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Zwei Monate später – an einem sonndurchtränkten Mainachmittage – war's, da kam Loni die Wendeltreppe emporgelaufen und meldete eifrig, die goldblonde Wirrnis aus den Augen schüttelnd: »Gnä' Frau lassen sog'n, a fremde Dam' wär' do, und i hob's nämli irrtümli in'n Salong g'führt, und ob der gnä' Herr nit obakemma wollt.«
»Hat sie keine Karte abgegeben?«
»Jaa. Aber die liagt af'm Tischl bei der gnä' Frau.«
»Dann hol sie mal rauf.«
»Naa. Da schenier' i mi.«
»Warum denn?«
»Die zwoa Frauensleit ratsch'n mitanand' und lach'n z'amm. Grad lustig san's.«
»Sage ruhig, der Herr lasse um die Karte bitten. Das kann die fremde Dame unmöglich kränken.«
Aber Loni blieb obstinat.
»Und nacha hat gnä' Frau no g'sagt, dös würd' a Mord'süberraschung geb'n für insern Herrn.«
»So? – Also dann werde ich 'runterkommen.«
Er warf den Arbeitskittel ab und stieg die Wendeltreppe hinab.
Zwei Frauenstimmen klangen froh durcheinander, wie wenn alte Bekannte sich freundschaftlich ineinander verbeißen.
Doch als er eintrat, fand er eine fremde Gestalt – hoch, reif, in stolzem Ebenmaße sich erhebend. Aber diese blauen Feuer, unter dem Hutschirm, die sieghaft und vielleicht ein wenig spottend zu ihm herüberschauten, die kannte er, die hatten ihm im Leben doch schon einmal geleuchtet.
Um Gottes willen, das war – –
Eine Blutwelle schoß ihm heiß in die Stirn.
» Madame? Mademoiselle Astrid! [Quel] miracle! Vraiment, c'est vous!«
»Sie dürfen ruhig Deutsch sprechen, Meister,« hörte er die helltönende Stimme, die ihm manches Jahr im Ohr gelegen hatte. »Ich habe inzwischen noch fleißig hinzugelernt. Ich hoffe, Sie werden mein Deutsch nur selten zu korrigieren haben.«
Und zugleich streckte eine schmale, zartbehandschuhte Rechte sich nach ihm aus, dieselbe Rechte, die sich einst in die Mähne des Holzpferdes eingekrampft hatte.
Triumphierend lachte Brigitte ihn an: »Nun, ist das eine Überraschung oder nicht?«
Rasch sann er nach: Was hatte er ihr doch damals erzählt? Von jener Sitzung jedenfalls nichts, denn er hatte das Weibtum der neuen Freundin nicht bloßstellen wollen. Aber von ihrem gebieterischen Walten unter den sie anschmachtenden Malersleuten war ihm schriftlich und mündlich wohl manch bewunderndes Wort entfallen.
Und dann bestürmte er sie mit Fragen, ob sie noch in Paris lebe. Wo sie während der Kriegszeit gewesen sei? Warum sie ihn auf der Durchfahrt niemals aufgesucht habe?
Sie gab knappe, sichere und doch in der Hauptsache ausweichende Antworten. Paris habe sie seit den ersten Kriegsjahren nicht mehr gesehen. Und ihn habe sie nicht besuchen wollen, weil sie sich schuldig fühle, dem Verkehr mit ihm ein allzu brüskes Ende bereitet zu haben.
Aber seinen Bildern sei sie vielfach begegnet – in deutschen Galerien, ja selbst in England hätte – – Und nun stockte sie plötzlich.
Er lauschte mit Entzücken dem silbernen Klang ihrer Stimme und wunderte sich, daß sie das Deutsch nun vollkommen sprach wie eine Deutsche. Kaum, daß hie und da ein ungewohnter Akzent verriet, daß ihre Wiege in fremdem Lande gestanden hatte.
Brigitte fragte, ob sie jetzt längere Zeit in Berlin zu bleiben gedenke.
»Das wird drauf ankommen,« erwiderte sie und warf einen Blick zu Steffen hinüber, der halb eine Bitte, halb eine Herausforderung schien und den er sich nicht zu deuten vermochte.
