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Ob der Sperling oder die Schwalbe uns Menschen irgendwie nähersteht, scheint eine müßige Frage. Beide, wird man sagen, sind geflügelte Wesen, vermutlich gleichen Gewichts, und beide sprechen eine zwar schönere, uns aber gleich unverständliche Sprache. Wer wollte also behaupten, das eine Tierchen stünde uns näher als das andere!
Ich hatte in meinem Leben oft Gelegenheit, mich mit Sperlingen und Schwalben zu beschäftigen, aber während die Schwalbe mir ewig fremd und unbegreiflich blieb, habe ich der Seele des Sperlings manches ihrer kleinen Geheimnisse ablauschen können, und damit der Leser nicht länger in Ungewißheit bleibt, bin ich gewillt, gleich hier auf der Stelle zu sagen, was ich darüber in Erfahrung brachte.
Die Schwalbe nimmt ihre Nahrung zu sich, während sie fliegt. Dadurch unterscheidet sie sich so grundlegend von dem Menschen, daß ich in der ganzen Natur nichts aufzuweisen wüßte, was uns wesensfremder wäre: nicht einmal die Kiemenatmung der Fische, geschweige denn die Gewohnheit des Hais, sich zur Nahrungsaufnahme auf den Rücken zu legen – denn das könnten wir mit einiger Übung allenfalls wohl auch noch fertig bekommen.
Da wir also außerstande sind, den Schwalben Nahrung anzubieten, können wir niemals mit ihnen Kontakt gewinnen. Den Sperlingen aber konnte ich Futter streuen, und auf diesem Wege gelang es mir, ein wenig in ihrer Seele zu lesen und diese oder jene Ähnlichkeit oder gar Gleichheit mit der unsern zu entdecken. Die rudimentäre Seele nämlich ist, wie mir scheint, so einfach wie eine gerade Linie. Sobald sie kompliziert wird, ist sie nicht mehr die Seele. Finde ich aber, daß auf dieser geraden Linie mehr als ein Punkt zusammenfällt, dann kann ihre Länge wohl verschieden, die Richtung aber wird identisch sein.
Wenn Schnee die Erde bedeckt, wird der Sperling mutig. Nicht ein Krümchen Brot kann man in seiner Nähe zu Boden fallen lassen, ohne daß er sich sofort darauf stürzt und es von dannen trägt. Sobald der Schnee aber zu schmelzen beginnt, und der Sperling hoffen kann, wo anders Nahrung zu finden, genügt die geringste Gefahr, ihn zu verscheuchen, und er läßt jede Speise unberührt, wenn sie in der Nähe eines gefahrdrohenden Hauses niedergelegt wird. In einem schneereichen Winter hatten meine Sperlinge sich daran gewöhnt, mir fast aus der toddrohenden Hand zu fressen. Ich beglückwünschte mich zu diesem Erfolge und hielt unsere Freundschaft von nun an für endgültig und fest begründet. Kaum aber begann der Schnee zu schmelzen, so war es mit der Anhänglichkeit meiner Sperlinge vorbei, obwohl der Winter keineswegs zu Ende und Nahrung noch immer nicht leicht zu finden war. Der Hungrige ist eben immer sehr anhänglich und zum Vertrauen geneigt!
Wie verderbt und unsympathisch aber die kleine Sperlingsseele im Grunde ist, lehrte mich eine zweite Erfahrung.
Ich war mit meiner Familie in ein geräumiges, einsam gelegenes Haus übergesiedelt, und da wir Überfluß an Brot hatten, öffnete ich jeden Tag ein Fenster, das nach der Gartenseite des Hauses lag, und streute den Vögeln Brotkrumen. Vier oder fünf Sperlinge bemerkten es, aber es waren ihrer zu wenige, und mein Brot verschimmelte auf dem Erdboden. Ich wußte nicht, wie ich es anstellen sollte, andere Vögel herbeizulocken. Immer kamen dieselben fünf Sperlinge, die augenscheinlich sehr ausgehungert waren, und taten sich an dem Überfluß gütlich. Ein Zufall kam mir endlich zu Hilfe. Ich zog mir eine Influenza zu, die mich auf eine Woche ans Bett fesselte. Als ich wieder aufstehen konnte und mein Brot zu streuen begann, begrüßte mich ein vielstimmiges Freudengeschrei. Hunderte von Sperlingen hatten sich vor meinem Fenster versammelt. Anfangs erschien mir die Sache rätselhaft, als ich aber darüber nachdachte und mich der Erfahrungen meines Lebens erinnerte, fing ich an zu begreifen. Solange die fünf Sperlinge jeden Tag ihr Brot bekamen, hatten sie das Geheimnis gehütet und die reichliche Beute unter sich geteilt. Als es aber ausblieb, hatten sie sich mit großem Geschrei darüber beklagt, und so hatten alle anderen Sperlinge erfahren, daß es hier immer Brot gegeben hatte, und daß nun keins mehr da war. Mein Fenster hatte bei ihnen Berühmtheit erlangt, und als ich es wieder öffnete, um Brot zu streuen, hatten alle sich eingefunden.