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Mein Vater lag, wie der Magister und ich ihn gebettet hatten, reglos auf seinem Lager mit geschlossenen Augen und wächsernem Antlitz. Ich saß neben ihm und lauschete seinem Atem; aber ich lauschete auch auf jeden Tritt, der von außen nahe kam. Die Stunden rannen dahin, der Lärm in der Stadt verstummte, der graue Tag ging rasch hinunter; aber Wolf Dieter kam nicht, noch etliche Kunde von ihm. Der Magister schloß die Läden und machte Licht, dann setzte er sich still an den Tisch und las in seiner vergriffenen Bibel. Ich zuckte zusammen, wenn der Alte ein Blatt umwendete, wenn das Flämmchen der Ampel knisterte oder sonst ein leis Geräusch mein Ohr traf. Da es schon spät in der Nacht war, rührete sich der Wunde. Der Magister sprang hinzu und sagte: »Jetzt kommt das Fieber!«
Mein Vater aber schob langsam den Verband in die Höhe, der ihm die Augen halb bedecket hatte, und sahe ganz klar auf uns. Dann ward sein Antlitz sehr rot; er wollte sich aufrichten, fiel aber ohne Kraft zurück. Er stieß einen tiefen, schmerzlichen Seufzer aus und schloß aufs neue die Augen. Danach faltete er langsam die Hände, und es kam laut und brünstig von seinen Lippen: »Vater, Vater im Himmel, nimm dich des Dirnleins an, das mir vertrauet hat! Führe uns zur Freiheit, Herr; laß alle Fesseln fallen, es ist Zeit! Amen!«
Nun kam das Letzte: der wunde Mann richtete sich jäh auf. Er riß das Tuch von seiner Stirn und schleuderte es zu Boden, seine Augen blickten voll tödlicher Angst ins Leere, und er rief heiser, halblaut in wilder Hast: »Fliehet, Ursula! Ich will für 154 Euch brennen! Es soll mein Dank sein! Fort, fort, da hinaus, steigt über mich weg, laßt mir Schrauben und Holzstoß!« Dann sagte er noch mit veränderter Stimme: »Isabel!« und fiel zurück.
Und eine kleine Zeit danach war der schwarze Doktor von Würzburg den Henkershänden entgangen.
Reglos saß ich die Nacht an dem stillen Lager. In mir war eine seltsame Starrheit, also daß ich alles, auch das Geringste, um mich sahe und hörete, und doch nichts zu denken vermochte. Ich zählete die Stundenschläge, die dumpf herüberklangen; ich sah, wie an der Ampel dann und wann ein Tropfen Öls herunterglitt und in der Rinne unten zerfloß, und ich sahe, wie bisweilen eine Mücke ins Licht flog und zuckend verendete. Gegen den Morgen trat der Magister zu mir her und fuhr mir über mein Haar, und ich sann nach, warum er also tue. Danach redete er zu mir; aber ich achtete seiner Worte nicht, sondern ich verwunderte mich, daß jemand redete.
Als der Tag anbrach, kam Samuel eilends in die Stube und rief: »Sie haben ihn!« Da schrak ich zusammen, sprang jählings empor und fragte: »Wolf Dieter?« Aber der blöde Mensch antwortete: »Den toten Hund haben sie eben am Mühlrechen herausgezogen.« Ich mußte mich am Bettpfosten halten, dann sank ich langsam nieder und die Sinne schwanden mir. Gegen den Abend kam der Magister mit dem Philipp Baunach und noch etlichen Männern. Sie legten meinen Vater in eine Truhe; danach beteten sie laut. Zuerst der Lamprecht, und seine Stimme klang hell wie in Freudigkeit, alsdann auch die anderen, und ein jeglicher pries meines Vaters Ende als den Schluß aller Pein und Anfang völligen Friedens. Endlich wich die starre Rinde von meinem gequälten Herzen. Ich barg meinen Kopf in meines Vaters Liegerstatt und weinte bitterlich. Der Magister vertraute mir, daß der junge Baunach mit schwerem Geld ein Grab auf dem neuen Gottesacker gekauft habe, sonst hätte mein Vater mögen leichtlich noch im Tod Henkershänden anheimfallen. Es trugen ihn wackere protestantische Männer von dannen, wie der Morgen anbrach. Wolf Dieter aber kam nicht, und ich blieb allein, ohne Vater, ohne Liebsten, 155 und als der kurze Tag dahinschwand, auch ohne Hoffnung. Gegen den Abend setzte sich der Magister zu mir her und begann: »Das Interdikt ist über die Stadt verhängt, Renata, um der großen Greuel willen, so zu Neumünster geschehen sind; es wird keine Glocke geläutet noch gottesdienstliche Handlung verrichtet, und die Priester sind am Domplatz in Philipp Adolfs Hof versammelt.«
