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VII

Gaia wunderte und ärgerte sich. Er hatte gehofft, Mario würde selber den Scherz, den er sich mit ihm gemacht hatte, unter die Leute bringen. Er hatte sogar erwartet, irgendein Freund Marios würde die Sache in ein Lokalblatt bringen. Er selber tat nichts, weil er sich nicht noch mehr bloßstellen wollte und es auch für überflüssig hielt. Ein merkwürdiger Autor, dieser Mario! Unbegreiflich, daß er nicht in der ganzen Stadt umherlief und den Leuten von seinem Erfolge erzählte. Gern hätte Gaia ihn einmal aufgesucht, um sich über sein Geschwätz zu amüsieren. Aber leider fand er keine Zeit dazu. So blieb denn der Scherz, dessen Früchte so langsam reiften, noch immer eine Verheißung wohlverdienter Freuden.

Als Gaia eines Abends nach einer mehrstündigen Fahrt auf der langsamen istrischen Eisenbahn nach Triest zurückkehrte, ging er in ein Restaurant, um sich in der Gesellschaft einiger Freunde von den Anstrengungen der Reise zu erholen. Bei einer Flasche Wein hatte er bald die unbehagliche Fahrt in dem kleinen, unerträglich heißen Abteil vergessen, und um nun auch noch die Erinnerung an die langweiligen Geschäfte loszuwerden, erzählte er seinen Freunden den Streich, den er Mario gespielt hatte. Dann machte er den Vorschlag, einer der Anwesenden, der die Brüder kannte, sollte zu Mario gehen und ihm im Auftrage eines andern deutschen Verlegers ein zweites Angebot auf seinen Roman machen. Er sollte ein höheres Honorar bieten, als Westermann geboten hatte, und sich verpflichten, das Buch sofort zu veröffentlichen. Gaia selber war von seinem Einfall ganz begeistert und wollte sich vor Lachen ausschütten, als er sich ausmalte, wie Mario jammern würde, weil er schon mit Westermann abgeschlossen hatte, seine Freunde aber fanden den Scherz geschmacklos und weigerten sich, ihm dabei zu helfen. Gaia verzichtete also auf ihre Mitwirkung, ließ sie aber versprechen, den beiden Brüdern von dem, was sie gehört hatten, nichts zu verraten.

Der Verzicht auf eine Weiterführung des Scherzes wurde Gaia nicht sonderlich schwer. Die Sache hatte ihm schon viel Spaß gemacht, und er würde sicher noch genügend lachen können, zum mindesten, wenn Mario seiner bitteren Enttäuschung Luft machen würde. Vielleicht würde er auch das ergötzliche Schauspiel genießen können, wie der eingebildete Narr von seiner Anmaßung geheilt würde. Ihn selber, meinte er, könne kein Vorwurf treffen. Der Vertreter Westermanns war nämlich niemand anders gewesen als ein Geschäftsreisender, den der Zusammenbruch Österreichs in Triest überrascht hatte, und der zur Mitwirkung bei Gaias Scherz gern bereit gewesen war, weil er in die Langeweile des erzwungenen Müßiggangs etwas Abwechslung zu bringen versprach. Er war jetzt längst über alle Berge, und Gaia konnte daher dreist behaupten, er wäre selber hineingefallen. Vielleicht würde Mario sogar Humor genug besitzen, um über den Scherz zu lachen. Das war allerdings wenig wahrscheinlich, denn Leute, die den Ruhm lieben, können im allgemeinen nicht lachen. Sollte Mario sich aber doch zu dieser vernünftigen Auffassung aufschwingen können, dann wollte er das gern anerkennen und ihn in aller Freundschaft zu einer Flasche Wein einladen.

