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Rainer war des Ambergers einziger Bruder und nur um ein weniges jünger als der. Beide hatten sie dem Vater in der Wirtschaft geholfen, bis er gestorben, und die Mutter mit der Schwester zu Verwandten ins Haslital gezogen war und ihnen den Hof allein überlassen hatte. Zusammen hatten sie ihn bewirtschaftet in geschwisterlicher Eintracht zwei Jahre lang. Um die Zeit, als Ulrich der Barbara nachging, faßte Rainer den Entschluß, ins Ausland zu gehen – man sagte, um einer unglücklichen Liebe willen, obwohl niemand so recht darum wußte. Dem Bruder zulieb blieb er noch, bis der sich sein junges Weib hatte antrauen lassen. Am andern Morgen verließ er die Heimat. Er ging in die Lehre zu einem Baumeister im Badischen, und leistete dort Tüchtiges, wie er überhaupt alles, was er anfaßte, mit Ernst betrieb. Er bekam bald eine Anstellung, wurde viel umhergeschickt, lernte Länder und Menschen kennen, und blieb doch stets in seinem Herzen ein Oberländer mit jedem Blutstropfen. Nachrichten von ihm waren selten gekommen. Was sollte er auch anders schreiben, als daß er lebe, und gesund und zufrieden sei? Von seinem Handwerk verstanden sie daheim wenig oder gar nichts: die Gegenden, die er bereiste, kannten sie nicht einmal dem Namen nach. Gelegentlich würde er ja nach Hause kommen, und dann konnte man mündlich ja alles nachholen.

Und nun war es soweit. Nun saß er unter dem väterlichen Dach, aß die selbstgewonnene Nahrung und atmete den Duft der Bergwiesen, den er sieben lange Jahre entbehrt hatte.

Als Ulrich Amberger ahnungslos nach Hause kam, und den Bruder an seinem Tische sitzend fand, brach die helle Freude erquickend bei ihm hervor. Verschwunden war der letzte Rest der bedrückten Morgenstimmung. Er schloß den Langvermißten in die Arme und sah ihn stolz und zärtlich an.

»Was bist für ein schöner Mann geworden, Raini, und warst so ein schmächtiger Bursch, als du auszogst!«

Und dann fingen sie an zu fragen und zu erzählen, und waren gleich wieder auf dem alten, vertrauten Fuß miteinander, als seien sie nicht sieben Jahre, sondern sieben Stunden voneinander getrennt gewesen.

Inzwischen ging Barbara, das kleine Zimmer auf der Stiege für den Rainer herzurichten; auch fügte sie in aller Eile dem einfachen Mittagessen noch eine besondere Schüssel zu. Sie war dabei ganz fröhlich. Der Schwager hatte ihr einen guten Eindruck gemacht; vielleicht, daß von ihm ein heilsamer Einfluß auf ihren Mann ausging. Dann rief sie die Kinder herein, wusch sie, hieß sie ihr Sonntagszeug anlegen und schickte sie auf die Veranda, dem neuen Ohm einen guten Tag zu bieten.

Als sie ein weniges später nachkam, hatte der Rainer das kleine Mareili auf den Knieen; die Buben drängten sich zu beiden Seiten eng an ihn; er plauderte mit ihnen, und sie antworteten und fragten zutunlich. Vor ihnen auf der Diele lag der zottige Wolfshund, sah bald zu seines Herrn Bruder auf, bald herausfordernd umher, als wolle er sagen: »Den hab' ich nun auch unter meinen Schutz genommen.«

Der Rainer hatte sich also auf irgend eine Art die Liebe der Kinder und des Hundes erworben.

Männer aber, welche mit Kindern und Hunden freundlich umgehen, sind gute Männer, dachte Barbara.

Das Mittagsmahl war fröhlicher, als es seit lange unter dem Ambergerschen Dache eingenommen worden war. Man sah, wie diese Fröhlichkeit dem Ulrich gut tat; er dehnte sich ordentlich darin, wie ein Baum in der Sonne, während Barbara sich zurückhaltend verhielt, als wolle sie sich nicht erst an einen Zustand gewöhnen, der voraussichtlich doch keine Dauer haben würde.

Als die größte Tageshitze vorüber war, stieg der Bauer mit dem Bruder, der sich einen ländlichen Anzug kaufen wollte, ins Dorf hinunter, und um einige alte Bekannte zu begrüßen. Es war bereits Abend, als sie heimkehrten, und Barbara war schon ungeduldig geworden. Als der Rainer in der kleidsamen, derben Bauerntracht, die er vor Freuden an den heimatlichen Gebräuchen gleich angezogen hatte, zuerst ins Zimmer trat, hätte sie ihn fast für ihren Mann angesprochen, so groß trat die Aehnlichkeit der beiden zu Tage.

Dann, im Dunkeln, saßen die Brüder auf der Bank vor dem Hause unter den Ahornbäumen. Sie hatten ihre kurzen Pfeifen angezündet und waren ein Bild behaglicher und einträchtiger Ruhe. Drüben schimmerte der weiße Schnee durch die blaudunkle Luft. Die Felsberge standen stumm und dunkel. Vom Talgrunde herauf rauschte die Lütschine wie eine ewige Woge.

Es war die Stunde und die Stimmung der Vertraulichkeiten.

»Weißt, Uli,« begann der Rainer nach langem Schweigen, »man muß erst einmal die Heimat verlassen und sich nach ihr gesehnt haben, wie ich mich gesehnt hab', um ganz zu erfahren, wie mächtig die Lieb' zu ihr ist, und wie groß das Glück, so eine schöne Heimat zu besitzen!«

»Magst schon recht haben. Aber ich mein', es hat dich niemand und nichts gehindert, wiederzukommen. Warum bist gar solange draußen geblieben?«

Rainer zuckte die Achseln und tat einen langen Zug aus seiner Pfeife.

»Ich hatt' einmal das Handwerk ergriffen – ich könnt' nicht solang ohne Arbeit sein, ich hätt' die Achtung verloren vor mir, wenn ich meine jungen Kräfte hätt' in Nichtstun verweichen lassen. Und dann – wovon sollt' ich leben? Mein Erbe könnt' ich nicht angreifen. Ist man aber erst einmal drin im Fach, so gewinnt man auch einen Eifer dazu, und Lust und Liebe, und die Ehre verlangt's, daß man nicht jeder Laune nachläuft.«

»Und willst denn immer draußen bleiben?« – Wieder verzog eine Weile, eh' die Antwort kam.

»Ich hatt's bei mir beschlossen. Nun mich aber die Heimat wieder hat, mein' ich, sie läßt mich nicht mehr los. – Wenn ich hier was fände – ein Stück Land zu kaufen – aber ich hab' ja Zeit genug, mir's zu überlegen.«

»So hält dich nichts draußen?« fragte Ulrich. »Hast keinen Schatz zurückgelassen in der Fremde?«

»Nein,« versetzte der Rainer kurz.

»Und hast gar nie mal Lust gespürt zu heiraten? All die Jahre nicht?« forschte Ulrich ungläubig weiter.

»Nein.«

»Wie ist das möglich – jung und gesund, wie du bist!« Und dann nach einer Pause, in gedämpfterem Ton, fast schüchtern: »Hast sie noch nicht überwunden, die Sach', die dich damals hinaustrieb?«

»Warum erinnerst daran! Das waren Burschenstreiche.«

»Nun, ich hab' nie ein Genaues gewußt darum. Ich muß sagen, Raini, es war das einzige Mal, solange wir Brüder sind, daß du dein Herz vor mir verschlossen gehalten hast, und ich war dir fast gram darüber. Aber ernst, mein' ich, muß es doch gewesen sein, daß es dich hat aus der lieben Heimat treiben können!«

»In der Jugend ist man hitzig,« sprach der Rainer ruhig; »bekommt man da einmal nicht seinen Willen, so meint man, die ganze Welt tauge nicht viel, und möcht' sie am liebsten verlassen. Wird man älter, so kommt die Ruhe. Und damit bringt man es sehr viel weiter.«

»Freilich, freilich – magst wohl recht haben. Und behalt' nur für dich, was du immer noch nicht scheinst sagen zu mögen. Das Vertrauen läßt sich nicht zwingen, wo's nicht von selber kommt. – Freun würd's mich aber doch, wenn d' bald was finden tätst fürs Herz, und zum Heiraten kämst, 's ist notwendig für uns Mannsleut', wenn's auch oft unbequem ist – aber 's ist besser.«

»Ja, du hast Glück gehabt,« sagte Rainer, augenscheinlich gern auf etwas anderes kommend. »Die schmale Dirn mit dem blassen Gesicht ist eine stattliche Bäuerin geworden, auf die du stolz sein magst!« Die Worte freuten den Amberger.