»Aber davon zu reden, ist noch nicht die Zeit,« fuhr sie fort, und dann plötzlich in die Höhe schnellend: »Wird es mir vielleicht auch erlaubt sein, das Atelier zu besuchen?«
Während er sich bejahend verneigte, dachte er: ›Wie oft hab' ich mir dies einst gewünscht!‹ Aber er schluckte es wohlweislich hinunter.
Und dann wies er den Weg, der vom hinteren Korridor her die Wendeltreppe emporführte.
»Will die gnädige Frau nicht mitkommen?« fragte sie, zu Brigitte gewandt. Aber diese schüttelte nur lächelnd den Kopf. Sie liebte es nicht, sich als Zeugin dazwischenzudrängen, wenn Steffen, sei es als Künstler, sei es als Mensch, der Weiblichkeit seine Huldigungen darbrachte.
Im Atelier füllten die Panneaus für Neuheide den Halbkreis des Vordergrundes. Ihrer zwei: »Luna und Endymion« mit dem Gegenstück »Acis und Galatea« waren schon fertig, zwei andere standen in Untermalung da. Mit Absicht hatte er Ovids Metamorphosen geplündert, denn er wollte den Piefkeschen Geisteshelden ein paar Nüsse zu knacken geben. Aber seinem Auftraggeber kam es nur auf die »Nackigkeit« an. Je weniger seine Göttinnen anhatten, desto mehr würden sie seinen Gästen ins Blut gehen, und das versprach ihm für seine Feste manch heiteres Erlebnis.
Der Abend war im Anzug. Von der Westseite her flutete Rot durch die mächtige Fensterwand. Das tat den Bildern nicht gut. Insbesondere das Mondlicht des ersteren verlor seine sämtlichen Werte. Er griff nach dem Bambusstecken, um den dämpfenden Vorhang nach der Mitte hin weiterzuziehen, aber sie legte ihm abwehrend die Hand auf den Arm.
»Lassen Sie, Meister!« sagte sie. »Dies hier ist Handwerksarbeit und wird durch Beleuchtung nicht besser, nicht schlechter. Glücklich der Mann, der seine Wände damit behängen kann! Aber jetzt möchte ich etwas sehen, das wirklich von Ihnen ist.«
Verstimmt biß er sich auf die Lippen. In diesem Tone hatte seit langem kein Mensch mit ihm gesprochen. Kollegen ließ er nicht gerne zu sich herauf. Maxel, der ohnehin selten genug zu ihm kam, am allerwenigsten. Und Brigitte, die jeden seiner Pinselstriche geleitete, holte aus allem das Beste heraus.
»Verzeihung,« sagte er. »Ich glaube, nicht der Künstler regiert, sondern die Aufgabe, die ihm gestellt wird. Ihr muß auch sein Eigenstes sich unterordnen.«
»Bis zum Verwischen der Persönlichkeit?« fragte sie.
Er, der ohnehin wund genug war, las aus ihren Worten nur Mißachtung heraus.
»Wir deutschen Maler«, erwiderte er, »sehen uns hierzulande von soviel sittlichen Forderungen belästigt, daß schließlich nur der Nichtskönner imstande ist, ihnen gerecht zu werden. Umso mehr wundert es mich, daß gerade Sie, die Sie romanisches Kunstgefühl in sich tragen, nicht verschmähen, sich diesem Chor der Rache anzuschließen … Sagen Sie mir, bitte, nur eines: ob nach Ihrem Dafürhalten diese Fleischtöne richtig sind.«
»Sie sind herrlich. Ich wüßte drüben sehr wenige, die Ihnen das nachmachen.«
»So wäre also doch etwas Persönliches drin?«
»Ich habe Sie gekränkt, Meister.«
Er besann sich einen Augenblick, dann sagte er entschlossen: »Allerdings, mein gnädiges Fräulein.«
»Nennen Sie mich, bitte, nicht Fräulein,« erwiderte sie. »Ich war verheiratet.«
Das »war« machte ihn stutzig. »Und sind es nicht mehr?« fragte er.
»Nein,« erklärte sie in einem Tonfall, so schneidend, daß ihm die Luft nach jedem weiteren Forschen verging.
Sie blickte um sich, als suche sie nach einem Sitze.
Er wies auf das Ruhebett hin, das die Verdure des dreiteiligen Schirmes schon tief umdunkelte. Dankend setzte sie sich, und er blieb vor ihr stehen.