Er hatte indessen eine große Unvorsichtigkeit begangen. Einer seiner Freunde, die er eingeweiht hatte, erzählte die Geschichte in seiner Familie, und sein kleiner Sohn, den er von Zeit zu Zeit zu den Samiglis schickte, um sich nach Giulios Befinden zu erkundigen, erzählte die Geschichte dem Kranken so, wie er sie verstanden hatte. Er sagte, Gaia hätte Mario aufgebunden, ein Theaterdirektor Giostermann wolle sein Schauspiel zur Aufführung bringen. Der ganze Bericht war so verworren, daß Giulio anfangs glaubte, es handele sich um eine Sache, die Mario gar nichts anginge.

Auch Mario lachte im ersten Augenblick, als er diese Geschichte hörte. Die beiden Brüder speisten gerade zu Abend. Mario blieb zunächst vollkommen ahnungslos und speiste ruhig weiter. Plötzlich aber hatte er ein Gefühl, als setze sein Herz aus. Blitzartig hatte er die volle Wahrheit erkannt. Er war von seiner Entdeckung ganz überwältigt, gleichzeitig aber wunderte er sich, daß es erst eines andeutenden Wortes bedurft hatte, um ihm die Augen zu öffnen. Hatte er sie denn die ganze Zeit gewaltsam geschlossen gehalten, um nichts zu sehen und nichts zu begreifen? Gleich von Anfang an hatte er die wahre Natur der beiden Burschen erkannt, und er hätte sie auf der Stelle entlarven können, als sie sich in seiner Gegenwart ohne jede Scham vor Lachen schüttelten. Wo hatte er nur seine Gedanken, wo hatte er seine Augen gehabt? Er erinnerte sich noch genau, wie die Brille auf der schmalen Nase des Deutschen gezittert hatte, weil es ihn große Mühe kostete, sein Lachen zu unterdrücken (wie ein Auto zittert, wenn der Motor angeworfen wird). Marios Verstand war jetzt so wach und scharf, daß ihm eine Beobachtung auffiel, die seine Augen damals gemacht hatten, ohne sie gleich an das Gehirn weiterzuleiten: das Blatt Papier, das der Deutsche aus seiner Brieftasche genommen hatte, und das das Lachen der beiden Verschworenen hatte erklären sollen, war mit gotischen Lettern bedruckt gewesen. Er war seiner Sache so sicher, als sähe er die gerade, eckige Druckschrift noch immer vor Augen. Der Zettel konnte also unmöglich aus einem Triestiner Bordell stammen! Diese infamen Lügner! Sie hatten es nicht einmal für nötig befunden, schlau zu Werke zu gehen! So tief hatten sie ihn also verachtet!

Wenn man ihn ausgelacht hatte, verdiente er jede Strafe. Er wäre auch bereit gewesen, sich selber auf der Stelle zu bestrafen und die Zähne tief in die Lippen zu schlagen. Aber so klar er die Dinge auch sah, ein leiser Zweifel blieb doch. War er denn wirklich so verblendet? Der arme Mario! Wenn eine so schmerzliche Wahrheit sich schonungslos enthüllt, genügt einem auch der vollständigste Beweis noch nicht. Jeder wehrt sich, so gut er kann, gegen sein Geschick. Mario sagte sich, wenn es sich um einen Scherz handelte, müßte man doch irgendeinen Zweck damit verfolgen. Solange er kein Motiv entdecken könne, brauche er also auch nicht anzunehmen, daß man ihm einen Streich gespielt habe. Nur um über ihn lachen zu können? Das ist ein Vergnügen, für das der Gefoppte niemals Verständnis hat.

Mario versuchte also den Zweifel loszuwerden, der, wenn er ihm auch wohl begründet schien, doch nur dazu beitrug, ihn aufzuregen und seinen Schmerz zu vertiefen. Er wollte daher wenigstens Gewißheit haben, ehe die lange Nacht begann. Es gab aber nur ein Mittel, sich diese Gewißheit zu verschaffen: intensives Nachdenken. Denn abgesehen davon, daß draußen ein wahres Unwetter tobte, war es ziemlich aussichtslos, Gaia zu suchen, da er, besonders am Abend, immer unterwegs war.

