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Beim Gletschwirt verabredeten sie, sich zusammenzutun zum Gang nach Interlaken. Anselm Uttdörfer, Ulrich Amberger und einige andere, die sich nicht grade nach des ersteren Gesellschaft drängten, sie aber doch in den Kauf nahmen. Sie hatten alle etwas zu handeln; meistens war es Almvieh, das die Knechte unter ihrer Aufsicht abends vorher hinuntertrieben. Dann hatten sie Einkäufe zu machen für den Winter, für die Wirtschaft, für die Frau. Und das Vergnügen kam auch nicht zu kurz.

»Und wie ist's mit deinem Bruder, dem Rainer!« rief der Uttdörfer mit einem lauernden Augenzwinkern. »Geht der auch mit?«

»Ich glaub's wohl,« entgegnete Ulrich. »Gesprochen hat er schon davon.«

»Wenn ihm nur unsere Gesellschaft nicht zu schlecht ist!« höhnte der Uttdörfer mit seinem zuwidren Lachen. »Bis jetzt hat er uns standhaft gemieden!«

»Am Wirtstisch zum wenigsten,« schaltete ein anderer ein.

»Der Rainer ist eben ein ordentlicher Mann,« brummte Ulrich, den der versteckte Angriff auf den Abwesenden ärgerte.

»Und wir sind liederliches Volk!« lachte Uttdörfer los. »Hört doch! Hat der Rainer das etwa so gesagt?«

»Der Rainer pflegt nicht zu reden über anderer Leute Tun, wenn's ihn nicht angeht,« versetzte Ulrich spitz.

»Nun, ein wahrer Heiliger scheint er ja geworden zu sein, dein Rainer!« spottete Uttdörfer lustig weiter. »Freut mich, daß ich ihn nun doch auch einmal werd' zu Gesicht bekommen. Bis jetzt hat er mir nicht die Ehre angetan. Hoff' nur, daß er die Gnad' haben wird, mich anzusehen!«

»Du tust ja grad' als ob er dein Feind wär!« sagte Ulrich mit einem forschenden Seitenblick. »Aber ich kann dir nur sagen, wer den Rainer zum Feind hat, der kann kein guter Mensch sein!«

Wieder schlug der Uttdörfer eine Lache auf, die dem Ulrich durch alle Nerven ging. Zuwider, ganz zuwider war ihm der Mensch in solchen Augenblicken, und doch konnt' er nicht von ihm loskommen.

»Wird deine Frau mitgehen?« fragte er nachher.

»Nein,« entgegnete Ulrich kurz. »Sie will nicht.«

»Warum nicht? Sie sind doch sonst nicht zimperlich, wo's was zu putzen und zu gaffen gibt, die Weiber! – Nun, 's ist auch besser so; man ist ungestörter ohne sie. – Meine Gred' wollt mit, denkt euch, die Gred', die noch niemalen so einen Wunsch gehabt hat! jetzt auf einmal wird sie vergnügungssüchtig! Ich hab' ihr aber gesagt, sie soll zu Hause bleiben, wo sie hingehört, und ihre Buben hüten!«

»Sie kann ja zur Barbara kommen,« sagte Ulrich, dem die Frau auf einmal leid tat. Und Uttdörfer entgegnete mit wegwerfender Miene:

»Das kann sie halten wie sie will.« –

Am Tage vor Matthäi fanden sich alle, die den Herbstmarkt besuchen wollten, auf der breiten Dorfstraße zusammen. Es war ein kühler, sonniger Nachmittag und ein buntes lustiges Leben. Brüllendes Vieh, wohlgenährt und glattgestriegelt, peitschenknallende Knechte und Sennbuben, Gesicht und Hände so braun gebrannt, wie das Lodenzeug, das sie am Leibe trugen. Bauern im Sonntagsstaat, einen neuen Stutzen auf dem Hut, die unvermeidliche Pfeife zwischen den Zähnen; Bäuerinnen in Tracht, mit verbrämten Samtmiedern, deren Geschnür umso länger hing und umso herausfordernder klapperte und klang, je vornehmer und wohlhabender die Trägerin war, mit weißen, weitgebauschten und steifgestärkten Leinenärmeln. Alle sprachen und lachten durcheinander und waren guter Dinge.

Von einem Seitenweg herunter kamen die Amberger Brüder. Jetzt, wo sie beide frisch und wohlgemut in den lachenden Tag hineinsahen, glichen sie einander auffällig, und jeder, der sie so einträchtig nebeneinander hergehen sah, hatte sein Wohlgefallen an ihnen. – Sie stießen auf einen Trupp Männer, in deren Mitte der Uttdörfer das große Wort führte. Als er die Brüder kommen sah, machte er sich frei, und ging in seiner lauten Art auf sie zu. Ulrich begrüßte er wie einen guten Freund und Kameraden. Rainer lüftete den Hut und stützte die andere Hand fest auf den kurzen Stock; es schien, als möchte er keine frei haben für den Uttdörfer, und der machte auch nicht den Versuch, ihm eine zu geben.

»Sieht man euch doch auch einmal!« sagte der in rauhem Polterton, unter dem sich eine nur dem Rainer fühlbare Befangenheit verbarg. »Man meint fast, man wohne nicht im selben Ort!«

»Das Dorf ist sehr groß, und ich wohne jetzt weit heraus,« entgegnete Rainer kühl und ruhig. Damit war die Unterhaltung zwischen den beiden beendet und eine weitere vorläufig abgeschnitten.

Truppweise, wie Freundschaft und gleiche Interessen sie zusammenführten, setzten sich die Gydisdorfer in Bewegung. Zwischen den Menschen trottete das Vieh, und zwischen der lebhaften Unterhaltung klang das Knallen der kurzen Peitschen und das Zurufen der Knechte.

Rainer hielt sich naturgemäß an der Seite des Bruders. Wenn er hier und da mit einem andern ging, so kam er doch bald wieder zum Ulrich zurück, und diesem war es fast lieb, daß der Uttdörfer ihn heute mied. – Rainer hatte kein Vieh zu verkaufen. Er ging nur mit, um das alles einmal kennen zu lernen, und weil er einiges für seinen Winterbedarf einzuhandeln hatte; und zumeist des Bruders wegen.