»Sie hat das meiste Ansehen im ganzen Grindelwald,« sagte er wohlgefällig, »und das hat sie sich ganz allein geschafft; denn es tut's ihr keine gleich an Fürnehmheit, wenn sie auch die Allerärmste unter ihnen war. Es hat noch nie eine auf dem Hofe gesessen, die's völliger wert gewesen wäre.«

Hier mußten sie ihre Unterhaltung enden, denn Barbara trat aus dem Hause, blieb einen Augenblick stehen, tat Umschau nach den Bergen, strich die große, breite, blaue Schürze glatt, kam langsam über den schmalen Platz und setzte sich neben ihren Mann auf die Bank.

*

»Laß dich nicht in deiner Geschäftigkeit stören,« hatte der Rainer zum Ulrich gesagt. »Ich tu alles mit, was vorkommt.« So machten sie sich am folgenden Tage auf ins Heu.

Es war Sonnabend, und der Bauer wollte das fertiggetrocknete Gras noch unter Dach bringen. Dann gab es auch noch ein Stück zu mähen – das konnte dann über Sonntag liegen und dürr werden. Er beschloß, den ganzen Tag auszubleiben, damit die Arbeit gehörig gefördert werde; auf die jungen Knechte war kein Verlaß, wenn man sie allein ließ. – An solchen Tagen pflegte Barbara nachzukommen, um dem Manne auf der Alm ein Essen zu bereiten; die Kinder, soweit sie den Weg nicht machen konnten, blieben bei einer Nachbarin. Heut hatte sie keine sonderliche Lust dazu.

»Ihr seid zu zweien,« sagte sie, »da fehlt's nicht an Gesellschaft; ich leg' euch Brot und kalte Zukost zusammen, das tragt ihr ohne große Beschwer hinauf«.

Ulrich wußte nicht, ob es ihr recht sein würde, wenn er dawiderredete, und schwieg. Um so lebhafter widersprach der Rainer. Sie müsse gewiß mit, er sei dem Bruder kein Ersatz für sie, und mit kaltem Essen, daran sie sich erst müd schleppen müßten, nähm' er nicht vorlieb.

»Wenn ich euch was kochen soll, müssen wir's doch auch erst mit hinauftragen«, sagte Barbara lächelnd. Rainer ließ sich nicht aus der Fassung bringen.

»Da sind wir zu dreien, da trägt sich's leichter«, sagte er. »Also komm schon mit, Schwägerin, damit wir zusammenbleiben. Ich will mir einen fröhlichen Tag machen mit euch da oben – hab' sie lang genug entbehrt, die grüne Almenherrlichkeit!«

Sie ließ sich wirklich herumreden, und Ulrich ärgerte sich, daß er das nicht selbst versucht und gekonnt hatte. Ja sie fand sich sogar bereit, mit den Männern zugleich zu gehen, statt erst auf Mittag nachzukommen.

»Was wirst du in der großen Sonnenhitz' da hinaufsteigen – das wär ja nicht g'scheit!« hatte der Rainer gesagt; und sie fand, daß er recht hatte. So packte sie in einen Korb, was nötig war, mitzunehmen, und brachte Christen und Mareili zur Nachbarin. Der Alois durfte mitgehen; Ohm Rainer hatte versprochen, ihn zu tragen, wenn's ihm zuviel werden sollte. Sie schlossen das Haus ab, und machten sich zu vieren auf den Weg.

Ueber die Wiese hinunter und quer über die Straße, an der Kirche vorbei und auf schmalem Wege zum Talgrund hinunter ging es mit rüstigen Schritten. Ueberall hatte der Rainer zu grüßen und zu winken, die, welche er schon gesehen hatte, und die andern, die bis jetzt nur erst von seiner Heimkehr hörten. Er tat es mit lachendem Gesicht und fröhlichem Zuruf und die Freude leuchtete ihm immerfort aus den Augen. Barbara sah ihn heimlich an und dachte: so kann doch nur ein Mensch aussehen, der ein schneeweißes Gewissen hat und seine Seele gleich vor aller Welt offenkundig hinlegen könnte!

Auf grober Brücke aus Tannenstämmen überschritten sie das brausende Wasser, bei einer Sägemühle, deren Schöpfrad sich fleißig drehte, und weißen Gischt umherspritzte. Dann begann der Pfad, durch Wald und Wiesen aufwärts zu steigen, an einzelnen kleinen Höfen vorbei, bis diese aufhörten, und nur noch die braunen Schober und Viehhütten auf dem grünen Teppich der steiler werdenden Hänge gleich großen Nestern hingen.

Das scharfe Steigen machte, daß sie alle schweigsam waren. Dann und wann blieb Barbara stehen, um einmal frei aufzuatmen. Ihre Brust dehnte sich dabei, ihre Wangen waren jugendlich gerötet. Durch die geöffneten Lippen aus und ein ging der Atem, ihre Augen leuchteten von innen heraus. Das Wandern und Steigen in solcher Luft tut wohl an Leib und Seele. Barbara, die mehrere Tage hintereinander den Hof nicht verlassen hatte, empfand es mit hingebender Lust. Seit der dumpfe Sorgendruck auf ihr lag, hatte sie die Freude am Herumsteigen verloren; gönnte sie sich auch keine Muße mehr dazu, sondern meinte, um so rastloser an ihrem Teil arbeiten zu müssen, wo der Amberger zuviel feierte. Heute hatte sie sich fast wider Willen den Männern angeschlossen; nun war sie des froh, und schritt je länger je rüstiger aus und fing sogar an, gesprächig zu werden.

Auf der Alm mähten zwei Knechte das blühende Gras, und zwei Mägde warfen den üppigen Schwaden mit dem Rechen auseinander, damit die saftige Mahd schneller und würziger trockne. Auf einem höher gelegenen Wiesenstück, lag schon das Heu zu Haufen geschichtet und harrte des Einbringens.

Die Sennhütte, die seit Wochen leer stand, weil man das Vieh höher hinaufgetrieben hatte, war sauber gefegt und gelüftet. Barbara hielt darauf, denn sie wollte es ordentlich um sich haben, wenn sie hier heraufkam. Sie stellten den Korb mit dem Mundvorrat auf den kalten Herd in der engen Küche, und während die Frau sich ans Auspacken und Zurichten machte, gingen die Männer an die Arbeit. Sie stiegen hinauf zu der oberen Alm und prüften das Heu ob seiner Trockenheit; und nachdem sie es für gut befunden, schickten sie die Knechte mit dem Handschlitten hinauf, daß sie es zum Schober herabbrächten. Sie selbst griffen zu den Sensen.

»Wirst's noch können, Raini?« rief Ulrich, und lachte dem Bruder zu. Der ging statt aller Antwort an den Platz, den der Knecht eben verlassen, und hieb ein. Das ging, als habe er nie andre Arbeit getan. Die sehnige Kraft seines Körpers kam so recht zum Ausdruck dabei. Nur solang aushalten konnte er noch nicht. Als er nach wenigen Minuten die Sense absetzte, schien er in Schweiß gebadet und der Atem ging schneller und stärker. Aber er lachte fröhlich, als er sich mit dem bunten Sacktuch die Stirn wischte.

»Heiß ist's halt!« rief er pustend.

»Das will ich meinen,« gab Ulrich zurück, nun seinerseits innehaltend, obschon's noch nicht nötig gewesen wäre. »Deine Arme können's schon noch – nur die Lunge ist aus der Uebung!«

»Die Heimatluft wird sie's bald wieder lehren,« rief Rainer fröhlich, und machte sich wieder ans Mähen. Seit Jahren habe ihm keine Arbeit so wohlgetan, meinte er.