Zunächst kam es also darauf an, genau zu erfahren, was ihr kleiner Freund eigentlich gesagt hatte. So wurde der arme Giulio denn einem scharfen Verhör unterzogen. Leider stellte es sich aber bald heraus, daß der Kranke sich der Worte nicht mehr genau entsann, da er ihnen zu geringe Bedeutung beigemessen hatte. Er konnte Marios finsteres Gesicht nicht ertragen. Litt er schon unter dem Gedanken, was jetzt in seinem Bruder wohl vorgehen mochte, so litt er noch mehr unter der Furcht, sein Bruder könnte ihm zum zweiten Male seine Schwäche und die Nutzlosigkeit seines Lebens zum Vorwurf machen. Schließlich liefen ihm die Tränen über die eingefallenen Wangen.

Der Anblick seines weinenden Bruders regte Mario nur noch mehr auf. Über den Scherz zu weinen, hieß ja, ihm zuviel Bedeutung beilegen. Darum herrschte er den Kranken an: »Weshalb weinst du? Siehst du denn nicht, daß ich gar nicht daran denke zu weinen, obwohl die Sache mich doch eigentlich viel näher angeht? Du wirst mich niemals weinen sehen, aber ich hoffe, ich werde noch Gaia weinen sehen, wenn er es wirklich gewagt hat, sich mit mir einen Scherz zu machen.«

Er konnte Giulios Schwäche nicht mitansehen. Daher ließ er sein Essen im Stich, grüßte seinen Bruder kurz – denn er grollte ihm wirklich, weil er sich der Worte des Knaben nicht mehr genau erinnerte – und zog sich in sein eigenes Zimmer zurück.

Als er allein war, sah er völlig klar. Es war auch nicht der leiseste Zweifel möglich. Der Scherz, dem er zum Opfer gefallen war, hatte keinen andern Zweck als alle jene Scherze, die Gaia in Istrien und Dalmatien berühmt gemacht hatten, und über die Mario selber oft herzlich gelacht hatte. Denn über einen Scherz lachte man. Wenn man über ihn gelacht hatte, war sein Zweck erfüllt. Darum hatte auch Mario über Gaias Scherze gelacht, wie alle darüber lachten, die keinen Grund hatten, zu weinen. Als Mario daran dachte, begannen seine Tränen zu fließen, wie es das Gesetz des Scherzes verlangte.

Ohne sich auszukleiden, warf er sich auf sein Bett. In seinen Ohren klang noch immer das Gelächter der beiden Verschworenen, und es vermischte sich, gewaltig anschwellend, mit dem Toben der Elemente da draußen. Alle Träume, die sein Leben bereichert und verschönt hatten, wurden von diesem Gelächter erschlagen. Wenn das Gaias Ziel gewesen war, hatte er es wahrlich erreicht. Denn Mario schämte sich seiner Träume. Er war selber schuld daran, daß der im Grunde doch recht plumpe Scherz geglückt war. Bei seiner Ausführung war keine große Schlauheit mehr nötig gewesen, da Gaia ihn klug vorbereitet hatte. Er hatte seine Gedanken ausspioniert und ihm dann einen Vertrag vorgelegt, der keine Erfindung, sondern eine getreue Niederschrift seiner eigenen Gedanken war. Hatte er denn nicht seit einem halben Jahrhundert auf etwas dergleichen gewartet? Daher war er weder überrascht gewesen, als ihm der Vertrag vorgelegt wurde, noch hatte er mißtrauisch sein können. Er hatte den Leuten, die ihn vorgelegt hatten, nicht einmal ins Gesicht gesehen. Der Erfolg gebührte ihm, und auf welchem Wege er kam, war ohne Bedeutung. Daher hatte man zu Recht über ihn gelacht, wie man in früheren Zeiten zu Recht über die Gehörnten und die Schwachköpfe gelacht hatte.