Ich merkete, daß mir der Alte wollte Wolf Dieters Fernbleiben zurechtlegen, doch schlich kein Licht in meine verdunkelte Seele. Dann rückte er seinen Schemel näher herzu und sagte traurig:
»Es ist ein jämmerlich, aber wahr Ding in dieser Welt, daß es in schwerem Herzeleid allezeit ein Trost ist, von noch schwererem zu vernehmen. Wenn ich Euren gebrochenen Mut will aufrichten, muß auch ich nach dem alten, erprobten Brauch verfahren.«
Er sahe mich an und mochte auf Antwort warten, doch sagte ich nichts, worauf er fortfuhr: »Denket an die sieben Kapitulare vom Neuen Münster. Ich kenne drei von ihnen, und ich weiß: sie gehen dahin an dem entsetzlichsten Fluch, der auf unseren unseligen Zeitläuften lastet, und den Euer Vater einstmals mit wenigen Worten gezeichnet hat. Er sagte, die Vernunft, die als heiligste Gottesgabe uns verliehen sei zu strengem und treulichem Gebrauch bei allem Tun, sie gelte dieser Zeit als Kupplerin des Satans, und jeder, der sie brauche, heiße ein Teufelsbraten. Ziemet Euch, Jungfer, wenn Ihr diese Worte bedenket, in stumpfer und sündhafter Trauer zu sitzen, dieweil Euer Vater eingegangen ist zu Frieden und Freiheit?«
Da schlug ich meine Hände vors Gesicht und weinte laut.
Der Magister aber begann wieder: »Zweihundertundneunzehn hat der alte Lamprecht seit zwei Jahren bis heute gezählet, die in der Bischofstadt Würzburg von frommen Jesuiten sind vernommen, von einsichtigen Richtern verurteilt und von mildherzigen Henkern verbrannt worden. Im ganzen Hochstift aber sollen es mehr denn achthundert sein. Sie alle waren von einer Mutter mit Schmerzen geboren, alle haben etwas gehabt auf dieser Welt, daran ihr Herz hing, alle haben den 156 Frühling begrüßet und der Sonne Licht; alle hatten Leiber von Fleisch und Blut, die sich schüttelten vor Grauen und Entsetzen, ehe es zum letzten kam; – – aber sie sind alle, alle still geworden und ihre Asche düngt die Wingerte des Würzburger Stadtvolks! Um diese weinet, Mägdlein! Weinet um den grausigen Jammer der Zweihundertundneunzehn; aber weinet nicht um den einen, der ohne Qual dahinging, und der in Gottes Hand, statt in Henkershände fiel. Als ich die Herren vom Neuen Münster sahe an mir vorüberführen, stattliche Männer mit blassen, stillen Gesichtern, ist es auf mich, den abgehärteten, alten Würzburger Magister, gefallen wie ein Berg von Jammer und von Wut, daß die Besten, immer die Besten sollen dahin müssen, und ich habe zu mir gesagt: ›Lamprecht, es wird Zeit für dich, putze dein Gewaffen!‹ Und ich sage Euch, Renata, es ist blank und wartet nur des Zeichens.«
Ich sahe ihn an, denn seiner Stimme Ton rüttelte mich auf, und ich fragte bang: »Herr, was wollt Ihr beginnen?«
Aber er starrete vor sich hin und sagte erst nach einer langen Zeit: »Wahrlich, nicht allein die Wunden, welche die Herren von der Gesellschaft Jesu zu Würzburg schlagen, sind von schlimmer Art, sondern auch die Waffen, die sie einem in die Hand drücken.«
Danach ging er fort aus dem Hause, und ob ich gleich die Nacht nicht schlief, hörete ich ihn doch nicht heimkommen. Es ging ein ganzer Tag hin, ohne daß ich einen Menschen sahe, außer den buckligen Knecht, der gleich mir auf seinen Herrn wartete. Die Nacht brach herein und der Morgen, und der Magister kam nicht. Am Mittag litt es mich nicht mehr im Hause, sondern ich wollte zum Dom laufen, wo Wolf Dieter sonst seines heiligen Amtes waltete, ob ich nicht einen Zipfel seines Gewandes oder eine Spur von dem Magister entdecken möchte.
