Hermann Sudermann
Jons und Erdme
Hermann Sudermann

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12

Von der Katrike und der Urte hab' ich noch gar nichts erzählt.

Die sind nun schon längst zwei große Mädchen, gehen in die Schule und lernen ein vornehmes Deutsch. Und die Erdme spricht auch nur noch Deutsch mit ihnen, denn sie sollen ja in die weite Welt hinaus, dorthin, wo die Mensehen nicht einmal wissen, daß es Litauer gibt. Sie ist unerbittlich, wenn sie das »h« nicht aussprechen können, und wie sie's endlich gelernt haben, da verwechseln sie »Ecke« und »Hecke« und sagen »der Uhn at Heier gelegt«. Und manchmal weiß die Erdme es selbst nicht.

Tagtäglich hält sie ihnen vor, daß sie zu was Besserem geschaffen sind, als sich hier von dem Moorschlamm die Beine verderben zu lassen, denn das Moor beizt und macht Schrunden und Risse. Darum sollen sie in den Kartoffeln nur arbeiten, wenn die knappe Zeit es dringend verlangt. Am liebsten schickt sie sie in die Wiese. Dort dürfen sie auf den Heuhaufen liegen und den Schwalben nachgucken, soviel es ihnen gefällt. So wie die Schwalbchen werden sie auch einmal in andere Gegenden ziehen, aber heimkehren zum Nestbau, das werden sie nicht. Dafür sind sie zu schade.

Und die beiden Marjellen nutzen die Freizeit nach Kräften. Sie treiben sich weit und breit im Moore herum und entdecken allsommerlich neue Gebiete.

Der Fremde, der solch eine Öde durchwandert, wird nicht leicht glauben, wieviel es darin zu entdecken gibt. Da steht mit einem Male ein Birkengebüsch – von fern sah es nach gar nichts aus, aber steckt man die Nase hinein, dann ist es voll von heimlichen Wundern. Rauschbeeren wachsen darin, die sind giftig, aber gerade darum ißt man sie gern, denn sie schmecken noch schöner als die Blaubeeren, denen sie ähneln, und sie machen die Sinne wirr und heiß, so daß man taumelt und einschläft. Und der ledrige Porst treibt Büsche, in denen man sich verstecken kann, noch besser als in dem kitzelnden Heu.

Und manchmal findet man Blänken und Teiche – nicht die viereckigen mit dem kohlschwarzen Steilrand, die durch Torfstechen künstlich gemacht sind – o nein doch – diese hier stehen seit Erschaffung der Welt und stechen von weitem ins Auge wie verborgene Spiegel, die einer im Sonnenlicht hin und her dreht.

Aber hinzukommen ist schwer. Von Humpel zu Humpel muß man springen, sonst versinkt man womöglich im Schlamm, und wer einen dann noch herausholt, wie kann man das wissen? Aber ist man erst da, dann hat man Freude genug. Ringsherum kriecht wohl Nadelgestrüpp, wie Knäuel von Schlangen durcheinandergewunden. Darin klettert man 'rum und genießt das eigene Fürchten. Und noch was weit, weit Schöneres gibt es. Das ist der Rasen, der in das Wasser hineinwächst und auf dem man sich schaukeln kann, noch lustiger als zwischen zwei Birken. Aber fix muß man sein und das Fliegen verstehen, denn der Rasen schwimmt oben auf, und will man verweilen, dann sinkt er schwer in die Tiefe. Auch sind seine Ränder sehr böse gesinnt. Denn nie kann man wissen, wie weit er hält. Mit einem Male kann das Wasser an einem hochspritzen, und wie man dann 'rauskommt, das weiß man noch weniger.

Aber das macht nichts. Bisher hat man sich immer gerettet. Zwei so'nen Moorkröten wird das Moor doch nichts tun. Das wär' ja noch besser.

Im Winter freilich ist's schlimm – wenn man zur Schule muß und der Frost durch die Handschuhe durchbeißt, als wären sie leinene Lappen. Und in den Schlorren erfrieren die Füße. Da muß die Mutter zur Nacht Terpentin auflegen. Das brennt wie das höllische Feuer.

Und schlimmer noch ist der Schneesturm, wenn man die Hand vor den Augen nicht sieht und vom Wege abkommt, ohne daß man es merkt, und plötzlich im Schnee steckt bis über die Achseln.

