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II

Marios Einbildung schadete niemand, und es wäre unrecht gewesen, sie ihm zu nehmen. Giulio aber ging so zart mit ihr um, daß Mario vor ihm nicht einmal mehr errötete, wenn er merkte, daß er sie eingestanden hatte. Giulio hatte sie so tief begriffen und sich zu eigen gemacht, daß er sie sogar klarer erkannte als Mario selbst. Zwar hütete auch er sich, vor Dritten seinen Glauben an das Genie des Bruders zu bekennen, aber es kostete ihn keine Überwindung, denn er tat es nur, weil er sah, daß Mario es ebenso machte. Und Mario lächelte über die Bewunderung seines Bruders, ohne zu ahnen, daß er selber sie ihn gelehrt hatte.

Aber er genoß sie, und das Zimmer, in dem der Kranke zwischen dem Bett und dem Sofa verbrachte, war für ihn eine Stätte des Glücks, wie sie auf dieser Erde selten ist. Denn hier fand Mario, was er Stille und Sammlung nannte, was in Wahrheit aber von anderen, die vom Glück mehr begünstigt sind, an ganz besonders geräuschvollen Orten gefunden zu werden pflegt.

Vom Ruhm erfüllt war dieses Zimmer, aber sonst hatte es nur wenig aufzuweisen. Der leichte Tisch, der in der Mitte stand, wenn die Brüder ihr Frühstück nahmen, wurde in eine Ecke neben das Bett gerückt, wenn sie zu Mittag speisten. Seit kurzem hatten sie nämlich Giulios Bett in das Speisezimmer stellen lassen. Der Brennstoff war während des Krieges teuer geworden, und überdies war jenes Zimmer das wärmste des ganzen Hauses. Deshalb verließ der Kranke es den Winter über nie. An den langen Abenden tröstete dort der Dichter den Gichtkranken, und der Gichtkranke sprach dem Dichter Mut zu. Der Vergleich mit dem Blinden und dem Lahmen der Fabel drängt sich von selber auf.

Ein sonderbarer Zufall fügte es, daß die beiden Alten, die stets arm gewesen waren, während des Krieges, der für alle Bewohner Triests so hart war, keine großen Entbehrungen zu erdulden hatten. Ein slavischer Bauer nämlich fühlte für Mario eine lebhafte Sympathie, die sich in nahrhaften Geschenken wie Obst, Eiern und Federvieh äußerte. An diesem Erfolge des italienischen Schriftstellers, der niemals andere gehabt hatte, zeigt sich, daß die Literatur im Auslande eher Anerkennung findet als in des Dichters eigenem Lande. Leider wußte Mario diesen Erfolg nicht richtig zu würdigen, sonst hätte er ihm sicher wohlgetan. Zwar nahm er die Geschenke gern an und verzehrte sie auch mit gutem Appetit, aber er meinte doch, die Freigebigkeit des Landmanns verdanke er nur seiner Unwissenheit, und ein Erfolg auf Grund mangelnden Wissens werde oft Betrug genannt. Daher lastete diese Sache auf seinem Gewissen, und, um sich seine gute Laune und seinen Appetit zu erhalten, nahm er seine Zuflucht zu einer Fabel: Einem Vöglein wurden Brotstücke hingeworfen, die für seinen kleinen Schnabel zu groß waren. Mit geringem Erfolge bemühte sich das Vöglein hartnäckig mehrere Tage lang um seine Beute. Es wurde noch schlimmer, als das Brot hart geworden war, denn da mußte das Vöglein ganz und gar auf die Labung verzichten, die man ihm zugedacht hatte. Es flog davon und dachte: Die Unwissenheit des Schenkenden ist das Unglück des Beschenkten.

Nur die Moral dieser Fabel paßte genau auf den Fall des Bauern. Das Übrige war von der Inspiration so völlig verändert worden, daß der Bauer sich darin sicher nicht wiedererkannt hätte. Und das war der Hauptzweck der Fabel. Mario hatte sich eine Last von der Seele schaffen, nicht aber den Bauern verletzen wollen, der es auch wirklich nicht verdiente. So kann man aus der Fabel, wenn man will, eine gewisse, wenngleich nicht eben starke Kundgebung der Dankbarkeit wohl herauslesen.

