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Die Mutter

In einem Tal, das, rings von waldreichen Hügeln umsäumt, in allen Farben des Frühlings leuchtete, standen Seite an Seite zwei große, schmucklose, kalkgeweißte Steinhäuser. Sie schienen von der gleichen Hand erbaut, und selbst die Gärten, die eingefriedet vor den Häusern lagen, hatten die gleiche Größe und Gestalt. Denen aber, die dort wohnten, war keineswegs ein gleiches Schicksal zuteil geworden.

In einem abgelegenen Winkel des einen Gartens führten einige Küchlein eine angeregte Unterhaltung, während der Hofhund an seiner Kette schlief, und der Bauer sich an den Obstbäumen zu schaffen machte. Es waren sehr junge Küchlein, die dort ihre Erfahrungen austauschten, und ihr Körper verriet noch die Form des Eies, aus dem sie vor wenigen Tagen erst ausgekrochen waren. Darum hätten sie wohl auf die älteren Küchlein hören sollen, an denen es im Garten durchaus nicht etwa mangelte. Aber sie zogen es vor, ihre Erfahrungen selbst zu machen und selber das Leben zu ergründen, in das sie eben erst hineingeplumpst waren. Später gewöhnt man sich ja daran, und dann achtet man nicht mehr so sehr darauf. Da man aber in wenigen Tagen mehr erleben kann, als man glauben möchte, wenn man viele Jahre hinter sich hat, so hatten sie schon manche Freude und auch manches Leid erfahren. Und dabei wußten sie auch allerlei, denn sie hatten ja schon im Ei dies und jenes von der Lebensklugheit ihrer Voreltern mit der Nahrung aufgenommen. Kaum waren sie daher ans Tageslicht geschlüpft, so wußten sie schon, daß man die Dinge zuerst mit dem einen, dann mit dem andern Auge prüfend betrachten muß, bevor man weiß, ob man sie essen kann, oder ob man sich vor ihnen zu hüten hat.

Sie unterhielten sich von der Welt und ihrer Größe, von den Bäumen und dem Zaun, der sie umschloß, und auch von dem großen Hause, das bis in die Wolken ragte: alles Dinge, die man gesehen hatte, die man aber besser sah, wenn man davon sprach. Ein gelbflaumiges Küchlein indessen, das gesättigt war und deshalb nichts mehr zu tun hatte, fand es langweilig, immer nur von Dingen zu sprechen, die man sah, denn die laue Frühlingsluft macht nachdenklich und weckt Erinnerungen. »Es ist schon richtig,« bemerkte es, »daß wir es gut haben, wenn die Sonne scheint, aber ich habe gehört, daß es einem auf dieser Welt noch viel, viel besser gehen kann. Und das gefällt mir nicht, und ich denke, es wird euch auch nicht gefallen. Ich habe nämlich die Bäuerin sagen hören, daß wir arme Küchlein wären, weil wir keine Mutter hätten. Und sie sagte das so traurig und so mitleidig, daß ich weinen mußte.«

Ein anderes Küchlein, das viel hellflaumiger war als das erste und auch um einige Stunden jünger, und das daher noch dankbar der köstlichen Luft gedachte, in der es geboren war, meinte vorwurfsvoll: »Aber wir haben doch eine Mutter gehabt: den großen Schrank, der immer warm ist, wenn es draußen auch noch so sehr friert, und aus dem die kleinen Küchlein fix und fertig herausspazieren.«

Das gelbe Küchlein aber, das die Worte der Bäuerin schon seit mehreren Tagen in seinem Herzen bewegte und daher Zeit gehabt hatte, immer wieder von der Mutter zu träumen, bis es sich darunter etwas vorstellte, was so groß war wie der Garten und so gut wie das Futter, verachtete die Schwätzerin mitsamt ihrer Mutter: »Wenn die Mutter etwas Totes wäre,« entgegnete es, »dann hätte ja jeder eine Mutter. Sie ist aber lebendig und läuft viel schneller als wir. Vielleicht hat sie Räder wie der Wagen des Bauern. Und deshalb kommt sie zu dir, ohne daß du sie erst rufen mußt, und sie wärmt dich, wenn du vor Kälte zu Boden sinkst. Wie schön muß es doch sein, wenn man in der Nacht eine solche Mutter bei sich hat!«