Dann möchte man wohl gerne zu Hause bleiben wie die anderen, deren Eltern ein solcher Gang zu gefährlich erscheint. Aber wie nachsichtig die Mutter sonst wohl auch ist, hierin kennt sie kein Mitleid.

»Die Schule muß sein«, sagt die, »denn wenn sie nicht lernen, können Besitzerstöchter niemals ihr Glück machen.«

Daß sie Besitzerstöchter sind, hören sie morgens und abends und bei jeder Gelegenheit. Keine Prinzessin kann öfter an den Vorzug ihrer Geburt erinnert werden als sie. Auch daß sie einmal in Samt und Seide gehen werden, wissen sie längst und putzen zunächst an den Lumpen herum, die zum Schulgang immer noch taugen. Aber ihre Sonntagsröcke sind fein – bunter Kattun aus dem Hoffmannschen Laden, mit weißen Spitzen besetzt – dreißig Pfennig das Meter. Und blanke Schuhe haben sie auch und Zwickelstrümpfe, die hat die Mutter selber bestickt.

Der Vater läßt es gehen, wie es geht; nur wenn sie mithelfen sollen und die Mutter meint, sie brauchen es nicht, dann trumpft er gelegentlich auf. Und dann muß sie klein beigeben. Wer weiß, ob er ihr sonst nicht eins überrisse.

Vom Vater wissen sie wenig. Meistens hockt er des Abends stumm auf der Ofenbank, oder, wenn er sich mit an den Tisch setzt, dann nimmt er ein Blatt Papier vor und rechnet.

Viel hat er zu rechnen, und viel hat er zu tun.

Das vierte Hektar ist nun schon gepachtet und damit der Höchststand erreicht. Das Pferd ist auch angeschafft, fährt Kartoffeln zu Markte und bringt von der Wiese Grünfutter mit. Es ist eine braune, struppige Kragge mit Spatbeinen und einem hohlen Kreuz, aber es hat immerhin achtzig Taler gekostet, und die will es verdienen. Darum läuft es trotz seiner vierzehn Jahre noch immer mit Ehrgeiz, und wenn man neben dem Leiterwagen einen Spazierwagen hätte, grüngestrichen mit einem Lehnensitz, man könnte sich unter den Herrenleuten schon sehen lassen.

Aber solche Sprünge machen wir lange noch nicht. Wir sammeln Pfennig für Pfennig und tragen das Geld auf die Sparkasse. Erst muß das Pracherhaus heruntergerissen und statt seiner ein anderes aufgebaut werden, wie es die Großbesitzer haben, mit Kammer und Klete, mit Kachelofen und Dielen unter den Füßen.

Das Beste wäre, man versicherte so hoch, wie es geht, und steckte das Gekrassel dann an. Aber zwischen Versicherung und Brand müßten anstandshalber zwei Jahrchen liegen oder auch drei, sonst steigt einem womöglich der Staatsanwalt auf den Puckel. Versichern kann man ja immerhin schon des Stalls und des Viehzeugs wegen, das immer besser gedeiht und das auf dem Markt Preise kriegt, wie man sie niemals geträumt hat.

Ach, wie schön ist die Welt, wenn man darin vorwärts kommt und der liebe Gott seine Hände sichtbarlich ausstreckt, um Haus und Familie zu hüten!

Dann ist auch das Frommsein leicht, und die Kirchfahrt wird ein Vergnügen. Schon weil einen die Leute ansehen und sagen: »Das ist der Jons Baltruschat mit seiner Frau und zwei Töchtern. Der fing einmal ganz klein an und hat unlängst eine Belobigung bekommen für Mastvieh.«

Der Taruttis freilich ist böse. Er kommt nicht mehr, und keiner geht jemals zu ihm.

Bis endlich die Erdme sagt: »Ich muß ihm die Kinder bringen, damit er sieht, wer wir sind.«

Und sie putzt die Urte und die Katrike aus, steckt ihnen Kämme ins Haar und Schleifen unter den Halsrand und geht mit ihnen hinüber.

Er ist nun ein Greis und die Taruttene pappelt wer weiß was.

»Nachbar«, sagt die Erdme, »du hast uns einmal Obdach gegeben, als wir jung waren und arm. Jetzt geht es uns gut, und darum kommen die Mädchen schön Dank sagen.«

Die Urte, die auch schon zwölfe ist, küßt ihm die Hand, und die Katrike will nicht, aber sie muß.