Ich sahe die Frankenres unweit der Brücke stehen; aber sie wich mir hastig aus, als trüge ich die Pest an mir. Wie ich durch die Gassen ging, war es mir, als sei ich ganz fremd und allein in dieser Stadt. Ich kam gegen Neumünster zu und an die hochfürstliche Kanzlei, wo Stadtsoldaten vor der Tür stunden. Da ich vorüberging, riefen sie mir freche Worte nach. 157
Wie ich eilends dem Dom zulief, begann das Sünderglöcklein zu läuten. Neben mir rannten viele Leute, und eine große Dirne, die einen Korb trug, rief im Laufen ihrer Genossin zu: »Schnell, Regele, sie führen einen hinaus!«
Ich folgte den Dirnen, denn in meiner erbärmlichen Verlassenheit schreckten mich die Greuel nicht mehr, sondern es war mir ein schauerlich Genügen, daß allerorts Elend sei. Ich sahe zuerst nichts denn eine Menge Leute, und sie waren alle im Gewand, wie sie von der Arbeit kamen. Neben mir lief eine Magd mit einem langen Besen und ein Maurer hatte die Kelle bei sich. Ein Gerber wischte seine Hände an der Schürze ab, und zwei kleine Mägdlein liefen mit der Docke daher. Nun schritten bischöfliche Leute aus der Kanzlei, auch Herren vom Magistrat, Sechser und Viertelsmeister. Danach erkannte ich die Hütlein der Jesuiten und schwarze Barette; da drängte ich mit den andern näher.
Aber ich konnte nicht vorwärts kommen, so sehr ich mich abmühete; es war in der kurzen Zeit ein solch Gedränge geworden, daß man sich verwundern mußte, wo die Leute herkamen. Man ging durch die Rittersgasse und ich lief immer mit. Es fing auch an zu regnen, ganz warm und in großen, langsamen Tropfen, nicht wie in den letzten Tagen des Märzen, sondern wie es pflegt bei einem Gewitter. Ich zog mein Tuch weit über den Kopf und ließ mich schieben von der Menge, davon die meisten still und ernst waren, auch sahe ich viel finstere Gesichter.
In der Sandergasse stockte der Zug, und man hörte vorne Flüche und ein wüst Geschrei, danach sahe man zwei Stadtsöldner einen Mann in die Korngasse hineinschleppen, und hinter mir sagte ein Weib, das ein Kind auf dem Arm trug: »So es nicht schneller vorangehet, werden die Stöße naß, und man läuft umsonst.« Da blickte ein Mann neben mir rückwärts und sprach lachend gegen das Weib hin: »Ängstiget Euch nicht, Hauberin: der, den sie heut haben, der muß brennen, und wenn die Jesuiten ihre Hütlein müßten über den Stoß halten.«
Der Mann trat hinter mich neben das Weib, und sie redeten so leis, daß ich nichts mehr verstehen konnte. Ich 158 schwankte dahin, aber niemand achtete meiner, sondern alles schob hastiger vorwärts, dieweil man jetzt ans Tor kam. Es war unfern ein großer Anger, zur rechten Hand an der Straße. die gen Ansbach führt. Es stunden darauf viele Pfähle in die Erde gerammt in einem weiten Kreis, davon städtische und bischöfliche Söldner die Menge zurückhielten. Gegen den Main zu war ein Gerüst mit Brettersitzen. Darauf stiegen jetzt die Jesuiten und die Herren vom Magistrat, darunter Hans Bütthard und der Notar Wolfgang Schilling. Da ich nach dorthin sahe, stieß mich jemand hart von der Seite an, und es war dies der Vikar Matthias Marsovius, der aber nicht nach mir her, sondern mit bösen Augen nach dem Kreis hinstarrete. Ein Schrecken fiel über mich, als ich