Barbara lehnte in der Hütte Tür und sah ihnen zu. Wie sie die beiden so rüstig schaffen sah, und zwischendurch miteinander plaudern und lachen hörte, kam ihr ein Bibelvers in den Sinn: »Siehe, wie fein und lieblich es ist, wenn Brüder einträchtig mit einander wohnen.«

Ja, wirklich, fein und lieblich war es anzusehen; und dazu der würzige Duft von all den Kräutern in der Sonnenwärme, das Zirpen der Grillen, das Piepen und Zwitschern der Vögel, das Plätschern des Brünnleins; und endlich vom Kirchlein heraus die Mittagsglocke. – Der Barbara wurde weich ums Herz; sie fühlte es sogar feucht werden in den Augen. Sie hatte in letzter Zeit soviel Unfrieden gespürt im Hause und im Herzen, nun übernahm sie der große, sonnige Friede ringsum –

Die Welt, wie Gott sie geschaffen im Anfang, war voll von solchem Frieden; daß heut soviel Unfried darinnen ist, das haben die Menschen getan. Und darum ist die Einsamkeit der Natur so schön, weil man da einmal zum Frieden zurückkehrt.

Als die helle Glocke schwieg, ging Barbara hinein, um auf dem lustig knisternden Holzfeuer einen Pfannenkuchen zu backen, zu dem sie schon einen guten Eierteig geschlagen hatte. Dazu briet sie ein paar Scheiben Speck schön goldbraun, daß der Duft über die Wiese zog, und schnitt das weiße Brot in Scheiben. Dann weckte sie den Alois, der im Grase hinter der Hütte fest eingeschlafen war, und er mußte ihr helfen, die Mahlzeit vor der Türe aufzustellen, denn da, im schützenden Schatten der Bretterwand, war's schöner und luftiger als im dunklen Innern.

Der köstliche Speckduft hatte die Männer an die Zeit gemahnt, und an ihre hungrigen Magen. Sie legten die Sensen fort und kamen herbei. Im Grase ausgestreckt, nahmen sie miteinander das Essen ein, und es war schwer zu sagen, wer von ihnen der eifrigste war. Dann hielten sie eine kleine Mittagsruhe. Nachher gingen sie nochmals an die Arbeit, während Barbara das Geschirr zusammenstellte, und die Magd anwies, es hernach mitzunehmen. Sie selbst ging mit dem Knaben voraus, um der Kleineren willen, die sie der Nachbarin nicht länger als nötig aufbürden mochte.

Es wurde ihr fast schwer, sich von der sonnigen Stätte zu trennen. Mehreremale blieb sie stehen, sah den Männern zu, sah hinauf zum blauen Himmel, über den ein paar schöne weiße Wolken zogen, und hinunter ins Tal, in dem das Dorf lag, so hübsch und sauber, daß man gleich hätt' damit spielen mögen. Es wollt ihr gar nicht in den Sinn, sich von dem Frieden hier oben trennen zu müssen. Bis sie sah, daß der Alois ihr weit voraus war; da lief sie schnell hinter ihm her. –

*

Seit einer Woche schon war Rainer Amberger als Gast in seines Bruders Haus, und Ulrich schien das Wirtshaus vergessen zu haben. Abends kamen die Bauern der umliegenden Höfe, um sich von des Rainers Erlebnissen erzählen zu lassen. Sie rauchten ihre Pfeife auf der Bank unter dem Ahorn, fragten und schwatzten, und Barbara saß dabei und hörte zu. Am Himmel glitzerten die großen, sommerlichen Sterne, der schmale Mond goß einen dünnen Lichtglanz über die Viescher Gletscher; das Heu duftete und die Lütschine rauschte. Manchmal lachte der Rainer, mit so einer echten, unverdrossenen Fröhlichkeit, wie ein Kind lacht. Dann stimmten die andern ein.

Sie hatten ihn als jungen Burschen alle so gern gemocht; er war so grade und ehrlich gewesen, immer guter Dinge, ohne Arg und niemanden Arges zutrauend. Genau so war er auch geblieben. Aber er war ein Mann geworden, hatte erlebt und geschafft; der Reiz unbekannter Dinge, die ihm vertraut geworden und seinen Landsleuten fremd geblieben waren, umgab ihn. Er tat sich nicht groß mit seinen Erlebnissen und seinem Wissen; er sprach davon nur, um ihnen Freude zu machen.

Am meisten freute sich Ulrich; es war ordentlich zu sehen, wie stolz er auf den Bruder war; seine Blicke füllten sich mit zärtlicher Bewunderung, die bei ihm, dem Aelteren, etwas Rührendes hatte, und manchmal schlug er dem Rainer kräftig auf die Schulter und sah sich im Kreise um als wollte er sagen: seht ihr, der da ist mein Bruder!

Der Verkehr mit ihm schien das Bedürfnis nach anderm Umgang ganz ausgelöscht zu haben. Rainers Angelegenheiten beschäftigten ihn ausschließlich. Sie handelten um ein kleines Gehöft mit Wiesen und einem Stückchen Wald oben auf dem Hertenbühl – einer sonnigen Matte, die sich oberhalb Gydisdorf an der Vergwange hinzieht. Den ganzen Tag, bei der Arbeit, beim Essen, hatten sie zu erwägen, zu beraten, zu bedenken. Ulrich unterstützte nach Kräften des Bruders Wunsch, sich hier anzusiedeln.

Barbara war glücklich; ihr Mann schien den Uttdörfer zu vergessen; und alles, was mit diesem Umgang sonst noch zusammenhing. Er war wieder geworden, wie er früher war, gutlaunig und häuslich. Jeder Schatten von Schuldgefühl und Vorwurf war zwischen ihnen gewichen; sie lebten wieder wie ein Ehepaar, bei dem alles in Ordnung ist. Sie sah ihn mit hellen Augen an, und er schlug den Blick nicht nieder. Er küßte sie, und sie wehrte ihm nicht. Sie schien es ganz vergessen zu haben, daß sie sich vor ihm geekelt hatte.

Und das alles hatte der Rainer getan. Wenn er den Hof auf dem Hertenbühl kaufte, so würde das die Rettung ihres Glückes sein. Sie tat, was sie ihm an den Augen absehen konnte; seine Anwesenheit erfüllte sie mit einer hoffnungsvollen Sicherheit.

Eines nachmittags – am Sonntag – saß sie mit ihm vor der Haustür. Ulrich war ins Dorf gegangen. Die Kinder spielten mit ihren Gesellen drüben jenseits der Straße. Es war heiß; der kalkige Staub auf dem Fahrdamm blendete ordentlich; wenn ein Wagen vorüberfuhr, erhob sich eine weißlichgraue, zähe Wolke. Wanderlustige Fremde kamen und gingen trotz Staub und Hitze auf allen Pfaden und Steigen.

»Habt ihr keinen Umgang mit dem Uttdörfer?« fragte der Rainer. Er hatte eine ganze Weile geschwiegen und nachdenklich die Dächer und Bäume all der ihm vertrauten Höfe gemustert, wie sie in bunter Unordnung längs der Straße und zu beiden Seiten weithin über die Hänge verstreut, im Nachmittagssonnenschein gleichsam zu ruhen schienen. Barbara sah auf.

»Doch –« entgegnete sie zögernd. »Der Uli ist mit ihm zusammen, wenn's sich so trifft. Ins Haus kommt er nicht mehr. Ich frag' auch nichts nach seinen Besuchen.«

»Warum nicht?« fragte der Rainer. Barbara atmete lang auf.

»Er ist ein Wirtshausgeher,« sagte sie, als erkläre das alles. Der Rainer sah nachdenklich aus.

»Das war er früher schon,« meinte er. »Ich dacht', im Ehestand würd' er sich bessern.« Barbara lachte kurz und spöttisch auf.

»Warum lachst?« fragte er, unangenehm berührt.

»Um den zu bessern, bedürft' es einer andern, als seiner Frau. Die ist immer still und geduldig, wie ein Engel, und schilt und klagt nie –«

»Ja – hat sie denn Ursach', zu klagen?« Barbara zuckte die Achseln.

»Sie muß schweigen, wie eine Hofmagd. Und wenn er betrunken ist, schlägt er sie.«

Ueber Rainers Gesicht glitt ein trauriger Schatten.

»Arme Gred' –« sagte er, mit einem Ton, der Barbara zwang, ihn aufmerksam anzusehn. »Kommt sie nie zu dir?« fragte er noch.

»Früher schon; aber nun ist sie lange ausgeblieben. Vielleicht hat er's ihr verboten, 's ist mir leid um sie, denn es tat ihr gut, wenn sie sich hier einmal ausruhte. Sie ist alt und elend geworden von den vielen Wehtagen. Aber sie hat's doch nicht anders gewollt. Du mußt's ja mit erlebt haben!« schloß sie, denn es fiel ihr ein, daß der Uttdörfer zu gleicher Zeit mit ihr Hochzeit gemacht hatte.

