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Sechstes Kapitel

So war nun das Intermezzo zum Abschluß gekommen. Steffen Tromholt saß wieder in seiner vierten Etage auf dem Lützowplatz, von der aus es durch die Glaswand des Ateliers geradeswegs in den Himmel ging, und Brigitte hatte in Dresden Wurzel geschlagen.

Dresden ist eine schöne Stadt. Die schönste in Deutschland, sagen die Fremden, und die behaglichste auch. Ihre Bewohner, heißt es, seien von einer biederen Drolligkeit, die selbst dem angeborenen Geschäftssinn den Charakter freundwilligen Wohltuns verleiht. Die dahinter gelagerte Landschaft liefert die herrliche Schrecknis der Dolomiten in harmlosem Westentaschenformat. Bergschroffen werden zum Sprungbrett für Flöhe, und auf den Grund der senkrecht umrandeten Klüfte kann man hörbar hinabspucken. Friedlich wandelt die Elbe mitten hindurch und fühlt sich beglückt, diesem Idyll zum Spiegel zu dienen.

In einer der Villenvorstädte, wo beruhigte Rentner im Verzehren mäßiger Zinsen das Ideal des Menschendaseins erfüllt sehen, lag eine tüchtige Milchwirtschaft, aus vier Kühen bestehend, deren Ertrag ausreichte, um ihren Besitzer an Sorglosigkeit denen gleichzustellen, die ringsum die Früchte einer abgeschlossenen Lebensarbeit genossen.

Das Erdgeschoß der vorgelagerten Villa bewohnte er selbst, den ersten Stock hatte er dem jungen Paar überlassen, das eines Septembermorgens, leuchtend in weithin erkennbarem Eheglück, vor ihm und seiner rotpickligen Gattin erschien.

Kastanien gilbten ringsum. Trat man auf den Balkon hinaus, so saß man in einem goldgesponnenen Neste. Stare sangen ihr zirpendes Herbstlied, und vom Hofe her muhten zufrieden die Ernährerinnen des Hauses.

Steffen und Brigitte sahen sich an. Hier war gut sein. Drum kein Besinnen.

Daß der Vertrag auf den Namen der Dame geschlossen wurde, erregte kaum ein Bedenken. Das geschah öfters. Daß aber später die Dame allein einzog mit einem Häuflein Kinder hinter sich und kein Hausherr sich sehen ließ, war schon weniger erfreulich.

Aber schließlich, Künstlervolk! Unsolide seit Erschaffung der Welt. Zudem das erste Quartal auf den Tisch gezahlt. Wozu sich unnütz ereifern?

Und was an um sich schnüffelnder Liebe in den Herzen der braven Leute bereitlag, ergoß sich in Strömen über die tapfere, klaräugige Frau, deren Antlitz in unwahrscheinlichem Weiß und Rosa erstrahlte und die doch keinen Schminktopf besaß.

Sie halfen abladen, sie halfen aufstellen, sie schlugen Nägel ein und hängten Bilder auf, sie machten ihre frischgeklebten Tapeten zunichte, nur, um der neuen Hausgenossin gefällig zu sein.

Der Herr Gemahl werde sich sicherlich einverstanden erklären. Und wann der Herr Gemahl wohl einzutreffen gedächte?

Das Rosa verschwand von den schmäler gewordenen Backen.

»Mein Mann muß seines Berufes wegen in Berlin leben und hat auch nur wenig Zeit, uns zu besuchen. Wenn ich ihn sehen will, werde ich wohl zu ihm hinfahren müssen.«

Bedenkliche Gesichter. Hier war allerhand nicht in Ordnung. Die arme kleine Frau – klein war sie übrigens durchaus nicht – mußte demgemäß mit zwiefacher Sorge betreut werden. Und daß den Kinderchen auf dem Hofe eine neue Heimat bereitet wurde, verstand sich von selbst.

Dort gab's neben den vier Kühen auch drei Schweine, um die herum es zwar übel, aber gemütlich roch. Und selbst ein Eselchen kam zum Vorschein, das die Wollstirne zum Krauen herabneigte und auf Begehr den Vorderfuß hinhielt wie ein artiger Schoßhund.