diesen Feind des Domherrn sahe, und ich zog mein Tuch noch fester über mein Gesicht, trotz der bleiernen Schwüle, die drückend in der Luft lag. Es trat jetzt ein Mann in den Kreis, der hatte ein kahlgeschoren Haupt und ein graugelbes, spitziges Gesicht, an dem der Regen hinunterlief. Er trug ein härenes, altes Gewand mit etlichen Löchern, die aussahen, als wären sie hineingebrannt. Ein Eisen und einen Blasebalg hielt er in der Hand und winkte zweien Burschen, die abseits stunden, deren jeder eine Kette herzuschleppte. Also gingen die dreie gegen den Holzstoß, der an einem der Pfähle errichtet war. Durch das Tor kam jetzt ein ganzer Zug Mönche, von den neuen, die Philipp Adolf in das vormalige Kloster zum Neuern eingewiesen hatte, und die man unbeschuhete Karmeliten nannte. Diese stelleten sich auf, nahe an dem Gerüst der Richter, und fingen einen Gesang an, davon ich die Weise kannte. Es erhob sich aber zumal ein heftiger Wind. Ein Mann vor mir drückte seine Mütze fester auf den Kopf und sagte laut: »Der Teufel bläst gern in die Flammen.«
Danach schoben zwei Männer einen Karren in den Kreis, darauf saß einer rückwärts, dem hatte man ein schwarzes Mäntelein umgehängt, mit roten Flammen darauf, und neben ihm schritt der Jesuit mit dem jungen Gesicht und den grauen Haaren. Da sahe ich nicht mehr auf den Malefikanten, sondern auf Friedrich Spee, der seine Hand auf den Karren stützte und mehr schwankte denn ging. Sein Gesicht war wie eines 159 Toten, starr und verzerrt, als quäle ihn namenlos Entsetzen. Und die Karmeliten begannen laut:
Richter mit der heil'gen Wage,
Tilge wider mich die Klage
An dem großen Rachetage.
Zu den Schafen mich geselle,
Fern den Böcken und der Hölle,
Mich zu deiner Rechten stelle!
Der Jesuit fuhr mit beiden Händen in die Höhe, als wolle er sich die Ohren zuhalten, dann wankte er rückwärts und lehnte am Holzstoß, indes die Henker hertraten zum Karren. Und da sie den Malefikanten heraushoben, erkannte ich Wolf Dieter.
Alsbald fing es an, mir in den Ohren zu brausen wie ein wildes Meer. Ich streckte sinnlos die Arme aus gegen den herzliebsten Mann und schrie auf wie eine Tolle. Hinstürzen wollte ich auf ihn, daß ich ihn hätte mögen decken mit meinem schwachen Leib, da gab mir jemand einen Stoß, daß ich gegen die Mauer taumelte und es klang in mein Ohr: »Bleib! Knie hin! Bete! bete, daß es gelinge!«
Und dann hörte ich einen lauten Schrei, wie von all den Menschen, und der Gesang der Karmeliten hörte auf, und ein toller Lärm begann, der plötzlich einer tiefen Stille wich. Ich kniete hin, indes die andern vordrängten, und ich schrie in meinem Herzen: »Herr Gott, hilf! hilf!« Meine Zähne schlugen aneinander in ungeheurer Angst, und war kein Gedanke in mir denn nur der: »Herr Gott, hilf!« Da schallte eine Stimme an mein Ohr, die ich kannte, und ich sprang empor, und ich sahe den Magister auf dem Scheiterhaufen stehen. Sein spärlich, lang Haar flog im Wind, sein runzelvoll, klein Gesicht zuckte und seine Augen funkelten unter den buschigen Brauen. Gegen das Gerüste hin rief er mit heller, tönender Stimme: »Höret, ihr gerechten Richter von Würzburg!«
Da rührete sich niemand unter den Hunderten und alle starreten auf das Männlein.