Mit einbrechender Dunkelheit erreichten sie die grüne Ebene, die sich weiterhin in tiefen See verwandelte, und in die das schöne Interlaken hineingebettet lag, zwischen Fels und Wasser, am Ufer der rauschenden Aare. – Einige machten schon eine halbe Wegstunde vor der Stadt halt, bei dem mitten im Grün gelegenen Flecken Wilderswyl, wo es billigere und nicht so überfüllte Herbergen gab, als in Interlaken. Wer das Vieh in den Herbergsställen nicht mehr einstellen konnte, mußte im Freien übernachten. Das Herbstwetter war linde und windstill, so daß es den an jede Rauheit der Luft gewöhnten Leuten nicht schwer fiel. – Der Uttdörfer hatte für sich und den Amberger ein Unterkommen in der Stadt gesichert, wie er dem Ulrich unterwegs mitteilte.

»Dank dir für die Gefälligkeit,« sagte Ulrich. »Aber ehe ich sie annehme, muß ich erst mit meinem Bruder sprechen; denn ich möcht mich natürlich nicht trennen von ihm für die Nacht.«

»Als ob ihr ein Liebespaar wärt!« höhnte Uttdörfer. »Nun, ich denk', für den Rainer ist auch noch Platz dabei.«

»Ich werd's ihm sagen,« entgegnete Ulrich, und suchte ihn auf unter den andern.

»– – – aber ich dacht', es möcht dir am Ende nicht angenehm sein, mit dem Uttdörfer die Herberg' zu teilen,« schloß er seinen Vorschlag.

»Angenehm freilich nicht,« sagte Rainer ehrlich. »Aber ich möcht nicht, daß du Ungelegenheiten mit ihm bekämst, und ihn meinetwegen im Stich ließest. Also wenn er dich nicht gutwillig losläßt, so nimm nur seine Gefälligkeit an. Ich such' mir dann etwas in der Nähe.«

Ulrich sagte darauf nicht nein, nicht ja, und blieb zerstreut und nachdenklich. Als sie sich der Stadt näherten, sagte er zum Uttdörfer:

»Nehmt mir's nicht übel, Bauer, wenn ich mich für diesmal von euch trenne. Aber ich möcht doch lieber mit dem Rainer zusammenbleiben.«

»Und dem Rainer beliebt's nicht, mit uns zu teilen?«

»Der Rainer hat schon selbst etwas,« log Ulrich tapfer drauf los, und entfernte sich schnell, um weiterem Fragen und Spotten zu entgehen.

Vor dem Tor blieb man stehen, und traf Verabredungen für den Abend und für den Markt, ehe man auseinanderging.

»Bekommt man denn euch noch zu sehen?« fragte der Uttdörfer. »In der »blauen Forelle« gibt's einen guten Wein, und ich mein', hungrig und durstig sind wir alle. Aber ihr geht ja nicht ins Wirtshaus, wenn ich recht versteh!« wandte er sich herausfordernd zu Rainer.

»Warum nicht, wenn ich Ursach' hab',« klang es ruhig zurück. »Nur muß es nicht grade die »blaue Forelle« sein!« Dann schlenderte er seitwärts; er wollt' keinen zu großen Druck auf Ulrich ausüben und sich dadurch seinen Unwillen zuziehen. Wenn er etwas erreichen wollte, mußte er vorsichtig sein.

Vorläufig erreichte er soviel, daß Ulrich sich für den Abend endgiltig vom Uttdörfer trennte.

»So –, nun führ' mich, wohin d' willst,« sagte er, als er sich dem Rainer wieder zugesellt, mit schlecht verhehltem Aerger. Der machte ihm Vorschläge, und fand ihn zu allem mißmutig bereit: tat aber, als bemerke er den Mißmut nicht.

»Jetzt sag' mir nur, Raini,« begann endlich Ulrich, der nicht mehr an sich halten konnte, »weshalb bringst mich in die Notwendigkeit, zwischen euch beiden zu hinken wie einer, der nicht selbständig stehen kann!«

»Warum brächt' ich dich in solche Lag'?« entgegnete Rainer. »Ich hab' dir zu nichts zugered't und nur für mich selbst entschieden. Du bist völlig frei, zu tun was du willst, und du weißt, ich nehm' dir nichts übel.«

»Und doch,« rief Ulrich ärgerlich, »zwingst mich zu wählen zwischen dir und ihm!« Rainer lächelte ein wenig.

»Ja freilich – das mußt. Wenigstens für diese beiden Tag'.« Ulrich schwieg, und schritt mit finster gesenktem Kopf neben dem Bruder her, ohne Interesse für das immer lauter sie umschwirrende Straßenleben, das Rainers Aufmerksamkeit um so völliger in Anspruch zu nehmen schien; wenigstens schwieg auch er. – Aber nicht lange; er konnte Ulrichs Stummheit nicht ertragen, bog sich ein wenig vor, sah ihm ins Gesicht und fragte:

»Wird dir denn die Wahl gar so schwer, Uli?«

Eine durch diese warmherzigen Worte hervorgerufene Bewegung kämpfte im Herzen des Ambergers mit der trotzigen Auflehnung gegen den unerwünschten Zwang.

»Nein,« sagte er rauh. »Aber mir scheint, du bist nur mit uns gegangen, um mich vor diese Wahl zu stellen; und das ärgert mich.«

»Sollt' ich denn zu Hause bleiben, weil einer mitging, der mein Freund nicht ist, und sich als deinen aufspielt? Ich werd' ohnehin nicht alle Gelegenheiten meiden können, die der Uttdörfer wahrnimmt. Aufsuchen werd' ich aber niemalen ein Zusammensein mit ihm.«

Ulrich konnte nichts erwidern und war doch nicht überzeugt. Er sagte sich: die Barbara hat ihn mitgeschickt, als Aufpasser; das nahm ihm die Unbefangenheit und schürte seinen Trotz.

Sie verlebten den Abend in Gemeinschaft mit anderen Oberländer Leuten, die sich aus allen Talen in allen Wirtshäusern zusammenfanden, sehr gut auch ohne den Uttdörfer, und Ulrich wäre wahrscheinlich einer der Wohlgemutesten gewesen, hätte er nicht den Stachel im Herzen gehabt, daß er zu dieser Gesellschaft eben doch nur gezwungen worden sei.

Am anderen Morgen waren sie alle früh auf. Es gab viel zu tun, das Vieh in die einem jeden bestimmten Stände zu treiben. Nur flüchtig begrüßten sich die Bekannten untereinander. Dann kam das Handeln und Feilschen, das Prüfen und Kaufen, das Drängen und Lärmen zwischen den Marktbuden, das Schreien der Verkäufer, das Klappern der leichten Wagen über die Straßen. Das ging so den ganzen Vormittag bis ins Dunkelwerden um Vesperzeit.