Nun mischte sich ein drittes Küchlein ein. Es war ein Bruder der beiden anderen, weil es aus demselben Brutapparat stammte, es hatte aber etwas andere Formen bekommen: sein Schnabel war größer, seine Beinchen aber kürzer. Man nannte es ein schlecht erzogenes Küchlein, weil es beim Essen so viel Geräusch machte, in Wirklichkeit aber war es ein kleines Entlein, das man unter seinesgleichen sicher nicht schlecht erzogen genannt hätte. Auch das Entlein hatte die Bäuerin von der Mutter sprechen hören. Das war damals gewesen, als ein Küchlein vor Kälte ganz erschöpft ins Gras gesunken war. Die anderen Küchlein hatten zugesehen, wie es starb, aber sie hatten nicht daran gedacht, ihm zu helfen, denn die Kälte, die andere fühlen, spürt man ja nicht. Und das Entlein, das so einfältig aussah, weil der große Schnabel sein Gesicht entstellte, behauptete keck, wenn die Küchlein eine Mutter hätten, könnten sie nicht sterben.

Bald war der ganze Hühnerhof von der Sehnsucht nach der Mutter angesteckt, und besonders die älteren Küchlein litten sehr darunter. Wenn eine Kinderkrankheit Erwachsene befällt, ist sie doppelt gefährlich, und mit den Ideen ist es oft nicht anders. Das Bild der Mutter, das die wärmenden Strahlen der Frühlingssonne in den kleinen Köpfen hatten lebendig werden lassen, wuchs ins Unendliche: alles Gute, das köstliche Futter und das schöne Wetter hieß ihnen Mutter, und wenn die Küchlein und die Entlein und die kleinen Truthähne unter der Kälte litten, fühlten sie sich alle in der gleichen Sehnsucht nach der Mutter brüderlich geeint.

Einer der Älteren, ein kleiner Hahn, erklärte eines Tages, er wolle nun nicht länger ohne Mutter bleiben, und er würde sie schon zu finden wissen. Er war der einzige in dem ganzen Hühnervolk, der einen Namen hatte. Er hieß Kluckkluck, weil er stets als erster herbeigelaufen kam, wenn die Bäuerin mit dem Futter in der Schürze erschien und »Kluck! Kluck!« rief. Er hatte für sein Alter ganz hübsche Kräfte, und in seinem feurigen Geiste regte sich schon die Kampfeslust. Er war schlank und lang wie eine Klinge, und wenn er sich nach einer Mutter sehnte, so war es vor allem, damit sie ihn bewundern sollte. Denn wenn es in ihrer Macht stand, alles zu gewähren, was einem angenehm war, würde sie wohl auch seinen Ehrgeiz und seine Eitelkeit befriedigen können.

So sprang denn Kluckkluck eines Tages kühn entschlossen über den Zaun, der den Garten umhegte. Die Luft der so unversehens erlangten Freiheit aber betäubte ihn, und er wagte es zunächst nicht, sich weiter zu entfernen. Unendlich schien das Tal, über dem sich grenzenlos der blaue Himmel spannte. Wie sollte er da wohl seine Mutter finden? Er war so klein, daß er sich ganz in der unermeßlichen Weite verlor. Deshalb blieb er in der Nähe des heimischen Gartens, der Welt, die er kannte, und nachdenklich umschritt er ihre Grenzen. So führte ihn der Zufall vor den Zaun des anderen Gartens.

»Wenn die Mutter hier drinnen wäre,« dachte er, »würde ich sie gleich finden.« Und da ihn nun die Unendlichkeit des Raumes nicht länger schreckte, sprang er, ohne zu zaudern, über das Gehege und fand sich in einem Garten, der dem anderen, von dem er kam, ganz ähnlich war.

Auch hier tummelte sich eine Schar von jungen Küchlein in dem dichten Grase. Aber hier fand sich noch ein anderes Tier, das in seinem Garten fehlte: Ein riesiges Küchlein, vielleicht zehnmal so groß wie er selber, thronte inmitten der kleinen, flaumigen Tierchen, und sie alle schienen – man sah es sofort – das große, starke Tier als ihren Führer und Beschützer anzusehen. Und das große Tier gab auf alle acht. Wenn ein Küchlein sich zu weit fort gewagt hatte, rief es mahnend mit Tönen, die denen glichen, mit denen die Bäuerin ihre Küchlein zu locken pflegte. Dieses Tier aber tat noch mehr. Alle Augenblicke beugte es sich über die Schwächeren, gewiß, um sie mit dem eigenen Leibe zu wärmen.