Er aber schrie laut: »Meister, zünd an! Ich bin der Rechte! 160 Es ist Betrug des Teufels, meines Herrn, daß er dir den andern dort wollte unter die Hände spielen!«
Die Jesuiten auf dem Gerüste stunden auf und mit ihnen Hans Bütthard; aber ehe sie redeten, deutete der Magister auf diesen und er rief: »Dieser im Talar weiß es, daß ich die Wahrheit rede, denn er war dabei letzte Nacht auf dem Kreideberg!«
Der Jurist ward weiß wie die Wand; aber das Männlein fuchtelte mit den Armen wild in der Luft und schrie: »Leugne nicht, Hans Bütthard! Du stundest neben mir, da wir den Teufel küßten, und du sprangst mit mir im Tanz. Und ich sahe auch schwarze Hütlein, ihr Herren; aber die Gesichter darunter sahe ich nicht, denn die Hüte deckten alles zu!«
Einer von den Jesuiten schrie gegen die Stadtknechte: »Fasset den Unsinnigen!« Aber das Männlein streifte in wilder Hast seinen Ärmel zurück, und er zeigte ein rotes Mal an seinem Arm und schrie: »Sehet meines Herren Zeichen und Siegel und danket mir, daß ich Euch kundtue, was ich weiß.«
Da erhob sich ein laut Geschrei: »Laßt ihn reden, laßt ihn reden!«
Der Magister umklammerte jetzt mit beiden Armen den Pfahl, daran der Holzstoß geschichtet war, und er blickte über die Menge weg gegen den grauschwarzen Himmel und begann, daß es mir durch Mark und Gebein ging: »Mehr denn achthundertmal bin ich jetzt auf dem Kreideberg gewesen und habe dem Teufel helfen ein Fest feiern für die, die zu Würzburg unschuldig und zu Unrecht verbrannt wurden. Denn solches ist meinem höllischen Herrn jedesmal eine Wonne und ein Freudentag. Zum Dank für diese Brände ist Philipp Adolf des Höllenfürsten Günstling geworden. Sein rotumsäumt Mäntelein war allezeit das vorderste im Tanz, und es flog am lustigsten beim Reigen, so daß es mich verdroß, und daß auch Hans Bütthard schwur, des Bischofs Hochmut zu dämpfen.«
Da der Magister also schrie, krachte plötzlich ein Donnerschlag vom Himmel, daß es war, als zittere das Erdreich. Für eines Augenblicks Länge lag Totenstille über dem Anger, und dann schrien Hunderte auf vor Entsetzen, und es begann eine tolle Flucht gegen die Stadt hin. Der Magister hielt 161 immer noch den Pfahl umklammert; die Jesuiten aber und das ganze Kollegium sahe ich von dem Gerüste klettern in wilder Hast. Hans Bütthard eilte an mir vorbei mit verzerrtem Gesicht, und dem Notar nahm ein Windstoß das Barett vom Kopf, ohne daß er dessen acht hatte. Wolf Dieter aber, den meine Augen suchten, kniete zwischen den Henkern am Boden, und er hielt einen bleichen Kopf mit grauen Haaren im Arm, und es war der Jesuit, der in Ohnmacht lag. Ich lief hin zu den Männern und fiel an meines Herzliebsten Hals, und ein Sturm fegte über uns dahin, wie man dergleichen zu Würzburg und in solcher Jahreszeit nie erlebt hatte. Brüllend kam er vom Main herauf. Der Holzstoß, darauf der Magister stund, fiel zusammen; Wolf Dieters Hexenmantel wirbelte der Stadt zu; das Gerüst der Jesuiten stürzte nieder, daß Luft und Erde dröhnte. Da nahm der Henker mit seinen Knechten Reißaus. Wild stürmten sie gegen die Stadt und sahe keiner zurück, so packte sie das Entsetzen. Dunkel wie am Abend ward es, man sahe Äste und Wurzeln, Bretter und Pfähle in der Luft dahinsausen; gräulich brüllte es über uns weg, und dicker Hagel fing an niederzurauschen. Ich klammerte mich an Wolf Dieter, und der Jesuit richtete sich auf, denn das Getöse hatte die Betäubung von ihm genommen. Das war aber alles in etlicher Augenblicke Länge also zugegangen, und es ist dies dasselbige Wetter, davon man noch heutzutag im Hochstift mit Schrecken redet, und das man den Hexensturm nennt. Wir sahen deutlich die Wolken, die schwarz auf der Erde schleiften, gegen die Stadt hinjagen. Dazumal sollen auch die Domglocken von selber geläutet haben; und es hieß danach, Gott selbst habe mit diesem Läuten wollen das Interdikt aufheben.
Indes ich noch halb ohne Besinnung in das Grausen starrte, tauchte der Magister hinter dem Holzstoß auf, und er hub laut die Worte an, die die Karmeliten gesungen hatten. Es klang wie ein Schrei zu uns herüber:
Hehrer König, Herr der Schrecken,
Gnade nur deckt unsre Flecken,
Gnade, Gnade, laß mich decken! 162
Da fiel Wolf Dieter ein:
Jesu, milder Heiland, siehe,
Wie ich Ziel war deiner Mühe,
Daß ich jenem Zorn entfliehe.
Nun ließ ich des Geliebten Hand los und faltete meine Hände und schrie in den Sturm hinein:
Bist so treu mich suchen gangen,
Hast am Kreuz für mich gehangen:
Nicht umsonst sei Müh und Bangen!