Die beiden Brüder führten ein streng geregeltes Leben. Selbst der Krieg, der die ganze Welt durcheinanderrüttelte, vermochte an ihren Gewohnheiten nichts zu ändern. Giulio kämpfte seit Jahren mit gutem Erfolge gegen die Gicht, die sein Herz bedrohte. Er ging frühzeitig zu Bett, und die Bissen, die er sich gestattete, pflegte er zu zählen. Dabei verlor er nicht seinen Humor, und gelegentlich bemerkte er wohl: »Ich möchte wissen, ob ich das Leben oder den Tod betrüge, wenn ich noch immer lebe.« Er war zwar kein Schriftsteller, aber man sieht, daß er aus seinem Leben, das sich tagaus, tagein in derselben Weise abspielte, allen Geist herauszupressen wußte, der darin zu finden war. Daher kann man dem gewöhnlichen Sterblichen nicht dringend genug anraten, ein geregeltes Leben zu führen.

Giulio ging im Winter zu Bett, sobald die Sonne unterging, im Sommer aber viel früher. Im warmen Bett fühlte er seine Schmerzen nicht so sehr, und er verließ es nur deshalb täglich auf einige Stunden, weil der Arzt es verlangte. Das Abendessen wurde neben dem Bett aufgetragen, und die beiden Brüder nahmen es gemeinsam ein. Es wurde von gegenseitiger Liebe gewürzt, einer Liebe, die aus ihren Kinderjahren stammte. Mario war für Giulio immer noch sehr jung, und Giulio für Mario der Alte, bei dem er sich in jeder Lebenslage Rat holen konnte. Giulio merkte nicht, wie Mario ihm an Vorsicht und Langsamkeit der Bewegungen von Tag zu Tag immer ähnlicher wurde, daß es fast aussah, als litte er auch an der Gicht, und Mario sah nicht, daß der ältere Bruder ihm keinen andern Rat mehr geben und ihm nichts mehr sagen konnte, als was er ihm von den Augen abgelesen hatte. Und das war auch ganz in der Ordnung: Es handelte sich ja nicht darum, einen Rat zu geben oder eine Mahnung zu erteilen, sondern darum, zu stützen und zu ermutigen. Und das wurde dem Gichtkranken leichter, als man hätte glauben sollen. Wenn Mario die Darlegung einer Idee, einer Hoffnung oder einer Absicht mit den Worten schloß: »Bist du nicht auch der Meinung?« – war Giulio ganz unbedingt der Meinung, und voller Überzeugung stimmte er ihm zu. Deshalb war die Literatur für alle beide eine vortreffliche Sache, und das kärgliche Mahl schmeckte besser, weil es von einer gleichmäßigen, sicheren Liebe gewürzt wurde, die jeden Zwist ausschloß.

Eine kleine Meinungsverschiedenheit zeigte sich aber doch einmal, und daran waren die verwünschten Vöglein schuld, die einen Teil ihres Brotes von dannen schleppten. »Mit dem Brot könntest du einem Christen das Leben retten«, bemerkte Giulio. Und Mario erwiderte: »Dafür mache ich aber fünfzig Vöglein mit dem Brot glücklich.« – Giulio ließ seinen Einspruch sogleich fahren und machte ihn nie wieder geltend.

Wenn das Abendessen beendet war, bedeckte sich Giulio das Haar, die Ohren und die Wangen mit seiner Nachthaube, und Mario las ihm eine halbe Stunde lang aus einem Roman vor. Beim Klange der sanften Stimme des Bruders wurde Giulio ruhig, sein angestrengtes Herz schlug regelmäßiger, und seine Lunge weitete sich. Dann war der Schlaf nicht mehr fern, und wirklich wurde sein Atem bald geräuschvoller. Mario dämpfte ganz allmählich seine Stimme, bis er, immer leiser und leiser werdend, beim Schweigen anlangte. Dann löschte er das Licht und entfernte sich auf Zehenspitzen.