»Wie sehr Sie mir unrecht tun,« begann sie, »soll Ihnen folgendes beweisen. Sie haben damals kaum etwas von meinen Arbeiten gesehen, so sehr waren Sie mit meiner armen Person beschäftigt … Es hat mir das wohl geschmeichelt, aber gedemütigt hat es mich auch. Denn glauben Sie mir, ich meine es ernst … Und in der ganzen Zeit, in der wir uns nicht begegnet sind, bin ich den einen Wunsch nicht losgeworden, einmal Ihre Schülerin zu werden … Nicht zum mindesten darum habe ich mich in Ihrer Sprache vervollkommnet, und mit dieser Absicht bin ich auch heute zu Ihnen gekommen … Aber ein Entschluß wurde erst draus, als ich jetzt eben diese Bilder sah.«
»Und kleideten ihn in einen Tadel für ihren Schöpfer? Wie reimt sich das?«
Sie zuckte die Achseln. »Wenn Sie mich näher kennten, würden Sie sich hierüber nicht wundern. Man hat mir schon manchmal gesagt, daß ich ganz unerträglich sei … Ich warne – Sie also – vor mir.«
Er dachte: ›Sie hat viel Böses erlebt,‹ und laut erwiderte er: »Daß diese Warnung nichts nützen würde, haben Sie wohl im voraus gewußt. Doch um Ihnen gleich die Antwort zu geben: Eigentliche Schüler habe ich, seitdem ich in meiner grünen Jugend Akademielehrer zu werden versuchte, nie mehr gehabt. Ich wüßte auch nicht, wie ich arbeiten könnte, wenn irgend jemand mir über die Schulter guckt. Geschweige denn einer, wie Sie sind. Aber wenn Sie sich ein Atelier nehmen wollen und ich bisweilen zu Ihnen kommen darf – –«
Ein schmerzlich-höhnisches Lächeln zog ihren rechten Mundwinkel in die Höhe.
Er verstand es sogleich. »Das Wort ›darf‹ ist falsch gewählt,« sagte er, »denn es gibt der Vermutung Raum, daß ich mehr – oder vielleicht gar weniger – als ein Lehrer sein will. Ersetzen Sie es durch ein anderes – weniger höfliches – ganz nach Ihrem Belieben.«
»Sie wägen die Mienen, wie Sie die Worte wägen. Ich fürchte, es wird viel Mißverständnisse geben zwischen uns.«
»Gegen Mißverständnisse ist nur ein Kraut gewachsen,« entgegnete er.
»Vertrauen.«
Ihr Blick verlor sich im Leeren. »Vertrauen, Vertrauen,« murmelte sie, während jener Bitterkeitszug ihre Lippen von neuem umspielte. »Gibt es das überhaupt?«
»Was zwei Menschen wollen, daß es zwischen ihnen gebe, das gibt es,« erwiderte er. »Aber um Ihnen weitere Bilder zu zeigen, dazu wird es zu dunkel, und meine Frau wartet wohl auch mit dem Tee.«
»Was haben Sie für eine wundervolle Frau!« rief sie, sich erhebend. »Warum haben Sie mir damals nichts von ihr erzählt?«
»Was wissen Sie denn von meiner Frau?« fragte er.
»Was braucht es da viel zu wissen?« erwiderte sie. »Wir sahen uns an, und schon hatt' ich sie lieb.«
»Und worüber lachtet ihr so viel?«
Sie zuckte die Achseln. »Es war nichts Besonderes. Es kam wohl auch daher, daß ich sie liebhatte.«
Während er sie hinunterführte, dachte er: ›Gott sei Dank, daß ich damals verschwiegen habe, wie ich sie auf dem Pferde sah. Sie wäre sonst wohl steifer empfangen worden.‹
Denn bei all ihrer Weitherzigkeit – in Fragen weiblicher Scham ließ Brigitte nicht mit sich handeln. Und für alle Berufsmodelle hatte sie nie etwas mehr als ein scheues Mitleid gehabt. – –
Der Samowar rauchte, und auf dem Eßtisch stand das Abendessen bereit. Ein einfacher kalter Aufschnitt und gekochte Eier dazu. Üppigeres gab es bei Tromholts schon lange nicht mehr.
»Für die Teestunde ist es zu spät geworden,« sagte Brigitte. »Sie müssen sich schon herbeilassen, als lieber Abendgast bei uns zu bleiben.«
»Ach, wie gern!« erwiderte sie einfach und nestelte sofort den Hut aus den Haaren.