Rainer, der seine Einkäufe bald gemacht und nun nichts mehr zu tun hatte, schlenderte umher, betrachtend und zuhörend, beobachtend und mitredend, und fand allerlei Lehrreiches und Kurzweiliges dabei. Den Bruder verlor er nie ganz aus den Augen, und sah mit Freuden, wie sein Vieh allzeit von Kauflustigen umdrängt, und bereits am frühen Nachmittag bis auf das letzte Stück an den Mann gebracht worden war. Ulrich hatte seine Laune wiedergefunden, schlug wohlgefällig mit der breiten Hand auf den gefüllten Geldsack, beurlaubte den Knecht, daß er sich ein paar vergnügte Stunden mache, und ging seinerseits, das gleiche zu tun.

Den Uttdörfer hatte er den ganzen Tag kaum gesehen; nun lief er ihm gerade jetzt in den Weg.

»Nun, habt ihr ein gutes Geschäft gemacht, Amberger?« rief er ihm zu. »Ich braucht' nicht erst zu fragen, man sieht's euch am Gesicht an, daß der Stand leer und der Beutel voll ist!«

Und in seiner freudigen Zufriedenheit blieb Ulrich bei ihm stehen und gab ihm Auskunft. – Der Uttdörfer roch stark nach Wein; sonst war ihm aber nichts anzumerken. Er galt dafür, daß er eimerweis trinken könne, ohne je betrunken zu werden – solang er nicht wollte.

»Den guten Handel muß man feiern!« johlte er, und schlug dem Amberger derb auf die Schulter. »Komm mit zur »blauen Forelle«, da finden wir lust'ge Gesellschaft!«

Schon wollte Ulrich zustimmen –, da fiel ihm der Rainer ein. Der würde sicher nicht mitkommen. Aber deswegen abermals dem Uttdörfer absagen – nein, das ging nicht; das war so gut wie ein Bruch, und dazu war keine Veranlassung. War er gestern mit dem Rainer gegangen, so ging er heut mit dem Uttdörfer; es war nur gerecht so; das mußte der Rainer einsehen.

So sagte er sein Kommen zu.

»Wenn's nur der Bruder erlaubt!« spottete Uttdörfer giftig. Und wenn Ulrich noch nicht entschieden gewesen wäre, so hätte diese Bemerkung ihm die letzte Unsicherheit genommen.

»Was hat der zu erlauben?« lachte er gezwungen. »Unter uns kann's jeder halten, wie er's will – wie das unter Brüdern sein muß, wenn's recht zugeht. Aber benachrichtigen will ich ihn.«

»Soll mich wundern, ob d' wiederkommst,« rief Uttdörfer dem Davoneilenden herausfordernd nach.

Diese Worte tönten dem Ulrich noch in den Ohren, als er im Gewühl den Bruder wiederfand. Entschlossen trat er auf ihn zu und sagte:

»Ich hab' dem Uttdörfer versprochen, zur »blauen Forelle« zu kommen. Ich konnt's ihm heut nicht abermals abschlagen. Ich denk', du wirst ein Einsehen dafür haben. Daß du mitkommst – darum kann ich ja nicht wohl bitten!«

Rainer sah dem Bruder nachdenklich in das ein wenig aufgetrotzte Gesicht, stemmte die Hand in die Seite und sagte gelassen:

»Ich komm' vielleicht nach. – Ja, und wie ist's denn mit der Heimkehr?« fragte er dann leiser.

»Nun – ich denk', wir gehen in der Früh. Für heut Abend ist's doch zu spät.«

»Wir haben Vollmond,« sagte Rainer. »Ich hätt' mir den Gang in der hellen Nacht gut gedacht. Aber es eilt mir nicht,« fügte er hinzu, da er Ulrichs Gesicht mißmutig werden sah. »Ich find' schon noch genug zum Zeitvertreib bis morgen früh.« –

Es war acht Uhr abends, und Ulrich Amberger schon seit mehreren Stunden seiner Wege gegangen, als Rainer die Wirtsstube in der »blauen Forelle« betrat. Er hatte einen Ekel zu überwinden, als er aus der kristallklaren Abendluft draußen in den grauen Tabaksqualm und schwülen Weindunst eintrat, der ihm in die Augen biß und ihm den Atem versetzte, und seinen Ohren, die seit Wochen die heilige Stille der Bergeinsamkeit gewohnt gewesen, tat der Lärm der vielen rauhen, mehr oder minder trunkenen Stimmen weh. Wenn's nicht um den Ulrich gewesen wär', er hätte am liebsten gleich wieder Kehrt gemacht.

Es dauerte eine Weile, bis er im Hintergrunde der sehr geräumigen Stube, an einem Tische die Gestalten des Bruders, des Uttdörfers und zweier Fremder unterschied. Die Weinkrüge standen halb geleert vor ihnen. Sie hatten rote Köpfe und redeten kurz und heftig miteinander. Sie würfelten.

Der Uttdörfer schwang grad seinen leeren Schoppen hoch über seinem Kopf und gröhlte nach einem neuen Maß – da stand wie aus dem Boden gewachsen ihm grad gegenüber der Rainer, so groß und breit er war, und machte die gröhlende Stimme jäh schweigen. Sein unerwarteter Anblick verursachte dem Uttdörfer eine unangenehme Empfindung; einen Schreck, wie ihn das böse Gewissen bereiten hilft; und den durchdringenden Augen des Rainers Trotz bietend, rief er mit breitem Grinsen:

»Ah – welche Ehr' tut uns der Bauer vom Holderhof an!«

Durch diese Worte erst wurde Ulrich, hinter dessen Stuhl der Bruder getreten war, auf dessen Anwesenheit aufmerksam. Er fuhr herum, gleichfalls nichts weniger als erfreut, wußte nicht recht, wie er sich benehmen sollte und murmelte nur mit bittersüßer Miene irgend etwas, das wie ein Gruß klang.

»Darf man sich dazu setzen?« fragte Rainer und griff nach einem leeren Stuhle. »Laßt's euch nicht stören – ich schau' euch ein wenig zu.«

»Warum nur zuschauen? warum nicht mittun?« reizte Uttdörfer.

»Weil mir das Zuschauen kurzweiliger ist,« sagte Rainer.