Und immer waren Leute zur Hand, die auf die spielenden dreie achtgaben, so daß Mi in der Küche tätig sein konnte, während die Säuglingsschwester für die Jüngste, die kleine Prinzessin, zu sorgen hatte.

Die dröselte in ihrem Bettchen mit ernsthaft gefältelter Stirn dem menschlichen Leben entgegen. Schreien tat sie nie. Und lächeln nur selten. Es schien, als mißbilligte sie ihr Dasein und die Umstände, unter denen es wachgerufen worden war. Sie wehrte sich nicht gerade, aber sie fand wenig Gefallen an dieser Affäre.

Brigitte erstickte die Sehnsucht in unablässiger Arbeit. Sie wirtschaftete von frühmorgens bis in die Nacht hinein. Alles mußte blitzblank und hohen Besuches gewärtig sein, und hinter jeder Hantierung steckte der eine Gedanke: ›Wie wird er's finden? Ist es seiner auch würdig? Und wenn's ihm gefällt, wird er vielleicht gar zu Gast bleiben wollen?‹

Denn kommen mußte er doch einmal. Mußte sein Kind sehen wollen. Und sie waren ja auch in voller Liebe auseinandergegangen.

Brigitte schrieb ihm fast täglich. Aber sie schickte die Briefe nicht ab, denn er sollte sie nicht für zudringlich halten. Erst wenn sein Brief eintraf – und das geschah ein- bis zweimal in der Woche –, wagte sie, ihm eine Antwort zu senden.

So vergingen die Tage in Spannung und fast ohne Kummer.

Erst wenn am Abend das kleine Volk zu Bett gebracht worden war, wenn auch in der Küche das Schwatzen verstummte und das Surren der Lampe Musik zu machen begann, dann fiel die Einsamkeit mit Raubvogelfängen über sie her, dann steigerte sich das Heimweh nach ihm zu unerträglicher Qual.

Ein neues Leben beginnen? Jawohl. Doch gab es ein Leben noch ohne ihn? War nicht alles zu Tand und Plunder geworden, was die Zukunft zu bieten vermochte, wenn er sie nicht teilte?

Aber vielleicht gab's eine Möglichkeit, sich ihm so wertvoll zu machen, daß er immer wieder zu ihr zurückkehren mußte, selbst wenn die Scheidung längst schon beendet war.

Denn die Scheidung war unausweichlich. So unausweichlich wie das Messer dem Lamme, das auf der Schlachtbank liegt.

Zwar hatte er in seinen Briefen vermieden, davon zu sprechen, aber das geschah sicherlich nur aus Schonung für sie. Sein Wille stand fest. Und sie gab sich darein, ohne mit der Wimper zu zucken. Wär's anders gewesen, so hätte sie sich als wortbrüchig entpuppt. Und solche Schmach warf sie weit von sich fort.

Nun aber galt es Wege zu finden, die aus der Kleinbürgerlichkeit heraus und hoch empor an seine Seite führten. Ihre Verse versprachen Erfolg. Zur Dichterin fühlte sie sich geboren. Aber Lyrik, Lyrik zumal von Frauen geschrieben, zerrann, als wäre sie nie gewesen.

Kraftvolleres mußte es sein – etwas, das sich mit Hammerschlägen dem Zeitgewissen einprägte.

Wozu hatte das Schicksal sie mit inneren Bildern gesegnet, in so üppiger Fülle, daß sie fast darunter erstickte? Mußte nicht jeder Mensch, der sie traf, sein Schicksal hergeben – oder das, was sein Schicksal sein konnte –, sobald sie ihm nur in die Augen sah? Wurde nicht aus jedem Begebnis eine Geschichte, aus jedem Lärm eine Symphonie? Man hatte nur nötig, den Klängen zu lauschen, die der große Weltorgelspieler aus Herzenstiefen emporhob.

Schaffen! Dichten! Großwerden! So groß wie er! So daß er schließlich nicht anders konnte, als sie für immer an seine Seite zu rufen.