Der Rainer stand auf, klopfte seine Pfeife seitwärts an der Bank aus, und begann, sich eine neue zu stopfen; er blieb dazu stehen, seiner Schwägerin halb den Rücken wendend.

»Gewiß hab' ich's mit erlebt. Es war zur selben Zeit, als der Uli um dich freien ging. Die Gred' war ein junges Ding von zwanzig oder so herum, und rein närrisch vor Lieb' zum Uttdörfer. Die Eltern, unten im Grund, wollten's nicht zugeben, weil der Uttdörfer allenthalben für einen wilden Gesellen galt. Nun war's aber grade seine Wildheit, die's dem blonden Ding angetan hatte. Es gab böse Worte und viel Tränen. Endlich soll die Gred' gesagt haben, wenn man ihr nicht nachgäbe, so würde sie zum Uttdörfer gehen, ungetraut, denn die Seine müsse und wolle sie bleiben, sie hab' es ihm und sich selbst geschworen. Nun – da hat man ihr endlich den Willen gelassen.« Er hatte sein Pfeifchen in Brand gesteckt und tat den ersten, kräftigen Zug. Dann fuhr er fort: »Nun dacht' ich, ihre große Lieb' würd' ihr helfen, ihn auf bessere Wege führen –«

»Auch die größte Lieb' ist machtlos in sowas,« entfuhr es ihr hart. Jetzt sah er sie erstaunt an. Sie fühlte es, bereute ihre Worte, und sprach hastig weiter: »Sie hat nie etwas vermocht über ihn, und er hat sie ganz und gar zu grunde gerichtet.«

Darauf sagte der Rainer nichts. Er hatte sich wieder auf die Bank gesetzt; seine Augen waren völlig klar. Barbara rückte ein paarmal unruhig hin und her; dann begann sie verlegen:

»Da wir doch einmal davon reden, Schwager, so möcht' ich dir sagen – mir wär's recht, wenn auch du dich ein wenig zurückhieltest vom Uttdörfer. Es möchte den Umgang mit dem Uli befördern, wenn du dich freundschaftlich zu ihm stellst, und es ist dem Uli nicht gut, wenn er mit dem Uttdörfer geht –«

Sie sprach es stockend zu Ende, und der Rainer glaubte eine geheime Sorge aus ihrer Stimme, aus ihrem ganzen Wesen dabei zu erkennen.

»Laß dich das nicht kümmern,« sagte er. »Der Uttdörfer ist mir zuwider gewesen von jeher. Als kleine Buben schon rauften wir miteinander wie Hund und Katze. Ich hab' sein Haus noch nicht betreten und werd' das auch nicht tun. Das hab' ich auch dem Uli schon gesagt.«

Barbara sah auf.

»Hat er schon mit dir hingewollt?« fragte sie.

»Ja – als er mit mir den alten Freunden guten Tag sagen ging. Der Uttdörfer ist nie mein Freund gewesen, hab' ich ihm gesagt, und ich will's auch fürder nicht mit ihm versuchen; wir möchten wieder ins Raufen kommen.« –

Barbara mußte viel nachdenken über diese Unterhaltung mit dem Schwager. Daß er den Uttdörfer nicht mochte, war ihr sehr recht. Daß er sich für die arme Gred' so erwärmte, reizte ihre weibliche Neugier.

Abends, als sie mit Ulrich allein in der Stube war, fragte sie ihn:

»Sag', Uli, ist nicht der Rainer mal wegen einer Lieb' aus dem Lande gegangen?«

»Ja – ich glaub's; ich hab' selbst nie Genaues gewußt darüber. Wieso? Warum fragst?«

»Meinst du nicht, daß es am End' wegen dem Uttdörfer seiner Gred' gewesen sein könnt'?« Ulrich sah sie ganz verblüfft an. Dann lachte er hell heraus.

»Die Gred'! Haha! Die hutzlige Gred'!«

»Sie war nicht immer hutzelig!« sagte Barbara gekränkt. »Der Uttdörfer hat sich doch auch einmal in sie verliebt gehabt!«

»Der wird wohl mit ihren großen Truhen geliebäugelt haben, mehr als mit ihr!« rief Ulrich heiter. »Nein, die Gred' hat nie Aufsehen gemacht unter uns Burschen. Und der Rainer – nein, ich glaub's nicht, ich kann's mir nicht einmal denken!«

Eine Weile später, als sie schon zu Bett lagen und die Lampe gelöscht hatten, zupfte Barbara den Mann am Aermel:

»Uli – schläfst schon?«

»Nein doch; was willst?«

»Ich will nur – daß du dem Rainer nicht gar erzählst, was ich von ihm gesagt hab'!«

»Bist nicht gescheit, Bärbeli! Wer wird so ein Narr sein! Und nun mach', daß du d' Augen zudruckst!«

*

Am nächsten Sonntag nachmittag war der Ulrich zerstreut und unruhig, als ob irgend etwas ihn beschäftige, davon er sich nicht zu sprechen getraue. Als Barbara einmal das Zimmer verlassen hatte, wandte er sich zu seinem Bruder.

»Was meinst, Raini – gehen wir einmal aus, heut Abend?« Rainer, der am offenen Fenster saß und an einem Holzlöffel für das Mareili schnitzte, wandte langsam das Gesicht herum.

»Ja, wohin denn, meinst?«

»Zum Gletschwirt, nach Grund im Tal,« rief der Ulrich so leichthin. »Du triffst allerhand Leut' da, eine lustige Gesellschaft.«

Rainer stützte die Hand mit dem Schnitzmesser auf die Fensterplatte und sah den Bruder nachdenklich an.

»Weißt, Uli – ich bin kein Freund von den Wirtshäusern. In der Stadt, da bin ich wohl ab und an hingegangen, wenn ich sonst nichts mit mir anzufangen wußt. Gefallen aber hat mir's nimmer. Und hier, mein ich', wo wir die ganze schöne Gotteswelt zum Freitisch haben, wär's eine Sünd', sich ins dumpfige Wirtszimmer zu setzen und zu trinken, was im Freien viel besser schmeckt.«

»Es ist doch nicht nur ums Trinken,« brummte Ulrich.

»Um die Gesellschaft, meinst? Schau', ich sehn' mich nach keiner andern Gesellschaft, nun ich wieder in meiner Familie bin. Zudem haben wir Gesellschaft genug gehabt und können sie immer haben – draußen, vor deiner Haustür, unter den Ahornen. Das ist schöner als das Wirtshaus!«

»Es ist nur eben ganz ein anderes!« sagte Ulrich verstimmt.

»So geh' allein hinunter,« schlug der Rainer vor, und schnitzelte weiter – »wenn du deine Frau so am heiligen Sonntag allein lassen magst.«

»'s Bärbeli könnt' auch ausgehen mögen,« wehrte Ulrich den versteckten Vorwurf ab.

»Deswegen wär sie doch allein; ohne dich, mein' ich. Am lieben Sonntag gehört zu einander, was sich gut ist!« –

»Man ist die ganze Woch' zusammen!« wandte Ulrich ein.

»Ja, aber ein jedes hat seine Arbeit, und nicht viel Zeit für den anderen. Dazu ist der Sonntag da, daß man das nachholt.« Rainer sprach ganz absichtslos, wie es nun einmal seine Meinung war. Ulrich aber argwöhnte, die Barbara habe ihm etwas geplaudert.

»Halten's die Eheleute »draußen« alle so?« fragte er spottend.

»Die guten – sicherlich,« antwortete Rainer ruhig. »Und den schlechten wirst du's doch nicht nachtun wollen!«

Ulrich sagte darauf nichts mehr, und Rainer fühlte, daß seine Weigerung den Bruder geärgert hatte. Darum hub er noch einmal an:

»Wenn du für heut gehen möcht'st, Uli – wenn du etwa eine Verabredung hast – ich nehm' dir's nicht übel, und du wirst's mir nicht verargen, wenn ich nicht mitkomm. Schau, was sollt' ich im Wirtshaus? Trinken mag ich nicht viel; die Karten rühr' ich nicht an; die dicke Luft macht mir alleweil Kopfweh, so daß mir die Lust am Reden vergeht. Ich halt' inzwischen mit deiner Frau die Zeit aus!«

Ulrich stierte vor sich hin auf die sauber gefegte Diele. Dann sagte er mit einem kurzen Stoßseufzer:

»Laß schon gut sein – ich geh' nicht. Es war mir nur so ein Gedanke. Soviel liegt mir nicht daran, daß ich dich deswegen verließe.«

Er kam auf anderes, redete dies und das. Rainer konnte aber den Eindruck nicht los werden, daß er dem Bruder eine unangenehme Enttäuschung bereitet habe. –

»Sag' der Barbara nichts von dem, was wir vorhin geredet haben,« sprach Ulrich mitten zwischen noch einmal. Er sah dabei aus, als schäme er sich, Rainer betrachtete ihn aufmerksam. Heimlichkeiten vor der Frau? – Das besagt nichts Gutes, dachte er.