Und auf einmal begann auch der Jesuit:
Tief im Staub ring ich die Hände,
Zum Zerknirschten, Herr, dich wende!
Herr, gedenke mein am Ende!
So beteten wir schreckensweiß das Lied der Karmeliten mit irren Seelen und ohne Bewußtsein in das furchtbare Toben hinein, denn es war in jener Stunde kein Hort, keine Hoffnung und keine Hilfe, denn bei Gott allein.
Alsdann ward es ganz still in der Luft, nur ein feiner Regen strömte hernieder und der Main brauste stark zu Tal. Langsam trat der Magister her zu uns, und er wollte mit Spee reden. Dieser sahe ihm finster entgegen, und es war, als wolle er das Männlein von sich weisen. Seine Augen hafteten scheu an den Scheiten des Stoßes, als er fragte: »Wer seid Ihr, Magister?«
Ich sahe, daß es über des Alten Gesicht flog wie ein schmerzlich Erschrecken, dann antwortete er leise: »Es ist ungut Ding, wenn ein müder Mann am Abend meint, sein Tagwerk sollte für ihn zeugen, und statt dessen fraget man ihn: Wer bist du? Doch darf ich Euch nicht darum schelten. Wohl wollte ich allezeit als ein evangelischer Christ nach meinem einzigen Herrn blicken; aber heute merkte ich, wie ich bald rechts, bald links abirrte, wie Zorn, Rachsucht, jähe Art und ungestümes Richten mich da und dorthin trieben. Bald hat mich die böse Wirrsal dieser Zeit, bald mein eigener verbissener und 163 selbstgerechter Sinn abseits geführt, und ich kann höchstens von mir sagen: Ich war zwar oft ein Protestant, aber selten ein evangelischer Mann. Laßt's sein! Ehrwürdiger Vater! Des einen mag ich mich getrösten: Ich habe das Gute gewollt!«
Da der Magister also sprach, tauchte des toten Bischofs Julius Gestalt, wie mein Vater sie mir gezeichnet, vor meinem Geiste auf, und ein seltsam Empfinden faßte mich an, daß zwei Männer von so ehrlicher und fester Art am Schluß sollten nichts anderes haben als das Wort: »Ich habe das Gute gewollt!«
Der Magister aber fuhr fort mit bewegter Stimme: »Herr, Ihr, der Jesuit, habet soeben mit mir, dem Ketzer, zu einem Gott geschrien, wollet Ihr noch in einem andern Stück Gemeinschaft mit mir haben, soweit es dies Mägdlein und Euren meineidigen Priester angehet?« Der Jesuit sahe auf uns wie in Angst und erwiderte: »Ich muß!« Da nickte Lamprecht und sprach: »In Euch streitet jetzt der Christ mit dem Jesuiten!« Spee wehrete mit der Hand: »Saget der Mensch, nicht der Christ!« In des Magisters Augen blitzte es, da er erwiderte: »So hart habe ich Euer Kleid nicht angreifen wollen!«
Der Jesuit biß sich auf die Lippen und schwieg stille. Wolf Dieter aber nahm mich bei der Hand. Er trat vor seinen Freund und sagte: »Ist die Stunde jetzt besser, Friedrich, wenn ich bitte: Tue an mir und dem Mägdlein, was sein muß!« Der Jesuit sahe traurig auf, und er sagte leise: »Ja, Wolf Dieter, für dich und dein Verlangen ist die Stunde besser, dieweil ich heute muß, und dazumal zwang mich nichts.« Der Domherr blickte schmerzlich auf den Freund und entgegnete: »Wer zwingt dich, Friedrich? Es ist eine Bitte!«
Da deutete der Jesuit mit der Linken auf die Scheite des Holzstoßes und mit der Rechten in die Ferne, und er sagte: »Hier, diesen Stoß, den Gottes Sturm umblies, werden Menschenhände wieder schichten – – – und dort liegt der Weg nach Ansbach, der dich und das Mägdlein freimacht.«
Wir aber knieten nieder, Hand in Hand, und der blasse Priester gab uns zusammen. 164
So bin ich des Herzliebsten Weib geworden an derselbigen Stätte, wo er hatte brennen sollen, und die Geschichte meines eigenen lichten Lebens nahm ihren Anfang, als die dunkle und schwere meines Vaters, des schwarzen Doktors, zu Ende war.