Der fromme Taruttis scheint inzwischen ganz übersinnig geworden. Erst muß er nachdenken, wer sie wohl sind, dann sagt er: »Ja ja – ja ja. Der Mensch ist boshaft von Anbeginn und bösen Trachtens voll. Und keine Reue hilft und keine Demütigung und kein Gebet. Darum soll er sich züchtigen mit Geißeln und den Kopf im Staube bergen vor seinem Gott.«

Die Erdme sagt gekränkt: »Wenn ich gewußt hätte, daß du so nachtragend bist, Nachbar, dann wär' ich nicht zu dir gekommen.«

Er versteht sie erst nicht und besinnt sich von neuem. Dann sagt er: »Es will mir scheinen, Nachbarin, du beziehst meine Worte auf dich, während ich doch nur mich selber im Sinne habe.«

»Wieso?« fragt die Erdme verwundert.

»Es gab einmal einen Tag, an dem habt ihr mich und meine gottgefälligen Freunde mit Kränkung von dannen gehen heißen. Da habe ich Lieblosigkeit gegen euch aufgesammelt in meinem Herzen und habe euch Übles antun wollen. Ich habe zwar nie gewußt, wie, und wenn ich es gewußt hätte, hätte ich es auch nicht gekonnt, aber daß ich bösem Willen eine Herberge geben konnte in meiner Seele, das ist eine schwere Sünde. Die bitte ich Gott ab, indem ich sie dir abbitte, Nachbarin.«

Und da geschieht das Wunderbare; der arme alte Mann kniet mühsam vor ihr nieder und hebt die Arme zu ihr auf, so daß sie Arbeit genug hat, ihn wieder hochzuziehen.

Die beiden Marjellen aber lachen sich eins und machen, daß sie hinauskommen. Und wenn Jahre nachher eine der anderen einen Schabernack spielt, dann verlangt sie von ihr noch dazu, daß sie niederkniet und Abbitte leistet, sonst sei sie kein gottgefälliges Mädchen.

Und dann vertragen sie sich und lachen immer aufs neue.

Aber über Einen lachen sie nicht. Der geht als der Baubau – »der Baboszius«, wie die Litauer sagen – durch ihre ganze Kinderzeit. Vor dem zittern sie, wenn sie nur an ihn denken.

Das ist der alte Raubmörder drüben in der baufälligen Kate, der korbflechtend am Wege sitzt und sie mit rotem Gaumen angrinst, wenn sie, aus der Schule kommend, vorbeimüssen. Dann nehmen sie die Röcke zwischen die Beine, und heidi! jagen sie quer übers Moor – über Kartoffeläcker und Gräben der schützenden Heimat entgegen.

Und doch hat er ihnen nie was getan.

Der Nachbar Witkuhn hingegen ist ihnen ein gütiger Onkel, bringt Gerstenzucker und Walnüsse mit und schenkt ihnen deutsche Bücher. Darin stehen Geschichten von Königstöchtern und Prinzen und anderen vornehmen Leuten, zu denen sie hingehören. Seine siechende Frau lebt immer noch und läßt sich von der Mutter betreuen. Aber ihnen sollte es einfallen, für fremde Leute Magddienste zu tun!

Und möchte die Urte noch allenfalls, die Katrike ließ' es nicht zu, denn warum so was Unnützes überhaupt lebt, dafür gibt es keine Erklärung.

Die Frau des Smailus – die vierte – ist ihnen nicht grün und will kaum einmal, daß die Kinder mit ihnen spielen. Sie ist eine spitze Person, die ihren Mann hält, als wär' er ihr Knecht.

Aber die Wirtschaft gedeiht. Nur kommt der Smailus bisweilen und klagt: »Was können die Pferde mir helfen, die jetzt im Stalle stehen, und die gestorbenen Frauen? Denn ich bang' mich so sehr nach der Dritten.«

Und dann sagt die Mutter bloß: »Siehst du, Nachbar, da hast du's.« –

Urte hat weiße Glieder und einen anschlägigen Kopf und soll drum in der Fremde ihr Glück machen.

Die Katrike wird nächstens zum Unterricht gehn. Sie wächst und wächst dem lieben Gott ein Loch in den Himmel. Und darum wird sie »das Katzchen« genannt. Faul ist sie wie die Pest. Sie muß daher ein Rittergut haben. Und so ist alles aufs beste bestellt.

 


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