»Sehe ich anständig aus?« fragte sie, zu Brigitte gewandt.
»Für unsere Wuschligkeit sehr,« erwiderte die. »Ob für Ihren strengeren Stil auch, ist die Frage.«
Und statt sie zu einem Spiegel zu führen, strich sie glättend mit ihren Händen über die anliegenden dunklen Flechten, von denen sich einzelne Strähnchen gelöst hatten.
Daß sie jemandem nahekam, ob Mann, ob Weib, das geschah sehr selten, und Steffen ersah aus dem kleinen Vorgang mit Freuden, wie sehr auch sie der Fremden zugetan war.
»Was hat Ihnen oben am besten gefallen?« fragte sie mit der stolzen Zuversicht einer, die das kommende Lob schon vorwegnimmt.
»Außer den großen Dekorationsstücken,« erwiderte die Fremde, »denen ich alle Ehre erwiesen habe, hat der Meister mir nichts mehr zeigen wollen.«
»Lassen Sie, bitte, das Wort ›Meister‹,« warf Steffen ein, »es ist bei uns nicht üblich und erscheint nur parodistisch hie und da auf der Bildfläche, mit einem Hohn gemischt, der die latente Stimmung jedem Können gegenüber ausdrücken will.«
»Welch eine abscheuliche Welt muß das sein, in der Sie leben!« rief sie.
»Oh, angenehm ist sie nicht,« erwiderte er. »Mörderisch für jeden Schwachen und stählend nur für den, der sie verachten lernt … Alles, was sich als unzulänglich erwies und irgendwie am Wege liegen blieb, was die Phantasie mit dem Verstande und das Schöpferische mit dem Witz zu meistern versucht, alle die Mitläufer, die Auchbegabten, die Dilettanten und die Geistreichen haben sich zu einer Phalanx zusammengetan, um den, der etwas ist und kann, zu Tode zu spießen … Nur einige wenige Lieblinge lassen sie übrig, und die sind meistens mit einer mächtigen Clique versippt und verschwägert.«
»Müßte man wörtlich nehmen, was Sie da sagen,« lachte die Dänin, »so gäbe es nur einen richtigen Weg: zum nächsten Reisebüro.«
» Sie werden nichts davon merken,« erwiderte er. »Im Gegenteil, Sie werden auf Wolken dahergehen. Begeisterung umgibt jeden, der etwas zu werden verspricht oder, um mich in der Sprache jener Kunstverständigen auszudrücken, dessen Papiere im Steigen begriffen sind … Erst wenn er etwas geworden ist – und es kann weit mehr sein, als sie je von ihm erwartet hatten –, dann fühlen sie sich durch ihn enttäuscht und beleidigt.«
»Wenn man ihn reden hört,« mischte sich Brigitte ins Gespräch, was sie nicht häufig tat, wenn er das Wort führte, »dann muß man glauben, er sei verbittert wer weiß wie sehr. Und wenn er's selbst wäre, dann hätte gerade er nicht den mindesten Grund dazu, denn er besitzt sämtliche Würden, die seinem Künstlertum zufallen, und in dieser kunstfeindlichen Zeit geht es ihm besser als allen.«
»Sehen Sie, so ist sie,« sagte er, indem er nach Brigittens Hand hintastete. »Wir nennen so was eine weiße Salbe. Jede Wunde bestreicht sie, jeden Riß deckt sie zu, jeden Konflikt leugnet sie, als wenn sie dadurch aus der Welt geschafft werden könnten.«
»Mir scheint, sie werden es auch,« sagte Astrid. »Für diese Mission sind die Frauen ja da … Das heißt, nicht ich, denn ich habe ja keinem zu helfen … Wunden und Risse und Konflikte, und was man im Künstlerleben so nennt, sind zumeist Produkte der Einbildung, selbst wenn etwas Wahres dran ist – aber für den, der das richtige Künstlerdasein, das Traumdasein führt, existieren sie nicht.«
Steffen und Brigitte sahen einander an. Sie fühlten beide: das war klug, das war fein und trug einen erquickenden Luftzug in die Dumpfheit der geistigen Zelle, in der sie mitsammen hausten.
»Sie müssen oft kommen,« sagte Brigitte, indem sie den Blick dankbar zu ihr hinüberwandte. »Das heißt, falls Sie mögen,« fügte sie beinahe erschrocken hinzu.