Sie sollten sich nicht stören lassen, hatte er gesagt; und doch war seine Anwesenheit eine entschiedene Störung. Die beiden Fremden zwar kümmerten sich nicht groß um ihn, aber Ulrich war zerstreut und hastig, vergriff und verzählte sich; und der Uttdörfer schrie und lachte um so lauter, je unfreier ihm zu Mut war. Dazwischen klapperte das Geld auf dem Tisch.

Rainer hatte sich gleichfalls ein Maß Wein bestellt und seine Pfeife in Brand gesteckt; er verfolgte das Spiel, sprach zwischendurch ein paar Wort' mit den Umsitzenden und hatte den Anschein, als sei ihm eben wohl, und als merke er Ulrichs gereizte Stimmung nicht. Je länger, je mehr wurde dessen Stimmung indes wieder einzig vom Spiel beeinflußt. Den Bruder schien er zu vergessen. Nicht so der Uttdörfer, den es reizte, daß der jüngere Mann tat, als sei er gar nicht am Tische.

»Nun, Holderbauer,« fing er an, als er nicht mehr zurückhalten konnte, »dünkt euch das Zuschauen immer noch kurzweilig? Oder wollt' ihr nur sehn, wie wir's treiben, um uns nachher bei den Weibsleuten anzuschwärzen?«

Rainer warf ihm einen verächtlichen Blick zu und würdigte ihn keiner Antwort.

»Ihr habt wohl ein Gelübde getan, keinen Würfel anzurühren?« fuhr Uttdörfer in seiner herausfordernden Weise fort.

»Nein,« sagte Rainer kurz ab.

»Es ist wahrlich das erstemal, daß einer aus den großen Städten zu uns zurückkommt, als so ein Tugendbold!« rief Uttdörfer, der immer aufgeregter wurde. »Oder habt's etwa eine unglückliche Liebe im Herzen, die euch den Spaß an solchen Dingen vergällt?« Dabei schielte er den Mann an – und erschrak.

Rainer Ambergers Gesicht ward flammendrot und bitterernst; seine Augen blitzten – man konnt's sehen, daß er wild werden mocht. Aber er hielt an sich und sagte nur sehr nachdrücklich und so laut, daß die Umsitzenden es hören mußten:

»Nehmt eure Worte in acht, Uttdörfer. Ich bin nicht der Mann für eure ungehobelten Späß; merkt's euch!«

Ulrich sah erschrocken auf. Aber der Uttdörfer, der sonst immer das letzte Wort behalten mußte und jeden Gegner überschrie, blieb ganz still. Er schlug die Augen nieder, murrte etwas Unverständliches durch seine großen Zähne und würfelte weiter.

Ulrich war tief erstaunt, und sah fast bewundernd zu seinem Bruder hinüber, der sich ruhig wieder in seinen Stuhl gelehnt hatte, als sei nichts vorgefallen. – Gab es wirklich einen Menschen, vor dem der Uttdörfer sich scheute?

Es war, als ob er in Ulrichs Ansehen dadurch sänke; er fühlte sich ordentlich sicher –

Die Stimmung war nun erst recht gründlich gestört, soviel auch jeder an seinem Teil dazu tat, es nicht aufkommen zu lassen. Rainer merkte das; er begriff, daß sein Hiersein nichts nützte, denn Ulrich tat einen Wurf nach dem andern und verlor ein Silberstück nach dem andern; seine Gegenwart konnte vielmehr noch weitere Gefahren heraufbeschwören. Und nachdem er das eingesehen, wartete er nur eine Pause im Spiel ab, stand auf und bot im allgemeinen den Abendgruß. Dem Ulrich aber legte er im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter.

»Auf ein Wort, Uli – 's wird dich nicht lang versäumen!« Zögernd erhob sich Ulrich. Der Uttdörfer schnitt ihm ein Gesicht.

»Laß nicht zu lang auf deine Rückkehr warten!«

Rainer ging dem Bruder voran bis vor die Haustür, und da auch hier allerlei Volk umherstand, noch ein paar Schritt weiter am Haus entlang, wo der Mond einen breiten Schatten warf. Die abgelegene Straße war ziemlich still. Ueber die Dächer lugten die beglänzten Bergspitzen, und am Himmel standen ein paar große, funkelnde Sterne. Die klare Luft tat dem Rainer wohl, und beruhigte sein erregtes Gemüt. Er stand still und schöpfte tief Atem. Ulrich war sichtlich ungeduldig.

»Was gibt's – was willst du von mir?« drängte er.

»Ich hab' eine Bitte, Uli. Geh nicht wieder da hinein! Komm mit mir – gleich vom Fleck weg!«

»Du bist nicht gescheit!« rief Ulrich. »Ich würd' mich lächerlich machen! Nicht einmal meinen Hut hab' ich auf dem Kopf!«

»Wenn's weiter nichts ist – den hol' ich dir!«

»Warum nicht gar! Ich bitt' dich, denk' an unser Abkommen! Ein jeder von uns ist frei, zu tun, was er will. Also laß mich in Ruh'!« Er wollte wieder hinein. Aber Rainer hielt ihn am Arm.

»So gib mir wenigstens deinen Geldsack in Aufbewahrung! Nimm dir heraus, soviel du noch zu brauchen meinst – das andere will ich dir hüten –«

»Hüten? zu was hüten? Meinst du, wir bestehlen einander, oder ich möcht ihn im Rausch verlieren?«

»Nein, Uli, aber ich fürchte, soviel du bei dir hast, soviel gibst du auch aus!«

»Nun – und was geht dich das an, wieviel ich ausgeb'!«

»Uli!« Rainer hielt den Widerstrebenden an beiden Händen und sah ihm fest in die Augen. Aber Ulrich riß sich unwirsch los.

»Ich tu nichts andres, als was andre auch tun,« rief er. »Da könnt'st du mit demselben Recht einen jeden da drin und in all den Wirtsstuben vor die Türe schicken.«

»Die andern gehen mich nichts an. Du aber bist mein Bruder. Die andern sind auch vielleicht nicht so leichtsinnig als du; haben auch am End' mehr Glück –«

»Ach was – laß mich in Frieden.«

»Gib mir das Geld, Uli, ich bitt' dich!«

»Und ich sag', laß mich in Frieden! Ich bin kein Schulbube. Hast sonst noch was? Nun denn also – gute Nacht.«

Er nickte nur flüchtig mit dem Kopfe. Er gab ihm nicht die Hand, als hätt' er Sorge, Rainer möcht sie nicht wieder loslassen. Und dann ging er mit langen Schritten zurück und war in der nächsten Minute im dunklen Hausflur verschwunden.