Den ganzen Abend blieb Ulrich verstimmt; nur ganz wenig; aber Rainer bemerkte es doch; und Barbara merkte es auch; sie dachte sich gleich: er möchte ins Wirtshaus gehen, aber er traut sich nicht. Trotzdem sie darauf vorbereitet gewesen, ja darauf gewartet hatte, daß er wieder einmal einen abendlichen Gang antreten würde, fühlte sie sich bedrückt von der Angst, daß es nun wieder so weit sein möchte mit ihm. Sie segnete im stillen den Rainer, dessen Anwesenheit ihn immer noch zurückhielt.

Die Woche mit ihrer rüstigen Arbeit zerstreute die Schatten, die flüchtig über den häuslichen Frohsinn hingezogen waren. Mehreremal stieg Rainer hinauf zu dem Gehöft auf dem Hertenbühl; er war immer noch nicht handelseinig; es gab viel dafür und dawider, und allerhand Geschäftliches, das sich in die Länge zog. Barbara bewunderte, wie verständig er alles erwog; er versprach, ein guter Hausvater zu werden.

Am Samstag, als sie bei der Kohlsuppe saßen, war Ulrich wieder einmal schweigsam, nachdem er die ganze Woche sehr guter Dinge gewesen. Auf einmal sagte er, ohne die Frau oder den Bruder anzusehen, mit trotziger Stimme:

»Ich hab' versprochen, heut Abend um sieben Uhr zum Gletschwirt zu kommen. Tust mich begleiten, Raini?«

Rainer löffelte gleichmütig seine Suppe weiter und sah nicht, wie die Frau ihm gegenüber ein blasses, böses Gesicht bekam.

»Wem hast's versprochen?«

»Dem Uttdörfer.« »So – nun, dann geh nur allein! Und auch sonst wär ich wohl nicht mitgegangen. Du weißt ja, wie ich darüber denke.«

Sie aßen schweigsam weiter. Barbara sprach kein Wort mehr. Als er aufgegessen, stand Ulrich mit einem kurzen »G'segn' es Gott« vom Tisch auf, ging hinaus und machte die Tür fest hinter sich zu.

Die Zurückbleibenden blieben still. Barbara fing an, den Tisch abzuräumen. Jetzt sah der Rainer sie an und bemerkte die Veränderung an ihr. Da gibt es etwas, wovon ich noch nichts weiß, dachte er bei sich. Und dann fragte er:

»Geht der Uli oft ins Wirtshaus, Schwägerin?« Sie zuckte, als ob die Frage weh täte.

»Oft nicht grade – nein. Und doch wär's besser, er ließe es ganz.«

»Er ist mir böse, weil ich nicht mit ihm kommen wollt, schon am Sonntag nicht –« sie sah schnell und flüchtig auf.

»So – also hatt' er dich nicht das erstemal gebeten. Nun, er ist dir nicht bös, weil du nicht mittust, sondern er hat ein schlecht's Gewissen und denkt, du könnt'st ihn scheel ansehen und das ärgert ihn.« Es klang etwas Scharfes, Schlimmes aus ihrer Stimme.

»Wie könnt' ich ihn scheel ansehen – ich hab' ihm nichts vorzuschreiben.« Barbara zuckte die Achseln.

»Er schämt sich halt,« sagte sie finster.

»Ja – hat er denn schon Ursach', sich zu schämen?«

»Wirst's ja sehen,« sagte sie, und ging mit dem Arm voll Näpfe hinaus.

Rainer fühlte sich unbehaglich. – Er ging dem Ulrich nach, um noch ein vernünftiges Wort mit ihm zu reden, fand ihn aber nicht aufgelegt dazu.

»Ist ja gut, Raini,« sagte er freundlich, aber abwehrend. »Du magst nicht gehen – so geh ich allein. Verzürnen brauchen wir uns deshalb nicht. Wenn d' lang hier bleibst, können wir uns nicht alleweil nach einander richten.«

Damit war's abgetan. Gegen Abend ging Ulrich ins Wirtshaus, und Rainer leistete seiner Schwägerin Gesellschaft auf der Bank unter den Ahornen.

Die Kinder lagen zu Bett. Das Gesinde schwatzte und gähnte hinterm Zaun am Steige. Barbara strickte, woran das Dämmerlicht sie nicht hinderte, und war sehr schweigsam. Der frische Quell in Rainers Brust versagte fast angesichts dieser finsteren Schweigsamkeit.

»Schwägerin,« sagte er endlich, »nimm dir's nicht so zu Herzen, daß der Uli einmal Wege geht, die dich nicht gut dünken. Mit Weinen und Zetern hat manche Frau ihren Mann schon tiefer hinein getrieben in so etwas!«

»Ich weine und zetere ja gar nicht,« sagte Barbara kalt.

»Dein Gesicht, das du aufsetzt, ist viel schlimmer,« entgegnete Rainer ehrlich. »Mach's nicht so wichtig! Tu, als sei gar nichts vorgefallen – das wird den Uli beschämen, und er wird in sich gehen. Mit solchem Gesicht erweckt man den Trotz im Manne.«

»Mein Gesicht – ob froh oder finster – und meine Tränen, wenn ich ihm je welche geweint hab', halten oder treiben den Ulrich nicht,« sagte Barbara mit tiefer Bitterkeit. »Den hält nichts mehr, den treibt eine böse Macht.« –

»Der Uttdörfer?« fiel Rainer ein.

»Der Uttdörfer, ja; der sich seine Schwäche zu Nutz macht, wie der leibhaftige Teufel!«

»Und darum kannst den Uttdörfer nicht leiden, gelt, Barbara?« Sie nickte.

»Darum, und überhaupt.«

Rainer schwieg eine Weile, und sah empor zu den weißen Gipfeln.

»Es ist immer so gewesen, und wird immer so sein, in der Welt, daß einer den andern verführt. Und ich mein', die Schuld liegt nicht bei dem Verführer, sondern bei dem, der sich verführen läßt.«

»Willst dem Uttdörfer das Wort reden?« Sie rückte unwillkürlich um ein weniges von ihm fort und sah ihn mit zornigen Augen an.

»Nein, das will ich nicht. Ich meine nur, der Uli darf sich nicht verführen lassen – von so einem Lumpen!«

Rainer sprang auf; er war sehr erregt; er ballte die Faust und in seinem Gesicht leuchtete es. – Barbara war fast erschrocken. Die Verachtung, mit der er von Uttdörfer sprach, dünkte sie nun doch zu viel. Und dann wieder dachte sie, daß ihr in diesem Manne vielleicht eine Hilfe gegeben sei –

»Rainer,« sprach sie, ließ ihr Strickzeug fahren und sah in heiligem Ernst zu ihm auf, »der Uli ist auf schlimmem Wege – schlimmer als du bei dir denken magst. Ich würd' es dir nicht gestehen, wenn du es nicht auch ohnedem bald erfahren würdest. – Und du bist doch sein einziger Bruder – und bleibst nun vielleicht ganz hier – und kannst es doch nicht schweigend ansehen – kurzum, Rainer, ich bitt' dich, bitt' dich von ganzem Herzen: hilf mir den Uli zu retten!«

Sie hatte die Hände gefaltet, Tränen erstickten ihre Stimme und glänzten in den flehend zu ihm aufgeschlagenen Augen. – Rainer fühlte es heiß aufwallen in seinem Herzen.

»Ja, Barbara, ich will dir helfen, soviel ich kann!« Sie gaben sich die Hand, als wie zu einem Gelöbnis. Dann standen sie lange stumm nebeneinander. Barbara wischte die Tränen fort. Rainer kämpfte, daß er ruhig würde, dann sagte er:

»Wenn du soviel Vertrauen zu mir gehabt hast, hab' auch noch ein weiteres, und erzähl' mir, wie's gekommen ist – von Anfang an; es ist nur, damit ich um so besser weiß, was ich zu tun hab'!«

Er zog sie wieder nieder auf die Bank; im Sitzen ging das Sprechen besser. Sie zögerte erst noch, und sah ihn an mit einem langen Blick, wie um zu erforschen, ob er's ehrlich meine.