»Wenn Ihr Gemahl Ihnen erzählt, was wir oben besprochen haben,« erwiderte sie, »und wie er mir helfen will, dann werden Sie sehen, daß Sie mich wohl ab und zu bei sich werden dulden müssen. Es sei denn, daß – –«
Sie stockte lächelnd. Wahrscheinlich fand sie die passende Wendung nicht für die heikle Gedankenfolge, die ihr durchs Hirn ging.
»Es ist schade, daß ich jetzt gerade bald fort muß,« sagte Brigitte, »denn die Ärzte fordern, ich solle im Frühling immer für mein Herz etwas tun. Aber vorher hoffe ich Sie noch mit einigen Freunden oder Freundinnen unseres Hauses bekannt machen zu können.«
Astrid verneigte sich dankend. »Und später, wenn der volle Sommer da ist,« sagte sie, »müssen Sie mich in Kopenhagen besuchen. Ich habe ein Landhaus am Strande und ein Auto, das Sie in zwanzig Minuten zur Stadt führt.«
Steffen und Brigitte lachten beide hell auf. Und als die Dänin sie darob mit befremdeten Blicken maß, sagte Steffen, noch immer lachend: »Verzeihen Sie unsere Ungebühr! Sie sind unversehens in die Geheimschränke eines Ehelebens hineingeraten.«
Und dann erzählte er ihr, welche Rolle der Wunsch, nach Kopenhagen zu fahren, in ihrem gemeinsamen Dasein spielte und welch ein Symbol dafür im Schwange war.
»Umso eher darf ich auf die Erfüllung meiner Bitte rechnen,« sagte Astrid und lachte herzlich mit ihnen. – –
Als Steffen sie gegen elf Uhr zur nächsten Haltestelle gebracht hatte, rief er jauchzend wie ein Junge in die Mainacht hinaus: »Neues Leben! Neues Leben!« Und unablässig wiederholte er: »Neues Leben!«
Auch Brigitte fand er, wenn auch nicht froh, so doch seltsam gesteigert.
»Du wirst dich ja in sie verlieben,« sagte sie lächelnd, »aber das schadet nichts. Und sie verdient es auch.«
Er wehrte sich nach Kräften. »Das würde ein schweres Malheur für mich sein. Ich bin nun bald ein Mummelgreis, bin über Mitte Fünfzig hinaus, und sie strahlt in der Vollblüte der Jugend. Außerdem hab' ich dir wohl erzählt, wie unnahbar sie war.«
Aber Brigitte schüttelte nur den Kopf und schaute mit glänzenden Augen ins Leere.
Und als er sie von neuem beruhigen wollte: »Laß, laß! Du hast lange genug Not gelitten. Wenn du mich nur nicht schlecht behandelst, soll es dir gerne gegönnt sein.«
»Wann habe ich dich denn schlecht behandelt?« fragte er.
»Du bist ja jetzt Gott sei Dank immer gut zu mir. Ich wüßte auch nicht, wie ich das Leben sonst ertragen könnte. Aber wenn ein schönes junges Weib in deine Nähe kommt, dann hast du oft einen Seitenblick nach mir hin – einen vergleichenden –, der geht mir dann immer durch Mark und Bein.«
»Hab' ich den auch heute gehabt?«
»Nein, heute nicht. Heute warst du reineweg glücklich. Und ich war es für dich und mit dir.«
Und wieder einmal dachte er: ›Ob sie in Wahrheit so fühlt? Ist so viel Selbstentäußerung möglich?‹
Aber er hatte ja schon der Wunder viele an ihr erlebt …
Am nächsten Tage kam sie mit einem Blatt Papier zu ihm herauf. »Hier ist die Liste für einen größeren Tee,« sagte sie. »Wir haben schon lange keine Menschen bei uns gehabt, und jetzt im Mai sind sie noch alle erreichbar.«
Damit gab sie ihm den Zettel, der die Namen der Einzuladenden trug.
Obenauf stand geschrieben: Fru Astrid Helsted.
So hatte sie ja auch als Mädchen geheißen.
»Woher hast du den Namen?« fragte er.
»Ich habe ihn wörtlich von ihrer Karte abgeschrieben,« erwiderte sie.
Allerhand Tragik schien sich in dieser Namensgleichheit zu bergen. ›Aber vielleicht hat sie einen Verwandten geheiratet,‹ beruhigte er sich.