Rainer blieb noch eine Weile stehen, wo er stand. Dann seufzte er tief auf, und ging davon; langsam, als würde es ihm schwer, als dünke es ihn unmöglich, den andern da drin seinem Schicksal und dem Uttdörfer zu überlassen.

Der Uttdörfer war sein Schicksal – das war Rainers Ueberzeugung. Er allein hatte ihn auf den bösen Weg gebracht, und mit seinem giftigen Spott trieb er ihn immer weiter vorwärts.

Wenn Ulrich loskommen könnte von dieser Gesellschaft, so möcht es am Ende wieder besser werden. Mocht' er immerhin hie und da ins Wirtshaus gehen – was war dabei, die ordentlichsten Leute taten es, und das Trinken hat noch keinem geschadet, der's mit Maßen tat. Nur mit dem da dürft' es nicht sein. Aber wie sollte er ihn losbekommen? Je mehr man ihm abredete von diesem Umgang, je mehr vertrotzte er sich darauf; aus falschem Stolz, aus eigensinnigem Selbständigkeitsdrang.

Rainer nahm den Weg zum Fluß mehr außerhalb der Stadt, wo der Menschen- und Fremdenverkehr nicht mehr wogte. Auf dem Steig neben dem Fahrweg, unter breitästigen Bäumen, die ihr gilbendes Laub in die stürzenden Wasser streuten, ging er langsam, in schweren Gedanken dahin. Der Mond malte scharfe Lichter und Schatten auf dem Kies, glitzerte in den hüpfenden, krausen Aarewellen und erfüllte den ganzen Raum zwischen Himmel und Erde mit unirdischer Helle. Still war's hier draußen; feierlich still. Rainer setzte sich auf die niedrige Brüstung, die längs des Steiges gegen den Fluß hin lief, das Gesicht den heimatlichen Bergen zugekehrt.

Und da, durch eine Lücke in der Baumreihe, sah er sie wieder, ganz hinten, zwischen dunklen Gebirgsreihen, wie eine heilige Wächterin am Ende der Welt: – die Jungfrau, die Königin. Weiß und hoch stand sie da am blau schwarzen Firmament, in ein mattschimmerndes Licht getaucht, im Schleier einer heiligen, einsamen Nachtruhe – weit hinten – hoch oben –

Etwas Großes überkam den Mann. Er wußt' es selbst nicht zu nennen. Aber es drängte ihn, tief auszuatmen; es füllte ihm die sorgenvolle Brust mit einer hellen Zuversicht, und das bedrückte Herz mit einem frohen Hoffen.

Und zuletzt zwang es ihn, zu beten.

*

In später Nacht kam Ulrich Amberger völlig betrunken heim. Der Uttdörfer brachte ihn vor seine Herberge, wo er sich mit derben Späßen von ihm verabschiedete. Es belustigte ihn, daß der Bauer so gar nichts vertragen konnte!

Der Herbergswirt, aus dem Schlafe aufgeschreckt, öffnete unwillig, und führte den späten Gast die Stiege hinauf, denn er sah gleich, daß der Mann allein nicht würde hinaufkommen.

»Der Bruder sei schon lange zu Hause,« brummte er, öffnete die Tür, schob ihn in die Stube und zündete ein Licht an. Dann schlurfte er hinaus und überließ ihn sich selbst.

Ulrich stützte sich gegen den Tisch, und hielt sich mit der Hand die glühende, schwere Stirn. So übel, wie heute, war ihm noch nie zu Mut gewesen. Nachdem er eine ganze Weile so gestanden, schien ihm plötzlich etwas einzufallen; er sah sich vorsichtig, mit unsicherem Blick, im Zimmer um. Der Anblick des wie es schien friedlich schlafenden Bruders schien ihn zu ernüchtern. Sein erstes Gefühl dabei war ein wehmütiger Neid – wer doch auch so still und sorglos schlafen könnte! Sorglos – ja, und da fiel ihm das andre ein: daß sein Geldbeutel leicht und leer geworden war.

Aber seine Sinne waren noch so umnebelt, daß er die Gedanken nicht festhalten, die Folgen nicht überlegen konnte. Mühselig begann er sich zu entkleiden. Jedesmal, wenn er dabei schwer gegen einen Stuhl oder Tisch stieß, hielt er erschrocken inne und sah ängstlich zum Rainer hinüber; aber der schlief ungestört weiter. Da versank auch er schließlich in einen schweren, unerquicklichen Schlummer. –

Rainer hatte noch nicht geschlafen und schlief auch überhaupt wenig in dieser Nacht. Ein stark ausgeprägtes Zartgefühl hatte ihn veranlaßt, sich bei des Bruders Heimkehr schlafend zu stellen; er wußte, wie unangenehm es jenem sein würde, sich in solchem Zustande vor ihm zu zeigen; er würde sich schämen, und aus der Scham würde Trotz werden; Trotz, der sich gegen den andern kehren und ihm den Weg zu seinem Herzen versperren mußte.

Wie es nach schlaflosen Nächten zu gehen pflegt, litt es ihn nicht mehr zu Bett, als das Tageslicht durch das Fenster zu scheinen begann. Möglichst geräuschlos stand er auf und kleidete sich an. Er vermied es solange als möglich, den Bruder anzusehen, aus Furcht, das könne ihn wecken, obwohl sein schnarchendes Atmen von einem festen Schlaf zeugte. Erst als er ganz fertig war, trat er an Ulrichs Lager.

Es tat ihm in der Seele weh, den Bruder so zu sehen; mit wirrem Haar, mit geschwollenen Augenlidern, mit unnatürlich gerötetem Gesicht; mit einem Ausdruck, der deutlich verriet, mit wie unsäglich eklen Empfindungen er eingeschlafen war; und mit dem zuwidren Geruch, den er ausatmete. Rainer mußte plötzlich daran denken, wie Barbara ihm gestanden: in solchen Augenblicken ekle sie sich vor ihm. Er konnt's ihr nicht verdenken.

Auf dem Stuhl vor seinem Bett lagen seine Sachen, unordentlich durcheinander geworfen. Obenauf lag der Geldbeutel; er sah schlapp und leer aus. Rainer betrachtete ihn eine Weile; dann hob er ihn vorsichtig auf und wog ihn in der Hand. Er war sehr leicht. – Als Rainer ihn wieder hinlegte, seufzte er tief und sorgenvoll. – Einem körperlichen Bedürfnis folgend, ging er und öffnete das Fenster. Die herrliche Morgenkühle quoll herein. Der Fluß und die Wiesen dampften; die Stadt war in rosiggrauen Dunst gehüllt. Ueber den östlichen Bergen kündigte ein leuchtend aufdämmerndes Licht den nahen Sonnenaufgang an.