Die Literatur war daher auch für Giulio eine gute Sache, aber in einer ihrer Formen, als Kritik, war sie ihm schädlich und bedrohte seine Gesundheit. Gar zu oft unterbrach Mario das Vorlesen und fing an, heftig den Wert des Romans, aus dem er vorlas, in Zweifel zu ziehen. Seine Kritik war die unbarmherzige Kritik des erfolglosen Autors. In ihr erfüllten sich seine glänzendsten Träume, und in ihr fand er seine Ruhe – denn die Aufregung war erkünstelt. Sie hatte aber den Nachteil, daß sie dem Bruder den Schlaf verdarb. Heftige Ausbrüche, Töne der Verachtung, Diskussionen mit gar nicht vorhandenen Unterrednern, alles das vereinte sich zu einem Konzert verschiedener Musikinstrumente, die einander ablösten und den Schlaf verscheuchten. Und zudem mußte Giulio aus Höflichkeit achtgeben, daß er nicht einschlief, weil er alle Augenblicke gefragt wurde, wie er darüber dächte. Er mußte dann sagen: »Ich bin ganz deiner Meinung.« – Diese Worte waren ihm so geläufig, daß er, um sie zu bilden, nichts weiter zu tun brauchte, als den Atem durch die Lippen entweichen zu lassen. Wenn man aber schnarcht, ist man nicht einmal dazu mehr imstande.

Eines Abends hatte der verschlagene Kranke, der in seiner großen Haube so unschuldig aussah, einen klugen Einfall. Mit unsicherer Stimme (vielleicht weil er fürchtete, der Bruder könne ihn durchschauen) bat er Mario, er möchte ihm doch seinen eigenen Roman vorlesen. Mario fühlte, wie ihm das Blut heiß nach dem Herzen strömte. »Aber du kennst ihn doch schon«, wandte er ein, während er sich sogleich anschickte, das Buch zu öffnen, das er stets bei sich trug. Sein Bruder antwortete, er habe den Roman seit vielen Jahren nicht gelesen, und er spüre gerade jetzt ein Verlangen, ihn noch einmal zu hören.

Mit sanfter, wohltönender Stimme begann Mario, seinen Roman »Eine Jugend« vorzulesen, und Giulio, der sich nun wohlig dem Schlaf überließ, murmelte begeistert: »Schön! Großartig! Vortrefflich!« Und die Stimme des Vorlesers wurde immer wärmer und bewegter.

Mario war überrascht. Er hatte noch niemals eine eigene Arbeit laut gelesen. Wieviel eindrucksvoller wirkte doch der Roman, als er durch den Klang, den Rhythmus, durch wohlbedacht eingefügte Pausen und durch kluges Vorwärtstreiben zu neuem Leben erwachte! Die Komponisten haben es gut. Sie lassen ihre Werke von Künstlern spielen, die mit allem Fleiße studieren, wie man durch die Kunst des Vortrags alle ihre Schönheiten zur vollen Wirkung bringt. Der eilige Leser aber nimmt sich nicht einmal die Mühe, die Worte des Dichters zu murmeln, er hastet von einem Satzzeichen zum nächsten, wie ein verspäteter Wanderer auf ebener Straße. »Wie gut habe ich das doch ausgedrückt!« dachte Mario voller Bewunderung. Die Prosa der anderen hatte er ganz anders gelesen, um so heller glänzte nun seine eigene.

Als Mario einige Seiten vorgelesen hatte, wurde Giulios Atem röchelnd. Das war ein Zeichen, daß die Tätigkeit seiner Lunge nicht mehr unter der Herrschaft des Bewußtseins stand. Mario zog sich in sein eigenes Zimmer zurück, von seinem Roman aber konnte er sich noch lange nicht trennen. Einen guten Teil der Nacht verbrachte er damit, ihn mit lauter Stimme zu lesen. Es war, als wenn sein Werk zum zweiten Male geboren wäre. Es hatte die Luft mit seinem Klang erfüllt und war durch das Ohr, unser empfindlichstes Organ, zu seinem Gehirn und zu dem des Bruders gedrungen. Und Mario fühlte, wie seine Gedanken erneut und verschönt zu ihm zurückkehrten, und wie sie auf Wegen, die sie sich selber geschaffen hatten, zu seinem Herzen drangen. Welch neue Aussichten eröffneten sich!

