Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel

Der Frühling kam ins Land, und mit den Knospen schwoll die Frucht im Leibe.

Jetzt gestand sie ihm, daß sich die ersten Anzeichen der Empfängnis schon vor seiner Pariser Reise bemerkbar gemacht hatten. Um ihn aber vor der Zeit nicht zu verstimmen und zu beirren, war sie des Glaubens gewesen, ihm alles verhehlen zu müssen.

Schon war ihre Gestalt entstellt, und sie zu betrachten oder gar durch die Straßen mit ihr zu gehen, wurde zur Qual. Wohl fühlte er, wie heilig das Schützeramt ist, mit dem die Natur den Gatten des schwangeren Weibes bedacht hat, und er hegte und pflegte sie auch, soviel er nur konnte, aber der Gedanke: ›Was geht mich das alles an?‹ wich darum nicht aus seiner Seele.

Ein Jahr vertraulichen und weltvergessenden Verkrochenseins hatte es werden sollen, eine nach außen legitimierte Liebschaft, nicht mehr; nun wuchsen Berge von Sorgen und Pflichten daraus empor, Berge, die, über ihn stürzend, seine Stimmung, seine Kraft, seine ganze Zukunft zu zermalmen drohten.

Sie selbst fühlte zu sehr als Weib und als Mutter, um ihr Schicksal nicht mit der ruhigen Gewißheit erfüllter Bestimmung hinzunehmen, aber nun sie ihn immer dumpfer und mutloser werden sah, erwuchs in ihr ein Schuldbewußtsein, als hätte sie sich an ihm verfehlt, als hätte sie ihn hinterlistet und hintergangen, so daß sie jetzt wie eine Wortbrüchige vor ihm stand. Und oftmals streichelte sie abbittend seine Hand, während sich im tiefsten Innern das Glück, sein Kind zu tragen, nicht zum Schweigen bringen ließ.

Inzwischen war ihm die Stadt, in der er nun hauste, vollends unerträglich geworden. – Die gaffenden Bewohner trugen die Larven von hämischen Feinden und rachsüchtigen Verfolgern.

Ihnen zu entfliehen, wurde das dringendste Gebot.

Gott sei Dank! Die alte Klitsche stand ja da, die ihm eine Laune des Zufalls, wie geschaffen hierfür, zu eigen gegeben hatte. – »Schloß« nannte sie sich, stammte aus dem siebzehnten Jahrhundert und wurde vornehmlich von Eulen und Ratten bewohnt.

Der Ohm, Einsiedler und Junggeselle, war mit zwei, drei zu erheizenden Zimmern zufrieden gewesen und hatte das übrige von einem Jahr zum andern weiter verfallen lassen.

Dort Ordnung und Behagen zu schaffen, war vorderhand unmöglich.

Aber da gab es ein Försterhaus am Waldrand, abseits vom Park und vom Hofe gelegen, wo zurzeit ein lediger Wirtschaftsgehilfe Quartier genommen hatte. Wenn man den im Hause des Verwalters unterbrachte, war eine Wohnstatt gewonnen, die in ihrer holden Enge bürgerlicher Lebensführung wohl entsprach und einen Schlupfwinkel darbot, den kein Unwillkommener je entdecken konnte.


Es war ein weich vernebelter Halbsonnentag im Spätapril, als Steffen sich mit Brigitte auf die Bahn setzte, um das künftige Heim zu besichtigen.

Lerchenwirbel tönte bei jeder Haltestelle vom Himmel herab. Über die jungen Saaten strich der Frühlingswind in linden Schauern, und aus den noch sumpfigen Wiesen hob sich die Kuhblume in goldgelbem Sternengewimmel.

Brigitte saß vorgebeugt im Abteil, die Hände auf dem Schoße gefaltet, und sog in tiefem Atemholen den Windhauch neugeschenkter Freiheit in sich ein.

Und auch er fühlte sich als ein Erlöster.

Alle Lebensnot, die sie sich gegenseitig geschaffen hatten, zerschmolz, als wäre sie nie gewesen. In schweigendem Frieden saßen sie einander gegenüber, lächelten sich an und lächelten der Zukunft entgegen.

So fuhren sie den halben Vormittag lang. Dann war die Station erreicht, von der aus ein dreiviertelstündiger Weg sie dem neuen Besitz entgegenführte.

