Emmerenz. Die war immer um ihn, die schaffte und arbeitete für ihn – wie eine Hausfrau, hatte er gesagt. Und wie vertraut sie tat – »Rainer« nannte sie ihn, und ging mit ihm um wie mit ihrem besten Freunde. Das durfte sie, die Fremde. Und ihre schwarzen Augen lachten ihn an, wenn er ihr Lob sagte, und wenn sie von ihm erzählte, wie er ihr das Kind gerettet, weinte sie fast. Und den ganzen Tag sah er sie, mit den schwarzen Augen, mit den roten Backen, mit dem frischen Munde und den runden, festen, weißen Armen! – Barbara biß die Zähne aufeinander, wenn sie daran dachte. Daß die Emmerenz eine Ehefrau und der Rainer ein ehrenhafter Mann war, denen sie mit ihren Gedanken Unbill zufügte – das erwog sie gar nicht. Niemandem, nicht dem Hund vor der Schwelle, gönnte sie von ihm, was sie nicht haben durfte.

Auch zur Uttdörferin ging sie nicht mehr. Seit sie überlegt, daß auch die Ursache dieses neuen Elends, das über sie kam, bei dem ungeberdigen Manne lag, der auch schon das andre über sie gebracht hatte, fühlte sie einen Haß gegen die unschuldige Frau, so daß sie nichts mehr von ihr sehen mocht. Daß der Uttdörfer an ihrem Mann zum Mörder geworden war, hatte sie an ihr überwinden können; daß er den Rainer verleumdete und verriet und sie hinderte, von dem Schlage aufzukommen, der sie durch ihn getroffen, verzieh sie ihr nicht. Als Margred einmal zu ihr kam, könnt' sie nur mit Mühe ihren Abscheu überwinden, daß er sich nicht in sprudelnden Worten Luft machte, und war finster und wortkarg. Betrübt ging die Frau nach Hause und kam fürs erste nicht wieder.

»Was hat dir die Uttdörferin getan?« fragte Mutter Marthe, die der Tochter Unfreundlichkeit mißbilligend zugeschaut.

»Ich hab' keine Freud' am Verkehr mit ihr,« entgegnete sie schroff. »Ich denk', du mußt das begreifen.«

»Du hast all die vergangene Zeit gut mit ihr gestanden –«

»Nun ja – ich überwand mich, weil der Rainer mich bat; ihm zu Gefallen –«

»Und warum willst du ihm denn jetzt nicht mehr den Gefallen tun?« Mutter Marthe schärfte die Augen.

»Sie kann sich doch nicht ganz an mich klammern,« entgegnete Barbara ausweichend. »Wenn der Mann heimkommt, muß es ohnehin ein End' haben.«

»Damit hat's noch lange Zeit,« sagte die Alte. Barbara schwieg.

»Mir scheint, du bist auch gegen den Rainer nicht mehr wie sonst,« hub Mutter Marthe wieder an. »Du gibst ihm keine Antwort und drehst ihm den Rücken. Ganz trüb schaut er manchmal drein. Und mir scheint, du solltest dir seine Freundschaft erhalten. Ich hab' dir des öfteren gesagt, du könntest einen Schatz an ihm haben!«

Barbara fuhr ordentlich zusammen. Ganz zornig ward sie über ihre eigne Aufregung. Was dacht' sich denn die Mutter unter einem Schatz? Das Blut stieg ihr vom Herzen herauf bis in die Ohren.

»Das verstehst du nicht, Mutter,« sagte sie unkindlich.