Diese Erkenntnis quälte ihn und nicht etwa der Verlust des Geldes, das man ihm versprochen hatte. Auch nicht einen Augenblick machte er sich wegen der Schulden Gedanken, die er bei Brauer gemacht hatte. Zunächst waren ja die Sachen, die er sich von dem Gelde gekauft hatte, noch alle unversehrt in seinem Hause, und im übrigen kann man vielen Verpflichtungen nachkommen, wenn man sich redlich Mühe gibt. Das Geld spielte also keine Rolle. Aber die Überzeugung, daß sein Dasein nun unwiderruflich jeden Sinn und Zweck verloren hatte, quälte ihn über die Maßen. Nie wieder würde er zu jenem heiteren, anspruchslosen Leben zurückfinden können, da ein stolzer Traum sein bescheidenes Mahl gewürzt und ein stets zufriedenes Lächeln um seine Lippen gezaubert hatte.

Ein Scherz hat nur dann vollen Erfolg, wenn das Opfer in einer Stadt wohnt, die nicht groß genug ist, um zu gestatten, daß man sicher, das heißt von niemand gekannt, sich auf den Straßen zeigen kann. Wohin der Unglückliche auch gehen mag, überallhin folgt ihm sein Unglück wie sein Schatten. Wer derselben Gesellschaftsklasse angehört, kennt ihn und zerrt mit den Nägeln an seiner Wunde. Jeder hat sein Schicksal zu tragen, wenn es aber allen bekannt ist, verschlimmert es sich bei jeder Begegnung, bei jedem Blick der fremden Augen. Nie würde das Brandmal vergehen, das dieser Scherz hinterlassen hatte. Ebensowenig wie die Frau, die ihn einst zum Narren gehalten und abgewiesen hatte, ihm jemals begegnen konnte, ohne boshaft zu lächeln, so alt sie auch inzwischen geworden war.

Mario war gerecht genug einzusehen, daß auch er für andere ein lebendiger Vorwurf war. Denn in der Stadt gab es einen Mann, der bei seinem bloßen Anblick schon ganz verwirrt wurde. In seiner Gutmütigkeit hatte er versucht, ihre Beziehungen zu verbessern, aber es war ihm nicht geglückt. Denn eine peinliche Sache wird durch Erklärungen nur noch peinlicher. Gewiß hatte er sich nie mit jemand einen Scherz erlaubt, aber das Leben erfindet bisweilen noch viel grausamere Scherze, als ein Gaia sie je ersinnen kann, und schon, daß man etwas davon weiß, genügt, um den Opfern als Feind zu erscheinen.

Die Nacht wäre ganz unerträglich gewesen, wenn sich nicht die Fabeln des armen Mario erbarmt und ihm etwas Erleichterung verschafft hätten. Sie traten ganz unschuldig auf, wie wenn das Abenteuer mit Westermann sie gar nichts anginge, und Mario gewährte ihnen bereitwilligst Zutritt zu seinem Zimmer. Sie verdienten aber auch einen freundlichen Empfang. Denn sie waren rein geblieben. Gaias Scherz hatte sie nicht beschmutzen können. Und sie waren rein, weil Mario selber sie nie für mehr gehalten hatte als für eine natürliche Lebensäußerung wie etwa das Lächeln oder das Atmen. Gaia hatte das nicht voraussehen können. Vielleicht war Mario von einer bestimmten Form der Literatur zu heilen, aber sicher nie von der Literatur schlechthin.

Es waren drei Fabeln, die einander die Hand reichten, aber einzeln vor Mario traten, um ihn zu trösten und zu sich selbst zurückzuführen.