Und so wurde allabendlich aus der Not ein Reichtum, aus der Sehnsucht ein Rausch.

Mit glühenden Backen und fiebernden Schläfen wanderte sie im Zimmer umher, stunden- und stundenlang. Bald kam ihr ein Vers, den sie niederschrieb, ein Romanstoff, den sie mit flüchtigen Zeilen der Zukunft anheimgab. Und dann begann die Wanderung von neuem.

Gegen elf pflegte sie hungrig zu werden und aß das Abendbrot, das Mi auf einem Nebentisch bereitgestellt hatte. Butterbrot mit Rührei und ein Glas Tee dazu – nichts sonst – einen Tag wie den andern. Denn man mußte ja sparen. Die Pflegerin kostete Geld genug, und lästig durfte sie Steffen nicht fallen.

Um eins oder zwei ging sie endlich zur Ruhe, und wenn sie morgens mit zerschlagenen Gliedern erwachte, dann harrte sie bereits des nahenden Abends.

Und harrte mit noch viel heißerem Verlangen des Augenblicks, da er endlich, endlich vor ihr stehen würde.

Vier, fünf, sechs Wochen vergingen. Seine Briefe berichteten von Sorgen und Verdrießlichkeiten aller Art, von seinem Kommen sprach keiner.

Aber kommen mußte er doch einmal! Das Gegenteil wäre unmenschlich gewesen. Sehr stolz war sie darauf, ihm von dem allem, was in ihr vorging, noch niemals etwas geschrieben zu haben. Und sie lockte auch nicht. Wenigstens glaubte sie dran. Aber Lockung barg schließlich jegliche Zeile. Er hätte von Stein sein müssen, wenn er sie nicht darin fühlte.

Und eines Sonnabendabends legte Mi ein Telegramm vor sie hin. Sie wußte sofort: ›Er meldet sich an.‹

Da begann ein großes Kochen und Braten, und Blumen wurden geholt und die Möbel noch einmal verschoben.

In dieser Nacht schloß sie kein Auge. Zu wild schlug das widerspenstige Herz.

Um elf sollte er ankommen. Lange vorher stand sie schon auf dem Bahnsteig und starrte die Uhr an und starrte die Schienen entlang, die sich fernab zwischen Mauern verloren.

Es war wie damals, als er von Paris heimkehrte, und war doch ganz anders. Denn damals gehörte er ihr noch, heute war sie längst schon eine Verlassene.

Aber als er dem Zuge entstieg, da hatte sich gar nichts geändert. Er küßte sie, er streichelte sie, und als sie in der Droschke nebeneinandersaßen, da umklammerten sich die Hände wie je.

Viel reden tat er nicht. Auch hatte er etwas Verdrossenes – fast hätte man sagen können: Vergrämtes – in seinem Wesen. Aber ihr galt es nicht. Gewiß nicht. Denn wenn er sie ansah, erhielten die Augen, die oft so hart und herrisch blicken konnten, einen milden, einen fast zärtlichen Glanz.

Und jedes der Kinder warf er zum Willkomm hoch in die Lüfte, so daß es des Jubelns kein Ende gab. Nur mit dem Jüngsten, dem Eigenen, machte er sich nicht viel zu schaffen.

»Von kleinen Kindern verstehe ich nichts,« sagte er, »erst muß so was Mensch werden, ehe ich Freude dran hab'.«

Aber liebkosen tat er es doch und fand, daß es tüchtig gewachsen sei.

Selbst für die Zimmereinrichtung, deren größerer Teil ja ihrem Witwenhausrat entstammte, fand er lobende Worte. Nur, daß eine Art von ulkigem Mitleid dauernd seine Lippen umspielte.

Er wurde überhaupt immer heiterer, wiewohl der Novembertag trüber und trüber auf die verweinte Erde herabsah.

Und als sie nach dem Essen mitsammen Mittagsruh' hielten, da streckte er sich mit einem Seufzer der Erleichterung neben sie hin und murmelte: »Ach, das tut gut! Das tut gut!«

Jetzt endlich wagte sie auch die Frage, zu der ihr bisher der Mut gefehlt hatte: Warum er nicht früher gekommen sei.