»Mir scheint, ich versteh' jetzt manches nicht mehr,« entgegnete Mutter Marthe mit ärgerlichem Brummen. –

Wer am meisten sah, und am meisten litt, und auch nichts verstand, das war der Rainer selber. Er hatte sich noch nie eingebildet, daß die Barbara ihm in Liebe zugetan sei. Aber seit er in seinem eigenen Herzen die Liebe wachsen und tiefgründig werden fühlte, hegte er die feste Hoffnung, daß es ihm mit der Zeit gelingen würde, ihre Liebe zu erwecken. Seit dem Tage des großen Brandes glaubte er sogar, daß diese Hoffnung ihm erfüllt werden würde. Das gab seinem Herzen ein zuversichtliches Glück, wie er es so schön und friedlich noch nie gefühlt hatte. Große und schöne Gedanken machten seine Seele stolz und froh, und aus Barbaras Augen sah ihn die Zukunft an, wie voll seliger Verheißungen. Mit dreißig Jahren liebt man anders, wie mit zwanzig. Darum ist auch das Glück und Leid der Liebe ein anderes; ernster, tiefer, das Mark des Lebens angreifend.

Nun war Barbara verändert. Ihr Auge war trübe, ihr Mund war stumm; aus ihrer Zurückhaltung war abweisende Unfreundlichkeit geworden; und er wußte nicht, warum. Die Veränderung war ihm aufgefallen seit dem Tage, der ihm so gewisse Hoffnung brachte. Anfangs war sie nur wie eine leise Schwermut gewesen, wie ein Rückfall in ein noch nicht völlig überwundenes Leid. Das verstand er, das hielt er in Ehren; das störte ihn nicht. Aber nun hatte sich diese Schwermut in trotzige Ablehnung verwandelt, und die richtete sich gegen ihn. Und diese letzte Wandlung war um Weihnachten geschehen. Vergeblich zerbrach er sich den Kopf, was sich zugetragen haben könnte, in oder außer ihr. –

Er ging kaum mehr hinunter nach dem Ambergerhof, denn er konnte die veränderte Stimmung dort nicht ertragen. Seine Gäste halfen, daß die dunklen Wintertage weniger einsam waren, als sie sonst gewesen wären; der Emmerenz vergnügtes Geplauder verscheuchte mehr als einmal die trüben Gedanken aus seinem Kopf. –

Der Februar brachte viel schlechtes Wetter, Schneestürme und kalte Regenfälle; die Wege waren zum Teil ungangbar. Dickes Grau hüllte die Berge ein. Man kam wenig vor die Tür; die höher Wohnenden mußten sich oft den Gang zu einander durch mannstiefen Schnee mühsam schaufeln, bis der nächste Sturm ihn wieder verwehte.

Noch nie hatte sich Barbara so sehr nach dem Frühling gesehnt, wie diesmal. Daß der Rainer nicht mehr kam, nahm ihr allen Lebensmut; die Sehnsucht nach seinem heitren Wesen, nach seinen hellen Augen und seiner festen Hand fraß an ihr und machte sie elend und mißmutig. Und zu der Sehnsucht kam die viel schlimmere Plage der Eifersucht. Denn daß der Rainer sie vernachlässigte, lag nach ihrer Meinung nur daran, daß er jetzt andere Gesellschaft hatte. Und wenn sie sich nach dem Frühling sehnte, so war es nicht zum wenigsten, weil dann der Lechner mit seinem Bau zu Ende kommen und mit Weib und Kind den Holderhof verlassen würde. – Eigentlich hätte Barbara sich freuen müssen, daß der Rainer sie scheinbar vergaß. Aber eine verbotene und hoffnungslose Liebe reißt das Herz von der Vernunft völlig los. Man erstrebt, was das Rechte ist, und wenn's zum Ziele führt, so gerät man in Verzweiflung. –

Mutter Marthe kränkelte viel bei dem schlechten Wetter und konnte der Barbara keine Aufheiterung gewähren. Vielmehr fühlte sie sich bedrückt durch der Tochter trübes Wesen, und wenn diese entschuldigend sagte, das mache die Einsamkeit, sie sei eben noch zu jung, um so allein zu sein, so zuckte die Mutter wohl unmutig die Achseln und meinte: du willst es ja so; du könnt'st es anders haben.