Am nächsten Tage schrieb Mario die Fabel »Der überraschende Erfolg«:

Es machte einem reichen Herrn Vergnügen, sein Brot, das er im Überfluß besaß, den Vöglein hinzustreuen. Aber nur etwa zehn oder wenig mehr Sperlinge labten sich an seiner Gabe, und ein guter Teil des Brotes verschimmelte. Darüber betrübte sich der arme Herr, denn nichts verdrießt so sehr, als wenn man sehen muß, wie ein Geschenk gering geachtet wird. Aber da geschah es, daß er krank wurde, und die Vöglein, die das Brot vermißten, an das sie gewöhnt waren, erfüllten den ganzen Garten mit ihrem Geschrei: »Das Brot ist nicht mehr da, das immer hier gelegen hat. Das ist Unrecht, das ist Betrug!« Da kamen eine Menge Sperlinge herbeigeflogen, um die Vorsehung zu bewundern, die sich nicht mehr offenbaren wollte, und als der Wohltäter wieder gesundete, hatte er nicht Brot genug, um alle seine Gäste satt zu machen.

Es ist nicht leicht, den Ursprung einer Fabel zu erkennen. Nur der Titel läßt vermuten, daß diese Fabel in dem Zimmer des Kranken entstanden sein muß, weil Mario dort seinen Erfolg gefunden hatte. Wer die Wege kennt, auf denen die Inspiration sich bewegt, wird sich nicht darüber wundern, daß er von dem leichten Erfolge, den er bei seinem Bruder davongetragen hatte, zu dem Erfolge jenes armen Teufels in seiner Fabel gelangte, der erst hatte krank werden müssen, um ihn zu erlangen. Er wird aber nicht verstehen können, woher er jene verschlagenen Vöglein nahm, die ihren Verlust der ganzen Welt verkündeten, aus Eigennutz aber schwiegen, solange es ihnen gut ging. Sollte man etwa annehmen – wenn es einem auch nicht ganz leicht fällt –, daß der Dichter hellsehend ist, wenn er dichtet, und daß Mario bei seinem eigenen Erfolge die Verschlagenheit des Bruders wohl durchschaute? Leichter freilich wird man sich zu der Annahme entschließen, daß ein Mensch in Marios Lage, der versucht, den Begriff »Erfolg« zu analysieren, jedem, auch den Vöglein, Schlechtes zutraut.

Am folgenden Abend ließ Mario sich erst ein wenig bitten, bevor er bereit war, die Lektüre wieder aufzunehmen. »Du bist zu schnell eingeschlafen,« sagte er zu seinem Bruder, »und ich möchte dich nicht langweilen«. Aber Giulio wollte nicht gern auf die einzige Lektüre verzichten, die sich so unbedingt jeglicher Kritik entzog. Er versicherte, daß er nicht aus Langeweile in Schlaf verfiele, denn Langeweile pflege den Schlaf ja gerade zu verscheuchen, sondern deshalb, weil er sich so unbeschreiblich wohlfühle, wenn er gewisse Töne und Gedanken höre.

Da somit alles in bester Ordnung war, änderte sich daran nichts, solange der Krieg dauerte. Und der Krieg dauerte so lange, daß der Roman sich – trotz der gegenteiligen Versicherung des einzigen Kritikers, der sich mit ihm befaßt hatte – als zu kurz erwies. Doch darin erblickte weder Giulio noch Mario eine besondere Schwierigkeit. Giulio erklärte: »Ich habe mich an deine Prosa so gewöhnt, daß es mir schwerfallen würde, eine andere zu ertragen, die doch immer so aufgeregt und wichtigtuerisch einherschreitet.« Mario war selig und begann die Lektüre von vorne. Er würde sich dabei nicht langweilen, das wußte er. Die eigene Prosa trägt sich immer am besten vor. Und das kann man verstehen: das eine Organ spricht aus, was das andere ersonnen hat.

So kam es, daß Mario, der von Erfolg zu Erfolg schritt, nahezu wehrlos war, als man ein Komplott anzettelte, das ihn von seiner Höhe herabstürzen sollte.

 


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