Und dann erwachte der Wunsch in ihm, sein Haus wieder einmal in altem Glanze zu zeigen.
»Wie wär's statt dessen mit einer festen Abendtafel?« fragte er.
»Du weißt am besten, daß das nicht geht,« erwiderte sie mit dem hilflos heiteren Lächeln, mit dem sie den Fährlichkeiten des Lebens standhielt. »Da müßten wir lange krummliegen, ehe wir die Kosten wieder eingebracht hätten. Aber so große Sprünge macht ja jetzt keiner, denn arm sind wir alle.«
Er dachte an die schwarze Wachstuchtasche, die sie immer noch schleppte. Und so blieb es dabei. –
Als die festliche Stunde herankam, strahlten die Räume in rötlichem Mailicht. Die Darbezeit war spurlos an ihnen vorübergegangen. Kein kostbarer Teppich fehlte, keiner der alten Niederländer hatte den Weg ins zahlkräftige Ausland angetreten.
Und überall wiegten sich langstenglige Blumen, fast so wie damals, als Neuheide noch alltäglich seine Körbe hergesandt hatte. Brigitte war schon ganz in der Frühe mit Loni zur Markthalle gefahren und hatte dort billig eingekauft, was in den Läden ein kleines Vermögen gekostet hätte.
Das altenglische Teezeug, das einst in Dresden erstanden war, sandte seinen blaßbläulichen Schimmer über den goldgelben Damast der Tische. Nur das Silber war knapp. Die Neuheider Schätze hatten mit verkauft werden müssen, und sie zu ersetzen, gab es keine Möglichkeit mehr. –
Und dann kamen die Gäste. Viel Künstlervolk aus sämtlichen Fakultäten. Und weit mehr Frauen als Männer. Denn Männer waren ein rarer Artikel im Tromholtschen Hause. Er machte sich außeramtlich mit den befreundeten Kollegen nicht viel zu schaffen, und was als Nachwuchs emporschoß, hielt sich ihm fern.
Als Astrid in der Türe erschien, gab es ein allgemeines Aufschauen und Wispern, und die Lorgnetten klirrten.
Sie trug einen Tailor von rostrotem Tuche, der seinen Pariser Ursprung nicht verleugnete, mit einem goldbrokatenen Futter, das geheimnisvoll schillerte, wenn irgend eine Bewegung den Mantelrand lüftete. Ein gleicher Schalkragen war über die Schulter geschlagen und das Pallas-Athenen-Kaskett, das gerade in Mode gekommen war, gab dem bräunlichen Griechenprofil eine noch strengere Linie.
Brigitte ging ihr freudig entgegen und führte sie vorstellend von Tisch zu Tisch. Aber ihr Name sagte nicht viel, und wie auf Kommando wandten die Gesichter sich Steffen entgegen, als ob bei ihm des Rätsels Lösung zu suchen sei.
Er tat so unschuldig, wie er nur konnte, begrüßte die Fremde höchst förmlich und hatte nichts einzuwenden, als Brigitte sie an ihm vorüber und nach dem eigenen Tische hinzog, an dem zufällig einige Dichterinnen sich zusammengefunden hatten, Freundinnen des Hauses seit langem und Freundinnen Brigittens erst recht.
Astrid, gewandt in jeder Gesellschaftsform, hatte sich binnen weniger Augenblicke dort heimisch gemacht, und das Gespräch glitt zwanglos zu der Wichtigkeit literarischer Tagesfragen zurück.
Jede der Damen kramte ihre Erlebnisse aus, schalt auf die Herren Redakteure, lobte den Stil der andern, um ein Lob für sich selber zu ernten, und die Komplimente kletterten aneinander empor zu den Höhen, auf denen der Lorbeer wächst.
Brigitte saß zumeist schweigend in der weitausgebuchteten Runde, den Teewagen hinter sich, an dem Loni jungfräulich-lieblich mitsamt einer Teetochter waltete.
Von Zeit zu Zeit schaute sie hinter sich, um die Aufsicht über das leibliche Labsal der Gäste nicht zu verlieren, und gab auch geflüsterte Orders, aber es ging alles so glatt, daß sie den Gesprächen wohl zu folgen vermochte. Und mit aufrichtigem Eifer warf sie hie und da ein Kopfnicken, ein Wort des Zuspruchs und der Bestätigung in das große Hymnensingen hinein.