Und so, unter Tränen und Regengüssen, ward es zum zweitenmal Frühling.

*

Als der Schnee hinreichend geschmolzen war und keine große Kälte mehr zu erwarten stand, machten sich die Leute, die mit dem Bauen noch nicht fertig geworden waren, mit neuem Eifer an die Vollendung ihrer dringenden Arbeit. Der Lechner schaffte von früh bis spät; die Emmerenz tat Handlangerdienste oder sah auch nur zu; oder sie besorgte die Kinder und das Vieh. Im Holderhof war es fast den ganzen Tag wieder still und einsam.

Rainer suchte sich Arbeit im Freien, soviel er konnte, um sich von dem langen Stubensitzen, davon das Blut dick und der Kopf schwer wird, zu erholen. Mit Wonne ließ er sich durchwehen von den Frühlingsstürmen; stemmte sich ihnen entgegen auf schmalen Pfaden über luftige Höhen, und atmete mit voller Brust den frischen Erdgeruch, der unter dem schmelzenden Schnee hervorquoll. Aber der Druck wollte nicht mehr ganz weichen von seinem Herzen.

Da, eines Tages, als draußen so besonders heiter die Sonne schien und die große Klarheit so besonders lenzesselig von den Bergen herniedersank, sagte sich Rainer: es kann so nicht weiter gehen; es muß klar werden auch zwischen ihr und mir. – Am selbigen Abend ging er hinunter nach dem Amberger Hof.

Er traf es gut. Barbara saß ganz allein auf der Bank unter den Ahornen und schien in trübes Nachdenken versunken. Es war schon fast dunkel und sie erkannte ihn erst, als er dicht herangekommen war. Sie blieb sitzen und machte nicht Miene, ihn zu begrüßen.

»Guten Abend,« sagte er. »Du wirst dich verkühlen auf der feuchten Frühlingerde nach Sonnenuntergang.« Mechanisch stand sie auf.

»Mir ist nicht kalt. Die laue Luft tat mir gut.«

»Wenn sie dir gut tut, so bleib' sitzen. Ich setz' mich gern zu dir.« Aber sie machte einen Schritt nach dem Hause.

»Nein, komm nur herein. Es ist besser.« Da hielt er sie einfach am Handgelenk fest.

»Nachher, Barbara. Einstweilen möcht' ich hier draußen etwas mit dir reden.« Sie fühlte das Herz zittern.

»Warum hier draußen?«

»Weil uns hier niemand hört.« Es würgte ihr an der Kehle; er hielt sie immer noch fest, so daß sie ihm nicht entlaufen konnte.

»Ich will dich fragen, was du gegen mich hast, Barbara,« sagte er sehr ernst. »Du bist ganz verändert gegen früher. Ich hab' mich hin und her gefragt, womit ich das verschuldet hab'; ich weiß es nicht. So sollst du es mir sagen; denn ich kann nicht länger so weiterleben.«

Sie war zu ehrlich, vielleicht auch zu schwerfällig, um Ausflüchte zu machen und sich überzeugend herauszureden. So schwieg sie ganz. Er setzte sich auf die Bank und zog sie trotz ihres Widerstrebens neben sich nieder.

»Schau, Barbara,« sagte er und ließ dabei immer seine Hand auf ihren Armen liegen, als fürchte er, daß sie ihm davongehe, »wir sind immer gute Freunde gewesen und haben manche schwere Stunde geteilt; das hat uns einander nah' gebracht, wie man kaum näher stehen kann. Und nun auf einmal tust du fremd und kalt und willst von meiner Freundschaft nichts mehr wissen. Wenn du deine Gründe dafür hast, so wirst du mich doch wenigstens so viel wert halten, daß du sie mich wissen läßt!«

Das letzte klang ganz vorwurfsvoll, und Barbara konnt's ihm nicht verdenken. Was mußte ihr unverstandenes Wesen ihm für einen häßlichen Eindruck machen! – Aber das wollte sie ja grade! – Sie machte ein hartes Gesicht und schwieg.