Rainer ging wieder zurück und faßte den Bruder an der Schulter. Es kostete ihn einige Mühe, ihn wachzurütteln.

»Steh' auf, Uli!« rief er ihn an, als er endlich blinzelnd die Augen öffnete. »Wir müssen uns auf den Heimweg machen, wenn wir nicht just die Mittagssonne fassen wollen!«

Ulrich stieß ein paar mißmutige Töne aus und drehte sich nach der Wand. Rainer aber ließ nicht nach, bis er ihn völlig ermuntert hatte.

»Ich glaub's schon, daß du noch gern ein wenig ruhen möcht'st, denn es ist wohl spät geworden gestern, und so etwas macht müd'. Aber versuch's nur und komm heraus. Die frische Gottesluft wird dir wohler tun, als das Liegen in den heißen Federn. Mach', steh' auf. Indes du in die Kleider fährst, werd' ich uns unten ein Frühstück bestellen!«

Wenn schon Ulrich sehr verschlafen war, und eine bleierne Schwere in Kopf und Gliedern spürte – soviel sah er doch, daß Rainer ein sehr ernstes, beinah' trauriges Gesicht machte. Es war ihm daher sehr lieb, daß der Bruder hinunterging und ihn allein ließ. So konnt' er sich vorerst sammeln; denn um keinen Preis wollt' er vor ihm den Verlegenen oder gar den Zerknirschten spielen. Sein Blick fiel auf den Geldbeutel, den er vor dem Schlafengehen wohl noch zu allerletzt einmal in die Hand genommen und dann da obenauf geworfen. Hatte der Rainer ihn gesehen – hatte er ihm alles verraten? Gleichviel – er sollt' sich's nicht einfallen lassen, darüber zu reden.

Als er hinunterkam, machte er ein gewaltsam vergnügtes Gesicht und fing gleich von diesem und jenem zu reden an; es wollt' aber nicht recht vorwärts gehen mit der Unterhaltung. Ulrich fühlte sich zudem körperlich schlecht und würgte nur mit Anstrengung ein paar Bissen hinunter. Mit Rainers Vorschlag, sogleich den Heimweg anzutreten, war er einverstanden.

»Und wie ist's mit deinem Knecht?«

»Der hat Erlaubnis zu gehen wann er will; wenn er sich nur heut Abend auf meinem Hof meldet.«

»Und die andern – deine Bekannten – wann gehen die?« fragte Rainer, ohne den Bruder anzusehen.

»Ich weiß nicht. Jedenfalls nicht in der gleichen Früh, als wir!«

»Und werden sie nicht nach dir fragen?«

»Glaub's schwerlich. Und wenn – nun, so fragen sie halt umsonst.«

Rainer äußerte weder Staunen noch Freude. Sie zahlten die Zeche und machten sich auf den Weg.

Die Sonne stieg eben über die Berge, als sie die letzten Häuser hinter sich ließen und über die Matten auf Wilderswyl zuhielten. Ein würziger Duft stieg von dem herbstlich kurzen Grase auf, das, von Tau schwer getränkt, in der Morgensonne funkelte und blitzte. Nach einer Stunde erreichten sie die Talenge der Lütschine, an deren brausenden Wassern entlang der Fahrweg aufwärts führt, oft in mehrfachen Windungen die Steigung innehaltend.

Bis hierher waren sie sehr schweigsam gewesen; ein jeder hing seinen Gedanken nach und bracht's nicht fertig, in gleichgiltigem Ton zu schwatzen. Nun sagte endlich der Rainer, indem er sich näher an des Bruders Seite hielt:

»Wie war's denn noch am gestrigen Abend, Uli?«

Ulrich Amberger sah den Fragenden mißtrauisch von der Seite an.

»O – sehr pläsierlich war's!« entgegnete er dann. »Tut mir nur leid, daß wir so verschiedenen Geschmack haben und uns nicht miteinander die Zeit vertreiben konnten!«

»Das laß dich nicht kränken. Mir ist die Zeit nicht lang geworden.« Wieder war die Unterhaltung zu Ende und sie schritten schweigend nebeneinander aus. Dann begann der Rainer:

»Was hast denn eingekauft zum Mitbringen für deine Frau?« Ulrich machte ein verblüfftes Gesicht, blieb unwillkürlich stehen, wurde rot und sagte ärgerlich:

»Meiner Treu – das hab' ich vergessen!«

Es war ihm wirklich und ehrlich leid, denn er war sonst ein guter Ehemann, der jede Gelegenheit wahrnahm, der Frau eine kleine Freude zu machen und ihr zu beweisen, daß er in der Abwesenheit ihrer gedacht habe. Besonders heut wäre das wohl angebracht gewesen; es hätte sie ein wenig milder stimmen können, wenn sie erfuhr, was sie ja doch erfahren mußte. – Rainer, des Bruders Verlegenheit gewahrend. sagte gutmütig:

»Ich hab' gestern auf dem Markt ein blaues Seidentuch gefunden, von dem ich dachte, es müßte ihr gut zu Gesicht stehen und würd' sie ein wenig freuen. Ich will es dir gern lassen –« Dabei zog er etwas in weißes Papier Gewickeltes aus der inwendigen Rocktasche. Ulrich streckte schon die Hand darnach aus – zog sie aber über irgend einem Gedanken wieder zurück.

»Laß nur,« sagte er finster. »Es möcht ihr mehr Freude machen von dir, als von mir.«

Rainer hatte aber gar keinen Sinn für diesen Einwand, und ließ nicht eher nach, bis Ulrich sein Anerbieten annahm.

»So sag' mir, was es dich gekostet hat,« verlangte er, »damit ich dir's zurückerstatte.« Davon wollte Rainer erst recht nichts hören.

»Laß doch, Uli! Seit wann ist denn so etwas gewesen unter Brüdern!« Dabei dachte er an den hohlbäuchigen Geldsack, hütete sich aber wohl, etwas davon zu sagen.

»Nun, so will ich's ihr geben als von uns beiden,« entschied endlich Ulrich, und steckte das Tuch ein, ohne es nur erst anzusehen.