Die erste Fabel entstand folgendermaßen: Mario hegte einigen Zweifel, ob er auch Manns genug sein würde, Gaia zu bestrafen. Nicht etwa, daß er Angst vor ihm gehabt hätte, aber er fürchtete den Hohn, mit dem er ihn verdientermaßen überschütten würde, wenn er ihm gegenübertrat. Da flüsterte ein Vöglein ihm zu: »Auch in der Schwäche liegt ein Trost.« Und so entstand diese Fabel: Ein Vöglein wurde von einem Sperber gewürgt. Es hatte nur gerade noch Zeit, der Welt seinen Protest mit einem einzigen, lauten Schrei kundzutun. Das Vöglein aber glaubte, seine Pflicht getan zu haben, und seine Seele flog stolz zur Sonne empor, um sich im unendlichen Blau zu verlieren. – Und Mario betrachtete, getröstet und bewundernd, das tiefe Blau, dem die Seele des Vögleins zugehört, wie die unsere dem Paradiese.

Die zweite Fabel befaßte sich mit dem laut verkündeten Vorsatz Marios, sich nie mehr mit Literatur zu befassen, und suchte ihn lächelnd einer Korrektur zu unterziehen. Dieser Vorsatz kam nämlich ein wenig spät. Und da ein kleines Vöglein, wie die folgende Fabel lehrte, in denselben Irrtum verfallen war, mußte Mario über seinen eigenen lächeln: Ein Vöglein wurde von einer Kugel getroffen. Es hatte gerade noch soviel Kraft, zu fliehen und sich im Waldesdunkel zu verbergen. Dort hauchte es mit dem Seufzer: »Ich bin gerettet!« sein Seelchen aus.

Die dritte Fabel macht den Sinn der zweiten erst richtig deutlich. Die Beschäftigung mit der Literatur zu verbergen, ist nämlich leicht. Man braucht sich nur vor den Schmeichlern und den Verlegern zu hüten. Aber auf sie verzichten? Lohnt es denn dann noch zu leben? Die traurige Erfahrung, die das Vöglein in der dritten Fabel machte, ließ es Mario nicht ratsam erscheinen, zu tun, was Gaia gewollt hatte: Ein Vöglein, das der Hunger blind gemacht hatte, ging auf die Leimrute. Es wurde gefangen und in einen Käfig gesteckt, der so klein war, daß es nicht einmal seine Flügel ausbreiten konnte. Es litt unsagbar. Eines Tages aber blieb die Tür des Käfigs offen, und das Vöglein gewann seine Freiheit zurück. Die Freude des Vögleins war indessen von kurzer Dauer. Seine schmerzliche Erfahrung hatte es so mißtrauisch gemacht, daß es floh, sobald es Futter erblickte, da es überall eine Leimrute vermutete. So geschah es, daß es nach kurzer Zeit vor Hunger starb.

Die Vöglein, die alle drei so elendiglich zugrunde gingen, hatten Mario getröstet. Vielleicht hätte er jetzt schlafen können, wenn er nicht plötzlich etwas vermißt hätte, woran er gewöhnt war. Er hörte seinen Bruder nicht schnarchen. Ob Giulio etwa noch wach war? Zu dieser späten Stunde? Das wäre ein bedenkliches Zeichen gewesen.

Mario schlich auf Zehenspitzen nach der Tür und blickte in das Zimmer seines Bruders. Die Lampe brannte nicht mehr, aber Giulio war wach. Da er seinen Bruder hörte, bat er ihn hereinzukommen. Als Mario Licht gemacht hatte, blickte Giulio ihn ängstlich an. Da er fürchtete, er müßte noch einmal Vorwürfe über sich ergehen lassen, sagte er niedergeschlagen: »Ich kann mich nicht darüber trösten, daß ich dir Kummer bereitet habe, aber ich kann mich wirklich nicht der genauen Worte entsinnen, die der Knabe gebraucht hat.«

»Und deshalb kannst du nicht einschlafen?« rief Mario tief betroffen. »Ich bitte dich, versuche doch, ob du nicht einschlafen kannst! Jetzt verstehe ich auch, warum ich selber nicht einschlafen konnte. Ich bin nicht eher ruhig, als bis ich höre, daß du schläfst. Mach dir doch keine Gedanken weiter über die Sache, Giulio. Wir sprechen morgen darüber...« Und er schickte sich an, das Licht auszuschalten.