»Hab' ich dir etwas zu Leide getan? dich geärgert? gekränkt?« Sie schüttelte den Kopf.

»Hat jemand dummes Gered' gemacht?« Sie fühlte, wie sie rot wurde. Sie kopfschüttelte wieder.

»Nun also, warum behandelst du mich so schlecht?« Sie schwieg.

»Warum bist du seit Weihnachten nicht ein einzigesmal zu uns heraufgekommen, obschon ich dich bat?« Da hob sie den Kopf ein wenig und sah ihn seitwärts an. Dann sagte sie auch etwas.

»Du hattest ja andre Gesellschaft.«

Rainer rückte ein wenig zur Seite, aber wie es schien, nur um sie besser ansehen zu können.

»Bärbeli – mir scheint gar, du bist eifersüchtig?«

Sie zog die Stirn in finstre Falten und schwieg. Da lachte Rainer so übermütig auf, daß Mutter Marthe es drinnen in der Stube hörte. Sie lauschte auf – die Stimme, dies Lachen kannte sie – das hatte sie lange genug vermissen müssen. Nun, mit dem Frühling, kam es wieder. Sie ging ans Fenster und spähte durch die weißen Vorhänge. Sie sah die beiden unter den Ahornen sitzen; aber was sie mit einander redeten, vernahm sie nicht.

»Ich weiß nicht, was dabei zu lachen ist,« sagte Barbara unwirsch. Es dünkte sie am besten, ihn bei dieser von ihm selbst gefundenen Erklärung zu belassen. Aber er lachte nur herzlicher. Wie ein Sturmwind brach eine große Freude los in ihm. Wenn sie eifersüchtig war – besser konnt's für ihn nicht stehen.

»Bärbeli,« sagte er, »du bist nicht gescheit. Hast du gedacht, ich würd' mich in die Lechnerin verlieben?« Das bloße Anhören solcher Worte tat ihr weh.

»Mir konnt's ja gleich sein,« sagte sie. »Aber für dich hätt's mir leid getan; denn du hätt'st sie ja doch nicht heiraten können.«

»Also bis dahin schon hatt'st du überlegt?« rief er belustigt. »Und trotzdem es dir völlig gleich war?« Sie wußte sich nicht mehr zu helfen und so schwieg sie wieder. Daß er da so dicht neben ihr saß, benahm ihr den Atem und die vernünftigen Gedanken.

»Ja – wie konnt'st du denn so eifersüchtig sein, wenn es dir völlig gleich war?« fragte Rainer jetzt viel ernster. »Das paßt doch nicht zusammen. Einmal also hast du mir nicht die Wahrheit gesagt –«

»Ich hab' dir nur gesagt, daß mir's gleich ist. Daß ich eifersüchtig wär' – das hast du gesagt.«

»Und warst du's also nicht?« Sie hatte nicht den Mut zu leugnen. Plötzlich fühlte sie, wie er den Arm um sie legte.

»Rainer! Was nimmst du dir heraus!« rief sie, wie in Todesangst, und sprang scheu vor ihm auf. Sein Arm war langsam wieder herabgesunken. Er sah zu ihr auf, und in seinen Augen waren blaue Funken. Aber er hielt an sich. Noch war es nicht Zeit.

»Ich will mir nichts nehmen, als was du mir gibst,« sagte er mit ein wenig erzwungener Ruhe. »Also setz' dich wieder.«

»Ich kann auch stehen. Was willst du noch?« Trotzig stellte sie sich vor ihn hin. Er mußte sie erst eine Weile ansehen, ehe er sagte:

»Ich will dir nur noch sagen: auf Ostern zieht der Lechner in sein neues Haus ein. Nur das Vieh bleibt noch bei mir stehen, bis es ausgetrieben wird; denn den Stall kann er erst im Sommer fertig bringen. Dann ist also der Weg wieder frei zwischen uns, hoff' ich?«

Barbara schämte sich ganz entsetzlich. Wenn sie doch wüßte, wie sie ihm ihr Wesen glaubhaft erklären sollte, ohne die ganze Wahrheit zu sagen, ohne den häßlichen Verdacht niedriger Eifersucht auf sich sitzen zu lassen, mit der sie ihm ja geradezu bewies, daß sie ihn andern nicht gönnte, weil sie ihn ganz allein für sich haben wollte!