Dann schüttete sie ihm das Herz aus.

Es war eine Wohltat, sich das alles einmal herunterzureden. Und sie sagte ihm jedes; daß er das Geld verspiele, daß er betrunken heimkam, daß sie sich dann vor ihm ekle. Nur, daß sie jetzt in Geldnot sei, verschwieg sie ihm. Sie schämte sich zu sehr.

Rainer unterbrach ihre mit gedämpfter Stimme vorgebrachten Reden kaum ein einzigesmal. Sein Gesicht wurde sehr traurig.

»Ich habe nicht geglaubt, daß es so stehe,« sagte er ernst. Dann schöpfte er tief Atem und reckte seine männliche Gestalt. »Das muß anders werden –« er brach ab, und sah auf seine Schwägerin, die er fast vergessen hatte.

»Ich mein', es ist Zeit, daß du schlafen gehst,« sagte er und dabei lag ein tiefes Mitleid in Ton und Blick. »Oder willst auf den Uli warten?«

»Ach nein –« sagte sie, und wickelte den langen Wollfaden auf. »Und ich mein', es ist besser, wenn auch du ihn nicht erwartest, wenn er keinem mehr begegnet bei der Heimkehr –«

Sie hatte Angst, Rainer könnte ihn in seiner Schwäche sehen; sie schämte sich in seiner Seele vor seinem Bruder.

»Freilich, freilich,« nickte er zerstreut. »Ich will nur noch ein wenig überdenken, was du mir gesagt hast.«

Wieder sah sie ihn forschend an, während sie die stählernen Stricknadeln zusammenlegte, ob sie ihm auch wohl trauen dürfe.

»Und wenn du ins Haus kommst – laß die Tür offen!« bat sie. Er nickte verständnisvoll.

Als Barbara hinein war, saß er lange ohne sich zu rühren, die hellen Augen traurig ins weite gerichtet. Dann flammte es auf in seinen Augen. Er sprang auf, ballte wieder wie vorhin die Faust, und murrte zwischen den geschlossnen Zähnen:

»Mein eignes Jugendglück hast mir gestohlen – meines Bruders Herd werd' ich vor deiner falschen Freundschaft zu bewahren wissen, ich! der Rainer Amberger!«

Dabei gingen seine Blicke hinunter über die Straße weg nach des Uttdörfers Hausdach, auf dessen taufeuchten Schindeln der Mondschein spiegelte. –

*

Wie er der Schwägerin versprochen, erwartete er den Bruder nicht, sondern ging bald hinauf in sein Zimmer. Er kleidete sich aus und warf sich auf die Betten, ließ aber das Fenster offen und die Tür nur angelehnt. Da indes der Luftzug sie dann und wann leise klappen machte, drückte er sie ins Schloß.

Er schlief nicht. Mit wachen Augen lag er und lauschte.

Lange nach Mitternacht hörte er etwas. Zuerst in weiter Ferne, auf der Landstraße, vereinzelte Stimmen und ein heiseres, höhnisches Lachen. Das Blut stieg dem Rainer zu Kopf – die Lache kannte er. So hatte der Uttdörfer gelacht, als er zum erstenmal mit seiner Braut im Dorfe ging, an ihm vorbei –.

Dann blieb's geraume Zeit still. Und dann kamen schwere Schritte daher, immer näher, den Hang herauf und dem Hause zu; ungleiche, unsichre Schritte; dazwischen klang das häßliche Aufschlucken des Trunkenen.

Rainer drückte die Hände vor die Augen, obschon er nichts sah. –

Der da unten kam herein. Er polterte über den Flur in die Stube, wo er mehreremale geräuschvoll an Tisch und Stühle stieß.

Rainer hatte plötzlich eine Angst, daß die Barbara schreien würde – er wußte selber nicht, wie er darauf kam – auch der Uttdörfer schlug ja die Gred', wenn er betrunken war. In dem Zustande ist einer wie der andre. Aber es geschah nichts dergleichen. Es wurde still – ganz still. Und als eine Viertelstunde verstrichen war, ohne daß etwas im Hause sich noch gerührt hätte, legte sich Rainer aufseufzend auf die andre Seite.

Gott sei Dank – der Uli war eingeschlafen –

Als Rainer am anderen Morgen herunterkam – ein wenig später als sonst, als möchte er das Wiedersehen hinausschieben – war alles wie immer. Barbara saß in der bereits aufgeräumten Stube am Tisch und gab den sauber gewaschenen Kindern die Morgensuppe. Vom Ulrich war nichts zu sehen.

Das seit gestern verfinsterte Gesicht der Bäuerin hellte sich auf, als der Rainer eintrat. Er war auch wirklich herzerquickend anzusehen mit dem Glanz von Gesundheit und Jugend um sich her, wenn schon er heut ernster drein schaute, und sie bot ihm freundlich den Morgengruß. Nach ihrer gestrigen Unterhaltung hatte sein Anblick einen ermutigenden Einfluß auf sie. Die Frage, die in seinen Augen lag, unausgesprochen verstehend, sagte sie:

»Uli ist schon auf und davon. Sonst macht er spät Tag nach solchen Nächten. Heut aber war er früher auf, als ich. Er müsse auf die Bußalp, sagt er, ein Stück Vieh sei erkrankt; der Milchbub' hab' ihm die Nachricht gebracht, als er gestern Abend auf dem Wege nach Grund gewesen.« Als Rainer sich an den Tisch setzte und Barbara den gefüllten Teller vor ihn hinstellte, beugte sie sich ein weniges über ihn und raunte ihm zu, daß die Kinder 's nicht hören möchten: »Ich mein', er hat dich vermeiden wollen.«

Rainer antwortete darauf nicht, und sagte auch sonst nichts, außer daß er mit den Kindern seinen Scherz trieb, wie alle Tage. Als er sich satt gegessen, nahm er Hut und Bergstock und bot seiner Schwägerin Lebewohl.

»Wo willst hin, Rainer?« fragte sie, ihn bang ansehend.

»Dem Uli nach,« war die Antwort. Barbara machte ein peinvoll verwirrtes Gesicht.

»Rainer –« stotterte sie, »ich glaub' es ist besser, du läßt's! Du wirst ihm doch nichts sagen, Rainer!«

Er lächelte nur, nahm ihre Hand und drückte sie kräftig.

»Du hast mir vertraut,« sagte er schlicht, »nun darfst nicht fürchten. Ich werd' nichts ungeschickt's beginnen – er ist ja doch mein Bruder!«

Sprach's, schwenkte grüßend den Filz, und ging.

Die Bußalp lag am Faulhorn, nach dem Lütschinetal zu, hoch oben über den Häusern vom Grindelwald. Ueber ihrem baumlosen, grasigen Hang türmte sich eine vielgezackte, schroffe Felsenmauer, vom jähen Absturz ins Tal zur Linken sich hinziehend nach rechts, bis zum stumpfen Faulhornkegel hinauf. Die Amberger Bauern teilten sich von jeher mit mehreren andern den Besitz, und trieben gemeinsam im Hochsommer, wenn man auf den unteren Almen das Gras für die Sense wachsen ließ, ihr Vieh da hinauf, ein jeder in seine Hütten.

Rainer kannte den Weg von früher her gar gut. Ohne das Dorf zu berühren, stieg er in dem oberhalb desselben sich hinziehenden Walde schräg bergan, den brausenden Bach und das grünende Tal immer tiefer unter sich lassend. Je höher er stieg, je einsamer ihn das feierliche Waldesdunkel umgab, je mehr die Erde gleichsam unter ihm zurückblieb und je näher er dem strahlend blauen Himmelsdache kam, um so leichter wurde ihm das bedrückte Herz. Wie frischer Frühschnee schmolzen seine Sorgen, nun die strahlende Gottessonne darüber hinlachte.