Giulio traute seinen Ohren kaum, als er diese freundlichen Worte hörte, die Balsam in sein wundes Herz träufelten. Um seines Glückes ganz gewiß zu sein, hinderte er seinen Bruder, das Licht auszuschalten, und sagte: »Du bist jetzt ruhiger, Mario. Könntest du mir nicht etwas vorlesen? Ist dein Hals wieder besser? Ich schlafe nicht mehr gut, seitdem du mir abends nicht mehr vorliest.«

Und Mario, der ganz vergessen zu haben schien, in welcher Gemütsverfassung er gewesen war, als der Erfolg nahe und sicher schien, erwiderte: »Das wußte ich nicht, denn sonst hätte ich dir jeden Abend so viel oder mehr vorgelesen, wie du brauchst, um einschlafen zu können. Die Geschichte mit dem Hals war nicht so schlimm. Das ist jetzt wieder ganz in Ordnung. Wenn du willst, lese ich dir aus De Amicis oder Fogazzaro vor. Dann wirst du sicher sehr bald einschlafen.«

Diese letzte Bemerkung könnte den Anschein erwecken, als wäre der Scherz spurlos an Mario vorübergegangen. Jedenfalls hätte Gaia, wenn er sie hätte hören können, sicher gedacht, daß bei einem so eingebildeten Menschen jede Mühe verschwendet war. In Wahrheit aber dachte Mario in diesem Augenblick überhaupt nicht an seinen eigenen Roman. Für ihn existierte nur der kranke Bruder, dem man zur Beruhigung so viel Literatur einflößen mußte, wie er brauchte, und es machte für ihn dabei keinen Unterschied, ob sein eigenes Werk oder das eines andern zum Klistier erniedrigt wurde.

Aber an diesem Abend wollte er nicht mehr vorlesen. Es war schon spät, und er hatte etwas Schlaf sehr nötig. Wenn er Gaia gegenübertrat, mußte er einen heiteren und ausgeruhten Eindruck machen. Statt seinem Bruder also eine beruhigende Dosis Literatur zu verabfolgen, behandelte er ihn mit eindringlichen Vorhaltungen und liebevollen Versprechungen. Er sagte, Giulio müsse jetzt schlafen, aber am nächsten Abend würden sie zu ihrer alten, lieben Gewohnheit des Vorlesens wieder zurückkehren. Er würde dazu die Werke anderer Autoren benutzen, ihm aber auch etwas vorlesen, was er selber geschrieben, bisher aber nie erwähnt hätte. Er vertraute Giulio also an, er hätte in aller Stille eine stattliche Anzahl Fabeln gesammelt, bedeutete ihm aber, daß niemand außer ihm je etwas davon erfahren dürfe. Denn es handele sich hier um eine Literatur für den Hausgebrauch. Eigentlich sei es also gar keine Literatur, denn die Literatur sei ja dazu bestimmt, verkauft und gekauft zu werden. Die Fabeln aber wären nur für sie beide und für niemand sonst bestimmt. »Du wirst schon sehen. Sie sind kurz, und deshalb eignen sie sich gut zum Schlummerlied. Aber wenn ich sie dir vorlese, werde ich dir erzählen, wie sie entstanden sind, denn jede Fabel erinnert an einen meiner Tage. Sie sind aber nicht eine bloße Erinnerung, sondern gleichsam eine Verbesserung dessen, was ich am Tage getan habe. Ich mag viele Dummheiten gemacht haben, aber du wirst sehen daß meine Gedanken klüger waren als meine Taten.«

Es dauerte nicht lange, so war Giulio eingeschlafen. Glücklich über seinen Erfolg, legte sich nun auch Mario zu Bett. Und bald vermischten sich mit dem Heulen des Borasturmes die rhythmischen Brummbaßtöne Giulios und von Zeit zu Zeit ein lauter Schrei Marios, denn im Traume war er noch immer überzeugt, zu etwas anderem, Besserem berufen zu sein. Gaias Scherz hatte seinem Schlaf nichts anhaben können.

 


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