»Was mußt du von mir denken?« sagte sie schmerzlich, und barg das Gesicht in den Händen.

»Ich denke, daß du –«

»O still', sag' nichts!« rief sie erschreckend. »Hör' zu, Rainer. Ich bin nicht eifersüchtig so, wie du – wie du am End' denken könnt'st. Aber ich hab' mich so gewöhnt an deine Freundschaft und daß du immer Zeit für mich hattest, daß ich mich nicht daran gewöhnen konnte, wie es nun anders wurde –«

»Es wurde erst anders, weil du anders geworden warst,« unterbrach er.

»Das denkst du, weil du nicht wußtest, daß du schon vordem anders geworden warst. Und nun laß mich ausreden. Wenn ich umsonst in meinem Herzen geeifert habe, so ist es ja gut; wenn deine Freundschaft und deine Bruderliebe dieselbe geblieben, so verzeih' mir, und vergiß, womit ich dich gekränkt. Und wenn sie immer dieselben bleiben, immer nur Freundschaft und Bruderliebe, so kann es ja wieder sein zwischen uns, wie es früher gewesen.«

Sie hatte mit gesenktem Gesicht gesprochen; nun sah sie auf, weil er so still blieb. Er hielt den Blick auf sie gerichtet – einen verwunderlichen, großen, erstaunten Blick.

»Ich kann es nicht glauben,« sagte er langsam.

»Was kannst du nicht glauben?« fragte sie ängstlich.

»Was du da sagst. Irgend etwas stimmt nicht in deiner Rede.« Sie schlang verzweifelt die Hände ineinander.

»Deutlicher kann ich nicht reden,« sagte sie. Da stand er auf. Bei der zunehmenden Dunkelheit konnte sie sein Gesicht nicht genau erkennen. Minutenlang standen sie stumm beieinander.

»Darf ich mit hineinkommen?« fragte er. Sie nickte. Sie hatte ein Gefühl davon, daß sie ihm sehr weh getan hatte. Plötzlich suchte sie nach seiner Hand.

»Rainer – sei nicht bös gegen mich. Ich könnt' alles ertragen, alles, nur das nicht!« Ihre Stimme brach. Traurig sah er auf sie nieder.

»Ich bin nie böse gegen dich gewesen, und nie unfreundlich. Du hast selbst gesagt: es soll wieder sein wie es früher gewesen. Also komm – laß es uns versuchen.« Es war ein fremder Klang in seinen Worten, der ihr ins Herz schnitt. Ihre Tränen fielen.

»Warum weinst du jetzt noch, Barbara? Es ist ja alles wieder gut!« Gegen Vernunft und Willen hoffte sie, er würde noch einmal den Arm um sie legen; aber er rührte sie nicht an.

Er wurde nicht klug aus ihr. Wie stimmten diese Tränen zu dem, was gesprochen worden war?

»Komm hinein,« bat er. »Die Mutter wartet.«

Ja, sie wartete; mit Ungeduld und hoffender Unruh. Sie hatte sie beieinander sitzen sehen, und hatte das Fenster wieder verlassen. Sie mochte nicht heimlich lauschen. Bang und freudig sah sie ihnen entgegen, als sie nun eintraten – ob sie ihr etwas zu sagen haben würden. Rainer Amberger trat mitten ins Zimmer; Trauer lag in seinen Augen, aber sein Gesicht war freudig und still.