Dann trat auch der Wald hinter ihm zurück. Matten mit steinernen und hölzernen Gehegen, mit vereinzelten breitästigen Bäumen und lustig glucksenden und plätschernden Rinnsalen dehnten sich grün und sonnig vor ihm aus. Ueberall waren fleißige Hände mit der nun bald beendeten Heuernte beschäftigt, und die Ziegen rupften an dem kurzen Grase. Kräftige Sennbuben mit den Milchkübeln auf dem Rücken stiegen zu Tale; ein halbwüchsiger Knabe trieb ein wohlgenährtes Kalb vor sich her, bergab. Rainer tauschte manchen fröhlichen Gruß, hielt sich aber nirgends viel auf, sondern stieg mit langen, ruhigen Schritten weiter.

Auf schmaler Brücke überschritt er den Angerer Bach, der unmittelbar oberhalb derselben über eine hohe, steile, schiefergraue Felswand herunterstürzt, so daß der Gischt dem Wandernden tauig kühl über das erhitzte Gesicht sprühte. Und nun stand der Rainer still. Vor ihm abermals Wald, und darüber herschauend die Zinnen der trotzigen Felsenmauer ob der Bußalp. Rechts in steilem Anstieg Matten und Wildwald, bis dicht unter den Gipfel des Rothorns mit seinem toten Steingeröll und felsigen Schädel. Und dann wandte der Rainer das Gesicht nach links.

Der Eiger war bei einer Biegung des der Bergformation sich anpassenden Weges weit zurückgetreten, und gab dem Blick frei, was bis dahin sein felsgepanzerter Leib in trotziger Wucht verdeckte. Himmelhoch und silberhell stand sie da am tiefblauen Firmament, über die grünen Vorberge emporragend wie eine Königin über ihre Vasallen, die ihr in lachender Verehrung die Schleppe ihres weißen Mantels tragen; sie stand da, im Sonnenglanz gebadet, blendend umwoben von goldenen Funkengarben, still, heilig und ewig, die königliche Jungfrau und schaute mit hoheitsvollem Gruß über die Welt zu ihren Füßen.

Als der Rainer noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte seine kindlich heftige Sehnsucht immer denselben ungestümen Flug genommen. Hinauf auf den weißen Berg wollte er, auf dem der Himmel ruhte, und auf den weißen Hängen Schlitten fahren. Verwundert und ungläubig hatte er vernommen, daß man da oben nicht Scherz und Spiel treiben könne, da oben gäbe es Gefahr und Tod, und wer mit dieser Jungfrau spiele, der spiele ums Leben. Und man erzählte ihm von Führern, die mit mutigen Männern ausgezogen seien, die Jungfrau zu erklimmen. Gar manchem sei's geglückt, manchen hätten sie tot oder verstümmelt nach mühseliger Wanderung zu Tal gebracht – den hatte die Jungfrau erdrückt in eisesharter Umarmung. Und mancher war niemals wiedergekommen. Was mit dem geschehen sei? fragte das Kind. Den hatte sie lieb gewonnen, die schlimme Königin, und bei sich behalten. Und der kleine Rainer bildete sich ein, der dürfe nun dort oben spielen und scherzen und tun, was keinem andern vergönnt sei: auf den weißen Hängen Schlitten fahren. Und der kleine Rainer beneidete die glücklichen Leute, die nicht wiedergekommen waren, und nahm sich fest vor: wenn ich erst groß geworden bin, gehe ich doch auch da hinauf! –

Der große Rainer, der an seinen Bergstock gelehnt am Angererfall stand und mit bewundernden Augen den weißen Wunderberg anstarrte, dachte nicht mehr daran, daß er da oben Schlitten fahren möchte. Wohl aber wurde die alte Kindersehnsucht wieder lebendig in ihm, einmal diese rätselhaften, erdfernen Höhen zu erklimmen, einmal mitten innen zu stehen in all diesem leuchtenden Licht, diesem blendenden Blau, diesem wonnigen Weiß, dieser heiligen Helle! – Er atmete hoch auf, so drängten sich tollkühne Sehnsucht und rüstiger Wagemut in seinem Herzen, das diese Heimat um so heißer liebte, je länger er sie entbehrt hatte.

»Ich muß es doch einmal erreichen – ich hab' sonst nimmer Ruh!« sprach er vor sich hin, und dann stieg er weiter, denn es war ein langer Weg. Aber des öftern noch blieb er stehen und schaute sich um, und der weiße Berg schien zu lächeln und zu sagen: komm' nur herauf – sollst's gut haben bei mir!

Werd's schon machen! dachte Rainer fröhlich und dabei trat er noch einmal in den Schatten und in das Schweigen des Waldes, der hier häufig unterbrochen wurde durch grüne Weidestücke mit verlassenen Holzhütten und ein rieselndes Brünnlein. Höher – immer höher hinauf.

Als er den Wald endgültig verließ, lagen die Häuser der Alp dicht vor ihm. Eine sumpfige Senkung mußte er noch durchqueren, auf schmalem, schlüpfrigem Pfade, auf hölzerner Brücke über ein flaches Wasser, das hier allenthalben übertrat und kleine Lachen und Nebenrinnsale bildete: endlich über einen steilen Hang auf vom Vieh getretenen Treppenstufen – und er war da.

Da, und doch nicht da; denn auch diese ersten Viehhütten standen verlassen, und das Brünnlein rann umsonst in den überfließenden Trog.

Erst weiter hinten waren Spuren des Lebens, und Rainer in seiner frohgemuten Stimmung sandte den menschlichen Gestalten, die er da drüben bei den Hütten hin und her treten sah, einen lauten Juchzer zu. Hell schallte es durch die selige Oede dieser sonnigen Höhe. Ein Murmeltier ließ erschreckt seinen gellenden Warnungsruf ertönen – der Rainer sah es eben noch in eine Felsspalte schlüpfen. Dann klang ihm von drüben mehrstimmige Antwort.

Unter den vielen kleinen und großen Hütten, Schobern und Ställen erkannte Rainer ganz genau von weitem die vier eng aneinandergedrängten Dächer der zum Amberger Hof gehörenden Gebäude. Bald war er mitten zwischen ihnen, auf dem zertretenen, schmutzigen Grasplatz, durch dessen nie ganz trocknenden Morast die Sennen sich von glatten Steinen einen unvollkommenen Steig gebaut hatten. Wie oft hatte sich der Rainer als Kind mit unsicheren Tritten über diese Steine den Weg gesucht! Wie oft war er als junger Bursche darüber hingeeilt! Er kannte fast jeden einzigen wieder und glaubte ganz genau zu wissen, wo man einen neuen eingefügt hatte.

Und der Blick, den man von diesem engen, schmutzigen Hofe hatte! Als ob man aus dem eignen, dunklen, unvollkommenen Leben geradewegs hineinsehe in die himmlische Herrlichkeit und in die heilige Ewigkeit! Rings um die Jungfrau herum, links und rechts hinter ihren Schultern vorlugend, die weißen Häupter des Oberlandes in ununterbrochener Kette, wie eine Schnur von schimmernden Perlen am Gürtel der Ewigkeit – bis wo sie hinten in den glitzernden Dunstschleiern der sonnigen Ferne verschwammen. – Aber die Jungfrau überragte sie alle, die Jungfrau, die Königin! –

Rainer hatte nicht viel Zeit, sich seiner tiefinnerlich jauchzenden Freude zu überlassen. Denn aus der niedrigen Stalltür gegenüber trat der Uli mit einem andern, Unbekannten. Sie redeten eifrig miteinander, und Rainer kam unbemerkt näher.

»'s ist eine schlechte Zeit jetzt, für den Viehmarkt,« eiferte der Fremde, in dem Rainer nun einen Handelsmann aus dem Lütschental erkannte. »Ihr tätet besser, den Stier noch einen Monat oder zwei werden zu lassen. Aber wenn ich ihn durchaus schon mitnehmen soll, so müßt's einsehen, daß ich den guten Herbstpreis dafür nicht zahlen kann.«

»So gebt's, was ihr könnt,« sagte Ulrich mit verärgerter Stimme. »Aber gebt's gleich, und nehmt's Vieh mit hinunter.«

»Grüß dich, Uli!« rief Rainers Stimme dazwischen. Ulrich fuhr herum. Der Rainer – das fehlte grad noch! Den schickte ihm natürlich das Bärbeli auf den Hals.

»Grüß dich auch, –« gab er unwirsch zurück. »Was hast hier oben zu suchen?«

»Dich such' ich!« rief Rainer fröhlich. »Warst mir ja in aller Früh davongegangen!« Ulrich wandte sich halb zur Seite.