»Das ist die Mutter!« dachte Kluckkluck erfreut. »Ich habe sie gefunden, und nun will ich sie nicht mehr lassen. Wie wird sie mich lieben! Ich bin stärker und schöner als alle andern. Und weil ich sie liebe, wird es mir nicht schwer fallen, ihr zu gehorchen. Wie schön sie ist und wie majestätisch! Ich werde ihr helfen müssen, die kleinen Toren da zu beschützen.«

Die Mutter schien ihn nicht zu beachten, aber plötzlich lockte sie. Kluckkluck glaubte, sie habe ihn gerufen, und er eilte zu ihr hin. Doch da sah er, wie sie sich ganz merkwürdig anstellte. Mit den schnellen Schlägen ihrer scharfen Krallen lockerte sie die Erde auf, und er blieb neugierig stehen, da er dergleichen noch nie gesehen hatte. Als sie aufhörte zu scharren, wand sich vor ihr auf dem vom Grase entblößten Boden ein kleines Würmchen. Jetzt begann sie zu glucksen, ihre Jungen aber blickten sie nur verzückt an und verstanden nicht, was sie wollte.

»Die Dummköpfe!« dachte Kluckkluck. »Sie begreifen nicht, daß sie das Würmchen essen sollen.« Und immer von dem feurigen Wunsche getrieben, der Mutter zu gehorchen, stürzte er sich auf die Beute und verschlang sie.

Der arme Kluckkluck! Wie rasend fiel die Mutter über ihn her. Er begriff sie nicht sogleich. Vielleicht wollte sie ihm, der sie doch eben erst gefunden hatte, mit heftigen Liebkosungen ihre Freude bezeugen. Er war gern bereit, alle Zärtlichkeiten hinzunehmen, wenn er sie auch nicht verstand und deshalb meinte, sie könnten wohl auch wehtun. Aber die Schläge des harten Schnabels, die auf ihn niederregneten, waren doch sicher keine Küsse, und da schwand ihm schließlich jeder Zweifel. Er wollte fliehen, aber der große Vogel warf ihn zu Boden, sprang auf seinen Leib und stieß ihm die Krallen in den Bauch. Mit einer ungeheuren Anstrengung gelang es ihm endlich, wieder auf die Beine zu kommen, und er rannte voller Angst nach dem Zaun. Auf seiner wahnsinnigen Flucht warf er ein paar Küchlein um, die die Beinchen in die Luft streckten und verzweifelt piepten. Das war seine Rettung, denn seine Feindin hielt sich bei den Gestürzten einen Augenblick auf. Als Kluckkluck an den Zaun gekommen war, schnellte er seinen kleinen, behenden Körper trotz der vielen Zweige und des Gestrüpps hinüber und gelangte so glücklich ins Freie.

Die Mutter aber wurde durch das dichte Laub zurückgehalten. Majestätisch blieb sie stehen und blickte durch eine Öffnung des Laubes wie durch ein Fenster. Mit den schrecklichen runden, zorngeröteten Augen betrachtete sie den Eindringling, der, am Ende seiner Kräfte, nicht mehr weiter konnte.

»Wer bist du, der du es gewagt hast, dir die Speise anzueignen, die ich mit so viel Mühe aus dem Boden grub?« fragte sie.

»Ich bin Kluckkluck«, erwiderte demütig das Küchlein. »Aber wer bist du, und warum hast du mir so wehgetan?«

Auf beide Fragen gab sie nur eine Antwort: »Ich bin die Mutter.« Und zornig wandte sie ihm den Rücken.

Einige Zeit darauf befand sich Kluckkluck, der inzwischen zu einem prächtigen Rassehahn herangewachsen war, in einem anderen Hühnerhof. Und eines Tages hörte er, wie seine neuen Gefährten alle mit Liebe und Sehnsucht von ihrer Mutter sprachen.

Da gedachte er seines eigenen bitteren Schicksals und sagte voller Traurigkeit: »Meine Mutter war ein ganz fürchterliches Tier, und ich wünschte, ich hätte sie nie kennengelernt.«


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