Sie hatten Zweilütschinen erreicht und damit den halben Weg gemacht. Da faßte Rainer einen Entschluß, mit dem er schon die ganze Nacht und auf dem ganzen bisherigen Wege gerungen hatte.

»Uli,« sagte er, »ich möcht dir was erzählen!«

»Nun – was?« fragte der andere, einigermaßen beunruhigt durch den ernsten Ton und das noch ernstere Gesicht.

»Ich möcht dir erzählen, warum ich mit dem Uttdörfer nichts zu schaffen haben will und kann.«

Das kam dem Ulrich gar nicht erwünscht. Er will mir's erzählen, um mich gegen ihn einzunehmen, dachte er, und beschloß sofort trotzig, sich nicht das selbständige Urteil trüben zu lassen.

»So erzähl's!«

»Vorerst aber versprich mir, daß unter uns bleibt, was ich dir jetzt sagen werd'!« sagte Rainer sehr eindringlich.

»Tust ja, als ob's einem von uns an die Ehre ginge!« spottete Uli ein wenig gereizt und unsicher.

»Wirst's ja hören.« Und dann, während sie gleichmäßig nebeneinander herschritten, erzählte der Rainer.

»Es war in dem Sommer, als du um die Barbara freitest; da hattest du nicht Zeit, auf andre Leute zu denken und zu achten; also auch nicht auf mich. Ich mag's wohl auch sehr unmerklich getrieben haben; ich war noch sehr jung – zwanzig Jahr – und da ist man oft gar scheu in Liebesangelegenheiten. Kurzum – als du die Barbara liebtest, da liebte ich Margred Burgner.«

»Dem Uttdörfer seine Braut?!« fuhr Ulrich in höchstem Erstaunen aus.

»Das war sie damals nicht,« entgegnete Rainer sehr nachdrücklich. »Sie war völlig frei, und vom Uttdörfer war nicht die Rede. Sie war ein scheues blondes Ding, man sah sie kaum je auf der Straße. Ganz zufällig lernt ich sie kennen, unten im Grund im Ellerngehölz. Sie war so alt, als ich, sah aber noch wie ein halbes Kind aus. Ich fand Gefallen an ihr – und sie an mir. Wir trafen uns öfter. Und es dauerte nicht lange, da sagten wir uns, daß wir uns gut seien; nun ja, und wir herzten und küßten uns wie Brautleute.«

»Rainer! ja – aber wie ist denn das nur möglich!« rief Ulrich ganz außer sich. »Und davon hab' ich nichts gewußt!«

»Hör' erst zu End',« sagte Rainer. Er ging mit denselben großen Schritten weiter, und trotzdem es nicht eben heiß war, wischte er sich die Stirn. »Wir versprachen einander Lieb' und Treu', und machten aus, daß es vorerst geheim bleiben müsse, denn ich hatt' und war ja noch nichts, daraufhin ich hätt' einen Hausstand gründen können. – Das war im Juli. Im folgenden Monat mußt' ich mit dir ins Heu, und konnt' mich nicht viel um meine – Braut kümmern. Du warst gar sehr in Anspruch genommen durch deine Barbara, und wenn du mich bat'st: geh, Raini, nimm mir den Gang ab, steig' du statt meiner zum Mettenberg – so mocht ich dir's nicht abschlagen, denn ich gönnte dir deine Zeit, und durft' ja auch nicht reden von dem, was mich unten festhielt, so gut wie dich. Ich konnt' Margred Burgner auch gar gut sich selbst überlassen, denn ihre Treu war mir ebenso ein Gewisses, wie daß die alten Berg' nicht baufällig werden könnten. – Und dann merkt' ich, daß sie scheu und unsicher wurde vor mir; sie küßte mich nicht, wenn ich sie küßte, und wenn ich sie um ihr sonderbares Verhalten fragte, hatte sie Tränen in den Augen und sah mich an, wie ein verängstetes Lamm. – Ich hab' schwer gelitten in den Tagen, denn ich wußte, daß sich ihr Herz von mir abwendete, und daß sie sich's nur noch nicht zu sagen getraute. So quälten wir uns eine Woche oder zwei, und es ward immer schlimmer. Endlich war ich mit mir im klaren, was ich zu tun hatt'. Und als ich's einmal wußte, mußt's auch gleich geschehen. Ich ließ die Heuarbeit im Stich, und lief hinunter, früher als sonst. In ihrem Hause konnt' ich die Margred nicht suchen, denn ihre Eltern wußten nicht um unsere Liebe. Im Gehölz, wo sie mich abends zu erwarten pflegte, war sie nicht. Ueberlegend, wie ich's anfangen möcht, sie zu treffen, fällt mir ein, daß ihre Eltern ja heut hatten fortgewollt, zu Gefreundeten nach Burglauenen; sie sollte in der Zeit das Haus hüten. Das traf sich gut. Ich gehe also doch ins Haus, und frag' nach ihr. Die Magd sagt, sie sei im Garten, und macht dabei ein Fratzen, von dem ich denk', es geht auf mich, und um daß ich beinahe die Hand gegen sie erhob. Aber mir war's Herz so schwer – darum ließ ich's. – Wie ich das Gärtchen betret', springt auf der andern Seit' jemand über den Zaun hinaus, den ich nicht mehr erkenne, und drückt sich in die Büsche. In der Laube grad neben der Haustür aber hör' ich die Margred weinen.«

Rainer mußte eine Pause machen, ehe er fortfuhr:

»Und nun kam alles zu Tage. Sie bat mich, ich möcht ihr ums Himmelswillen ihr Wort zurückgeben; sie könnte nicht die Meine werden; sie habe sich in ihrem Herzen geirrt; sie liebe nicht mich, sondern den Uttdörfer. Seit wann? frag' ich. Seit etlichen Wochen. Ob er nicht wisse, daß sie mit mir versprochen sei? Ja, sie habe es ihm gesagt; aber er habe sich nicht daran gekehrt; und es sei auch jetzt ganz gleichgiltig. Nein, sagt' ich, es sei nicht gleichgiltig, und ich würde auf meinem Recht bestehen. Ich soll's nicht tun, hat sie da gefleht und ist schier außer sich geraten, um meiner selber willen sollt' ich's nicht tun, denn er würde mich und mein Recht nur auslachen; sie – sie habe ihm auf sein ungeberdiges Drängen sich bereits in Liebe ergeben. Und sie bereue es auch nicht; sie müßten einander angehören, und der Uttdörfer sei imstande, mich totzuschlagen, wenn ich ihm Schwierigkeiten mache. – Erst werd' ich ihn totschlagen, sagt' ich, und wandte mich zum Gehen. Ja, ich wollt's wirklich, und ich hätt's auch getan; ein kalter Teufel war in mich gefahren. Aber da ist mir die Margred zu Füßen gefallen; meine Knie hat sie umklammert mit ihren Armen, daß ich keinen Schritt hab' tun können. Gebeten hat sie und gefordert, erst müsse ich sie totschlagen, denn ohne ihn wolle sie auch nicht mehr leben. Völlig verwandelt war sie, wild und ungeberdig. Und ich – nun, ich hab' ihr versprochen, was sie gewollt hat; sie jammerte mich, und für mich war es ja nun doch aus mit ihr. Was sollt' ich mit einer Braut, deren Herz, deren Ehre mir ein andrer gestohlen. Es wäre zu meinem und ihrem Glück nicht gewesen. Rächen wollt' ich mich nicht; mir war, als hätte sie selbst sich die schwerste Strafe gefunden. – Die letzte Lieb', die ich ihr antat, war, daß ich den Uttdörfer ungeschoren ließ. Nachdem ich den ersten Zorn überwunden, wurd' es mir nicht einmal schwer, so gründlich mußt' ich ihn verachten. Ich hab' nicht ein einziges Wort mehr mit ihm gesprochen, und wo ich ihn traf, hab' ich ihm den Rücken gekehrt.«

»Raini –« hub Ulrich tiefbewegt an, trat zum Bruder und legte ihm im Weitergehen den Arm um die Schulter. »Raini, nicht wahr, und das ist's gewesen, was dich in die Ferne trieb?«

»Freilich, das war's. Den Mann – den hätt' ich am End' ertragen. Aber das Mädchen – ich hatt' es halt gar zu lieb. Weil du mich batest, bin ich noch zu deiner Hochzeit geblieben, und hab's erlebt, daß sie ein öffentliches Brautpaar wurden, nach vielem Weigern der Eltern, die wohl voraus wußten, daß ihrer Tochter nicht viel gutes kommen würde aus dieser Ehe. Aber die Margred war ja rein von Sinnen vor Lieb'. Ich hab' sie Arm in Arm die Dorfstraße gehen sehen, an mir vorbei, und hab' mit keiner Wimper gezuckt. Aber als ich dann endlich auf und davon kam, war mir's doch lieb. Das Maß war voll –.« Er schwieg und atmete heftig auf, als hätten die alten Erinnerungen ihm die Brust bedrückt.

»Und daß du nun zurückgekommen bist,« fragte Ulrich, immer noch den Bruder umschlingend, »ist das ein Zeichen, daß du's überwunden hast?«

»Ja,« entgegnete Rainer fest. »Man überwindet mancherlei mit zwanzig Jahren, wovon man denkt, man überkommt's nicht lebendig. Wär ich zehn Jahre älter gewesen – wer weiß –«

»Und hast sie schon wiedergesehen, die Margred?«

»Nein; ich hab's vermieden; es möcht' ihr nicht lieb sein.«

»Wirst's auf die Länge doch nicht vermeiden können!«

»Freilich nicht. Aber ich fürcht's nicht. Es dünkt mich jetzt manchmal, als sei's gut so, wie es gekommen ist; als wär sie die Rechte für mich doch nicht gewesen.«

»Für Margred ist's nicht gut so. Mit dir wär sie besser gefahren. Er ist ein roher Gesell, auch gegen sie. Und trotz allem, glaub' ich, liebt sie ihn immer noch!«

»Ich will's ihr wünschen!« sagte Rainer. Und dann, bemerkend, daß seine Erzählung auf Ulrich den gehofften Eindruck nicht zu machen schien, fuhr er schnell fort: »Ich hab' dir das alles nicht gesagt, um zu klagen oder deine Teilnahme zu hören. Ich hab' alles mit mir allein ausgemacht, und es ist lang überwunden. Ich hab' dir nur wollen meine Stellung zum Uttdörfer erklären – daß du doch Bescheid weißt!«

Ulrichs Arm glitt langsam von des Bruders Schulter herab. Es lag etwas Zögerndes in der Bewegung; als wolle er nicht, und könne doch nicht anders. Dann sprach er:

»Und nun meinst du: wer heimtückisch und schlecht an dem einen Bruder gehandelt hat, mit dem darf auch der andre keinen Umgang haben. Du hast sehr recht, Raini. Dein Erlebnis kommt den Absichten sehr zu statten, die du mit mir hast!«

»Ich mein, wir gehören zusammen,« sagte Rainer einfach.

»Gewiß tun wir das. Aber schon immer. Und nun möcht ich wissen, warum du heut auf einmal herauskommst mit einer Sache, die du sieben Jahre vor mir geheim gehalten hast!«

»Weil ich erst allmählich erfahren hab', wie weit du dich mit dem Uttdörfer eingelassen hast.«

»Und doch wär's schon besser gewesen, du hätt'st nicht so lang gewartet!«

Ulrich schlenderte auf die andere Seite des Weges, zerstreut und absichtslos; und doch war es wie ein Ausdruck seiner inwendigen Gedanken.

»Ich kann mir den Uttdörfer heut nicht mehr zum Feinde machen,« sagte er nachdrücklich von drüben her. Rainer sah erschreckt auf.

»Warum nicht? Bist ihm was schuldig geblieben?« entfuhr es ihm.

»Frag' nicht,« fuhr ihn Ulrich an. »Das sind meine Sachen.«

»Ich hab' dir viel Vertrauen bewiesen, Uli!«

»Ich weiß dir's Dank und werd's bewahren – und mich darnach richten, soviel ich kann.« –

In bedrücktem Schweigen legten sie das letzte Wegende zurück. Bei den ersten Häusern von Gydisdorf trennten sie sich.

»Ich möcht gleich hier links gehen,« sagte Rainer. »Ich hab' da einen gemächlicheren Aufstieg, als wenn ich bei dir vorbeigeh'.«

»Du könnt'st aber bei mir eintreten und zu Mittag bei uns speisen,« meinte Ulrich.

»Ich dank' dir schön – auf ein andermal. Meine Leute erwarten mich.« Ulrich redete nicht mehr zu.

Sie gaben sich die Hand und sahen einander lang in die Augen, als müßten sie sich noch etwas fragen; etwas sehr Wichtiges; das Allerwichtigste. Sie taten es aber nicht, sondern trennten sich stumm und gingen ein jeder seinen eigenen Weg.

 

* * *


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