Er zog die Stirnfalten finster zusammen und erwiderte: »Wenn wir uns wieder aneinander gewöhnen, Kind, dann wird uns die künftige Trennung immer noch schwerer.«

Sie sagte nichts mehr und kuschelte sich nur umso fester in seinen Arm, denn heute hatte sie ihn ja noch.

Von Berlin erzählte er nichts. Und sie hütete sich zu fragen. Sie wollte jeden Anschein vermeiden, als ob ihr daran gelegen sei, sich in sein dortiges Leben zu drängen. Aber aus seinen Andeutungen war zu entnehmen, daß er wenig Freude dran hatte.

Als sie sich an den Teetisch setzten, war es schon dunkel geworden. Mi hatte Sahnenwaffeln gebacken, und das ganze Haus duftete lieblich.

Die Gaskronen, die aus Sparsamkeit sonst niemals angesteckt wurden, flammten hell auf. Licht und Wärme füllten die Räume.

Da kam die alte Heiterkeit auch in Brigittens Seele zurück. Und nun zeigte sich's, wieviel sie inzwischen erlebt hatte. Was sie umgab, war plötzlich ein Reigen bunter Gestalten geworden, von denen jede ihre Geschichte erzählte und ihre Humore hergeben mußte. Der Kaufmann dort an der Ecke, der Milchmann, der Tischler und vor allem das Häuflein unten im Hofe – ein ganzes Raritätenkabinett, dessen Insassen leibhaftig an ihm vorüberspazierten.

Mitten im Lachen und Erzählen hielt sie inne und fuhr sich erschrocken über die Stirn.

»Was hast du?« fragte er.

»Ich weiß gar nicht, was mit mir ist,« sagte sie, »das ist alles so'n Dummzeug. Ich fall' dir gewiß lästig damit.«

Und als er sie gelobt und beruhigt hatte: »Ich glaube, das kommt bloß davon her, daß ich so – so – froh bin.« Eigentlich hatte sie »glücklich« sagen wollen, aber sie verschluckte es, denn das hätte ihm vielleicht das Herz schwer gemacht.

Darauf mußte er ihr noch rasch den Gefallen tun, den Wirtsleuten einen Besuch abzustatten. Dort gab es Bücklinge und Verlegenheiten, und ein Glas gemanschten Portweins gab es auch.

Dann aber hatte die Stunde der Abfahrt geschlagen.

Die Kinder schlossen die Ärmchen noch einmal um seinen Hals, das Kleine erhielt einen Kuß auf die Stirn, Mi dankte mit einem lächelnden Feuerblick, und die Droschke stand unten.

Jetzt erst, da Brigitte Hut und Mantel anhatte, um ihn zur Bahn zu geleiten, wagte sie auszusprechen, was ihr schon lange den Atem beengte: »Könnt'st du nicht doch vielleicht bis morgen hierbleiben?«

Er biß sich auf die zitternden Lippen.

»Nein,« sagte er, »ich habe Modell morgen früh.«

Ja freilich, wenn er Modell hatte! Und so gab sie sich drein.

Aber bevor er von dannen fuhr, erlebte sie noch eine große, ganz unverhoffte Freude.

»Nun mußt du mir auch bald einen Gegenbesuch machen,« sagte er.

Ihr wurde ganz schwindlig zumute. Zu beiden Malen, als sie gemeinsam durch Berlin gekommen waren, hatte er durchaus nicht anhalten wollen. Und selbst bei der Übersiedlung war sie mit ihrem Völkchen von einem Bahnhof zum andern gefahren.

So sollte sie also, bevor ihre Ehe zu Ende ging, einen Blick in die Welt hineintun dürfen, in der er so lange gelebt hatte und die ihr bisher ein verschlossener Garten gewesen war.

Mit dieser Hoffnung kehrte sie heim. In ihr ertrank alles Unglück, das unabwendbar war.


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