Da plötzlich fing Astrid zu reden an und wandte sich ausschließlich an sie.
»Sagen Sie mir, bitte, gnädige Frau, ich bin ja hier landfremd, und Sie werden mich meiner Unwissenheit wegen nicht auslachen … Ich habe mich für den Namen Tromholt schon immer interessiert, und da ist mir ein Buch in die Hände gefallen … Haben Sie eine berühmte Verwandte oder vielleicht Namensschwester, die jene bezaubernden Novellen geschrieben hat, die sicherlich in Deutschland ein jeder kennt? Sie, meine Damen, die Sie ja vom Fache sind – man sagt so, nicht wahr? – Sie natürlich zuerst. Wer mag das wohl sein?«
»Ich wüßte nicht, was – Sie meinen,« antwortete Brigitte stotternd und flammte rot auf.
»Den Gesamttitel habe ich im Augenblick vergessen, aber eine davon hieß: ›Die Rückkehr des Don Enriquez‹ … Ach, Sie kennen's gewiß!«
Die Gesichter der Damen erstarrten in Bestürztsein und Mißbilligung, als hätte ihnen jemand eine unerwartete Rüge erteilt, Brigitte aber, den Blick im Schoße, sagte ganz leise, als ob sie sich eines Frevels bezichtigte: »Das Buch, das Sie meinen, das ist wohl von – mir.«
Da wuchs die Fremde empor – nun sah sie vollends einer Pallas Athene gleich –, faßte nach Brigittens Hand und sich tief vor ihr verneigend, drückte sie einen ehrfürchtigen Kuß darauf.
Als hätten sie auf dies Signal nur gewartet, fingen die Damen nun von ihrem Talente zu schwärmen an. Was sie alles geleistet haben würde, wie die Welt sich verwundert haben würde und wie schade, daß nie mehr etwas von ihr erschienen sei.
Aber von dem Buche selbst sprach keine. Das hatten sie längst als unbeachtlich vergessen, und es wäre auch zu viel des Lobes gewesen, denn infolge ihres langen Schweigens gehörte sie nicht mehr zur Zunft.
Als man sich verabschiedete, trat Maxels kleine Canaille – er selbst hatte sich entschuldigen lassen – süßlächelnd an sie heran und sagte mit einem zwinkernden Seitenblick nach der Dänin hin: »Was für einen Flirt hat Steffen sich da wieder angeschafft?«
Brigitte, die sich sonst, wenn man ihr eins versetzt hatte, meist nur im stillen zu kränken verstand, zeigte ihr diesmal die Zähne.
»Auch von deinen Flirts, liebe Nelly,« sagte sie freundlich, »spricht man ja jetzt allerhand. Das ist natürlich genau so ein Unsinn. Denn aus dem Schneider sind wir ja mittlerweile sämtlich heraus.«
Die kleine Canaille erbleichte unter all ihrer Verfärbtheit und sagte leise: »Ich habe dich schon lange mal aufsuchen wollen.«
»In deinen Angelegenheiten werde ich immer für dich zu haben sein,« erwiderte Brigitte, indem sie sich ihren Kuß achtlos gefallen ließ.
Und schon tat sie ihr leid. – –
Als Steffen spätabends in sein Schlafzimmer trat, hörte er durch die halbgeöffnete Tür Brigitte bald trällern, bald weinen.
»Es klingen und singen die Wellen.« Das war ihr Lieblingslied. Und dazwischen schluchzte sie heftig.
Erstaunt trat er näher. In dem langen Nachthemde, das ihre Gestalt schmäler und höher erscheinen ließ, ging sie auf nackten Sohlen im Zimmer umher, hielt die Hände dicht unter der Brust gefaltet und starrte ekstatisch ins Leere.
»Was hast du nur?« fragte er voll Besorgnis.
»Ach Gott,« sagte sie stehenbleibend, »is ja alles Blech! Ich malte mir nur so aus, was alles aus mir hätte werden können. Verzeih mir die Dummheit!«
Er spürte einen kleinen Herzstich, wie immer, wenn sie von ihren zugrunde gegangenen Arbeiten sprach.
»Wie kommst du mit einmal heute darauf?« fragte er.
»Ach, deine Freundin hat mir so gut getan!«
Und mit seligem Aufweinen barg sie das Gesicht in seinen sie mitleidig streichelnden Händen.