»Na, na – tust ja grad, als ob d' nicht mehr sein könnt'st ohne mich!«

»Also sind wir einig?« sprach der Händler dazwischen. Ulrich brummte etwas Unverständliches.

»Ja, schau,« rief Rainer völlig ahnungslos und arglos, »was fällt dir denn ein, jetzt von dem Vieh zu verkaufen. Mir scheint, du tust, was kein Bauer im Grindelwald gut heißt?«

»Mir scheint, das geht dich gar nichts an,« schnauzte Ulrich, kehrte dem Bruder den Rücken zu und ging mit dem Händler in den Stall zurück, nachdem er einen der Buben herzugerufen. Um den Rainer kümmerte er sich nicht mehr.

Der hatte anfangs verdutzt dreingeschaut; dann dachte er an den gestrigen Abend und die wüste Nacht für den Ulrich, und beschloß, es ihm nicht anzurechnen, ihn aber auch nicht weiter zu reizen. Er kam ihm ja augenscheinlich äußerst ungelegen.

Er schlenderte auf den Steinen entlang zu dem Brunnen am Stallgiebel, und setzte sich auf den grobgezimmerten Trog, das Gesicht gegen die weißen Berge gekehrt, über das Tal hinweg, das eng und tief und grün dazwischen lag. Aber er dachte nicht mehr an die Berge. Er dachte an den Uli, und an alles, was die Barbara ihm gesagt hatte. –

Ulrich hatte wohl gemerkt, wohin der Rainer gegangen war – wo er auf ihn wartete; denn daß er wartete, war ihm sicher; um ihm Vorhaltungen zu machen natürlich; Vorwürfe wohl gar. Er verdiente sie ja auch eigentlich, die Vorwürfe; nur wollt' er sie nicht hören; jetzt nicht, wo ihm noch der Kopf schmerzte von der gestrigen Nacht; jetzt nicht, wo er inwendig in seinem Herzen die härteste Buße getan; wo er den besten Stier seiner Herde außer der Zeit und um ein Spottgeld weggegeben hatte, um wieder einzubringen, was er gestern am Spieltisch drangegeben hatte; damit das Bärbeli endlich einmal wieder Geld in die Finger bekäme; dann würde sie sich am Ende beruhigen. –

Ulrich Amberger stand auf seinem Almhof, darein die Sonne schien. Droben am felsigen Grat weidete seine rotgefleckte Herde; er hörte das dumpfe Geläut der Glocken, das behagliche, zufriedene Brüllen. Heut klang's aber nicht zufrieden, dünkte ihn; sie klagten, die braven Tiere da oben; klagten um den besten ihrer Schar, der dort unten, einsam und widerwillig, den groben Strick um die breiten Hörner, zu Tale geführt – oder vielmehr gezogen und gestoßen wurde. Und plötzlich ertönte auch von dort ein Gebrüll, einsam und grollend, ein klagendes Abschiedsgebrüll, dem hoch oben ein ganzer Chor Antwort gab –

Dem Ulrich schnitt es ins Herz; aber er wollte sich nicht von der Rührung, von der Reue übermannen lassen. Er murrte einen derben Fluch, trat heftig mit dem Fuß auf den breiten Stein, auf dem er stand, und entschloß sich endlich, sich nach dem Rainer umzusehen. Der saß noch da, und rührte sich nicht wie ein Träumer.

»Nun, Raini – nichts für ungut,« sagte der Bauer mit erkünstelter Harmlosigkeit, und setzte sich neben ihn auf den Trog, »nichts für ungut, daß ich vorhin so unwirsche Antwort gab! Aber meine Geschäfte, weißt, da mußt mir nicht dreinreden, die laß mich allein machen!«

Rainer sah den Bruder mit seinen klaren, ehrlichen Augen an. Die Spuren der Nacht waren deutlich auf seinem Gesicht zu lesen.

»Ich hab' nicht gemeint, daß der Verkauf von einem Stück Vieh ein Geschäft sei, bei dem kein anderer zuschauen dürft',« sagte er ruhig, und bemerkte, wie Ulrich rot wurde. »Ich hätt' auch nichts gesagt, wenn mich's nicht so gewundert hätt', um die ungewohnte Zeit!«

»Ich brauch' halt Geld,« erklärte Ulrich mit leichtfertigem Achselzucken, wobei er den Rainer nicht ansah. Dieser sah den Bruder um so aufmerksamer an. Er ahnte den Zusammenhang. Aber noch war's nicht Zeit, zu reden.

»Was macht denn das Kranke?« fragte er, um auf anderes zu kommen. Ulrich drehte sich schroff um.

»Was für ein Krankes?« Dann besann er sich. »Ach so – ja –« und er lachte kurz auf. »Das ist schon wieder gesund geworden!« Plötzlich stand er auf, pflanzte sich breit vor den andern hin, stemmte die Hände in die Hüften und sagte:

»Da d' mir nun doch einmal dazwischen gekommen bist – ich will dir's nur gestehen, es war kein Krankes heroben. Ich hab' das der Barbara nur so gesagt, um früh wegzukommen.«

»Ja – aber warum denn?« fragte Rainer verständnislos.

»Bist du schwerfällig!« lachte Ulrich ungeduldig auf. »Sie wollt' halt wissen, weshalb ich so früh ausmußt – Weiber wollen halt immer Gründ' wissen, obwohl sie selbst oft keine haben – nun, und wenn man ihnen den wahren Grund nicht sagen will oder kann – so denkt man sich eben einen aus!«

Rainer sah den Bruder sprachlos an.

»Sie braucht nichts zu wissen von dem heutigen Handel,« fuhr Ulrich gewaltsam fort. »Warum nicht – das ist meine Sach'. Sie würd' wieder Gründe wissen wollen; die Weiber brauchen aber nicht alles wissen – brauchen nicht in alles dreinreden. – So, nun weißt Bescheid, daß auch du an deinem Teil reinen Mund zu halten hast!«

Rainer schien diese letzten Worte gar nicht zu hören. Immer noch sah er zu dem Bruder auf, mit verständnislosen Augen, kopfschüttelnd.

»Uli!« sagte er endlich im Tone vorwurfsvoller Güte, »Uli, so red'st von deiner Frau? So handelst du gegen sie?« Dem Ulrich ward heiß und kalt unter diesen Augen, diesen Worten.

»Mein Gott, was ist denn da weiter bei!« rief er ärgerlich. »Sie braucht doch wirklich nicht alles wissen! Mach' schnell, versprich mir, daß d' nicht plaudern willst von der Sach'!« Rainer machte eine abwehrende Bewegung.

»Geh – ich brauch' nicht erst zu versprechen, daß ich kein Zuträger sein will,« sagte er ziemlich kurz. Dann stand er auf.

»Ich möcht' um ein Stück Brot und Käs' von deinen Sennen bitten; der weite Weg hat mir Hunger gemacht.«

Froh, das unliebsame Gespräch zu beenden, eilte Ulrich, das Gewünschte zu besorgen. – Der Senne war noch derselbe, den Rainer von früher her kannte. Das war ein fröhliches Wiedersehen, Händeschütteln, Fragen und Antworten. Der nicht mehr junge, bärtige Mann führte den Rainer durch Ställe und Schober und hätte ihm am liebsten die Herde gezeigt, von deren einzelnen Stücken er Unendliches zu erzählen wußte. Aber Rainer sagte, soviel Zeit habe er heut nicht; er wolle auf Mittag zurück sein. Ein andermal käme er wieder, für einen ganzen Tag.

Ulrich war den beiden mißmutig und schweigend gefolgt. Bei des Bruders letzten Worten meinte er, sie könnten ja zusammen absteigen, er wolle jetzt auch heim.

Sehr gesprächig waren sie nicht unterwegs. Hintereinander trotteten sie auf dem schmalen, oft steilen und steinigen Pfade, mit den schweren Bergschuhen; wenn die eisernen Spitzen ihrer Stöcke auf einen Stein trafen, gab es einen klingenden Ton. Ulrich sah finster vor sich nieder auf seinem Wege. Rainers Blicke schweiften über das Tal hinweg, zu den Bergen, die ein florartiger Mittagsdunst zu umhüllen begann. Nur die Jungfrauspitze ragte noch hoch über den irdischen Nebel empor in die Sonne hinein, strahlend hell, heilig leuchtend.

Dem Rainer wurde wieder freier ums Herz.

»Wenn's mir einmal hier unten zu bunt wird, dann gehe ich da hinauf!« dachte er bei sich.

 

* * *


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