»Guten Abend, Mutter Marthe,« sagte er, als empfinde er nicht ihren forschenden Blick. »Ich hab' euch lang nicht gesehen.«

»Ja, sehr lange nicht!« seufzte sie, und schien sich zu freuen, endlich darüber sprechen zu können. »Warum habt ihr euch so fern von uns gehalten?«

»Ich hatte Abhaltung durch meine Gäste –«

»Und darüber vergaßt ihr uns!« fiel sie vorwurfsvoll ein. Also die auch! dachte er, und lächelte trübe.

»Nein, nein, Mutter Marthe. Die Barbara dachte es auch – ich weiß nicht, ob mir's geglückt ist, es ihr auszureden –« Beide sahen nach der Bäuerin hin. Aber die hatte sich abgewendet und sprach mit der Magd.

Also ist sie wohl eifersüchtig gewesen! dachte Mutter Marthe; das wäre eine Strafe, die sie sich mit ihrem unwirschen Wesen verdient hätte. Dann wär's noch nicht ganz aus.

»Bleibt ihr zum Abend bei uns?« fragte sie.

»Ja. Und ich denk', ich komm' nun wieder öfter, wegen der Arbeit.« In diesem Augenblick ging Barbara hinaus. Mutter Marthe neigte sich dichter gegen den Mann und sagte:

»Nicht nur wegen der Arbeit, Rainer. Wegen der am wenigsten. Wegen der Barbara müßt ihr kommen. Sie fällt völlig zusammen ohne euch!«

Rainer sah die Alte nachdenklich an. Die mußt' 's ja wissen. Und doch dünkte ihn, ihr Wissen sei Stückwerk. Aber ihre Worte hatten ihm doch in den Wolken, die ihm die Aussicht verdunkelten, ein Stück Himmelsblau gezeigt. Er war an diesem Abend nicht völlig, aber doch beinahe wieder der alte Rainer, der den Mißmut und Trübsinn mit seinem hellen Blick verscheuchte.

Nur Barbaras Herz blieb zum Brechen schwer. Nun – so meinte sie – war das entscheidende Wort gefallen; und er machte sich scheinbar nicht viel daraus. Er hatte wohl nie an anderes gedacht, als an Freundschaft und Bruderliebe – wer weiß. Um so besser für ihn. Nun wußte er, daß auch sie nichts anderes wollte, und es konnte wieder natürlich und zwanglos zugehen zwischen ihnen – wie es früher gewesen war. Mit der Zeit würde sie es ja wohl lernen. Sie gab sich einstweilen Mühe, zu scheinen, was sie noch nicht war: heiter und ruhig.

Als Rainer gegangen war, fragte Mutter Marthe:

»Was hattest du heut mit deinem Schwager zu reden, auf der Bank?« Barbara zog die Stirn in dem blassen Gesicht in Falten.

»Nichts,« sagte sie kurz.

»Nichts? Mich dünkt, es war sehr viel!« Barbara seufzte unwillig.

»Du siehst doch, daß ich nicht davon sprechen möcht', Mutter. So laß mir doch meine Ruh'!« Die Alte kopfschüttelte sorgenvoll.

»Ich versteh' dich nicht mehr, Kind. Aber ich will dich nicht drängen. Wirst schon noch von selber kommen.« –

Rainer Amberger verstand sie auch nicht; noch nicht; einmal würde er sie dennoch verstehen lernen. Sie wär ihm gut, er wußt' es; er fühlte es an allem, was sie heut gesagt und getan. Nur, warum sie's nicht zugeben wollte, warum sie ihn fernzuhalten sich mühte, das wußt' er nicht. Aber einmal würde er auch das wissen. Er konnte warten; er mußte warten.

Sie hatte ihn nicht überzeugt und nicht entmutigt. Es gab ja nichts, was sie trennen konnte, wenn einmal ihr Herz sich ihm ganz ergeben haben würde.

 

* * *


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