Eine Viktoria mit zwei blanken Braunen und einem livrierten Kutscher stand neben dem Post- und etlichen Klapperwagen da.

»Das ist dein eigenes?« fragte sie beinahe ängstlich, als er geradeswegs darauf zuschritt.

Da riß auch schon der Kutscher die Bärenmütze, die sonst doch immer festgewachsen sitzt, vom Kopfe herunter. Wolfsfelle umschmiegten ihre Glieder, und dann ging's los.

»Ich hab' Herzklopfen,« flüsterte sie zu Steffen hinüber. »Am liebsten möchte ich bloß immer so sitzen und niemals ankommen.«

Und wirklich – man fuhr dahin wie die seligen Götter. Die ganze Welt war in wohliges Schleierlicht getaucht, die Winde strichen liebkosend an den Backen vorüber, und die blau dämmernde Ferne sog zärtlich die Kommenden in sich hinein.

Und schließlich waren sie da.

Durchsaftete Ruten wölbten sich rötlich über den Weg, kahle Lindenkronen lösten sie ab, und durch deren Geästel schimmerte grau ein mächtiges Gemäuer.

»Ist es das?« fragte sie, scheu seine Rechte umklammernd.

Er hatte nicht einmal Zeit, ihr Antwort zu geben, denn zwischen den weißbekalkten Pfosten des Torwegs stand ein Haufe wartender Männer, aus dem ein mißlungenes Hurrageschrei schüchtern zu ihnen empordrang.

Er ließ halten und stieg ab. Sie wollte das gleiche tun, aber er winkte ihr, sitzen zu bleiben.

Und nachdem er allen die Hände geschüttelt hatte – ›wie gütig er lachen kann!‹ dachte Brigitte – führte er einen nach dem andern zu ihr an den Schlag.

Ein Alter, Graubärtiger, etwas schnapsig rings um die Nase, aber gutmütig schmunzelnd und ohne Hinterhalt in den Augen, das war Herr Lüders, der Verwalter.

Ein Flotter, Schlanker, mit aufgezwirbeltem Schnurrbart, in vieltaschiger Jagdjoppe und blitzblanken Kanonen, das war Herr Teichmann, der Inspektor.

Ein städtisch Mausegrauer, von zierlicher Gestalt und mit aschenfarbigem Gesicht, das die großen, wasserhellen Augen noch leerer, nichtsiger machten – das war der Herr Rechnungsführer.

Und dann kam der Wirtschaftsgehilfe, der so lange im Forsthause ein Zimmer bewohnt hatte und dort bereits ausquartiert worden war, und der Kämmerer, und der Förster, der fernab auf dem Vorwerk hauste – und alle die anderen, die keinen Rang besaßen und die zu nennen von Überfluß war.

Eine buntgewürfelte Schar, in der nur die Frauen fehlten, die später in Sicht kommen sollten.

Brigitte beugte sich zu jedem hinab und reichte jedem die Hand, und wen ihr Auge traf, in dem leuchtete es auf von schon gewonnener Neigung.

Dann, als alle begrüßt und entsprechend geehrt waren, machte der Wagen halb kehrt und fuhr an der Außenmauer entlang, zwischen Kiefernstämmen hindurch, nach dem bewußten Forsthause hin, das hochgegiebelt, in schlichter Einstöckigkeit zwischen noch unbepflanzten Blumenrabatten ihnen entgegensah. Eine knorrige, halbzerspellte Linde hielt mütterlich drüber Wacht. Als dunkle, handgroße Knollen saßen in Menge vorjährige Vogelnester zwischen dem lichten Gezweig, eine Frühlingsmusik versprechend, die von der Morgendämmerung bis in die Nacht hinein kein Ende finden würde.

»Ach, hier ist's gut sein!« jubelte Brigitte hell auf. Und sich zu Steffens Ohre neigend, flüsterte sie: »Hier soll unser Kind die Augen aufschlagen!«

Eine behäbige Frau, mit ergrauendem Haar und wohlwollend lächelnden Augen, ein wenig ausgebaucht, doch voll gemessener Würde, stand, eine Küchenschürze abbindend, in der tannenumkränzten Tür.

»Die Frau Verwalterin,« raunte Steffen, den Hut vor ihr lüftend.

Auch sie trat an den Schlag, und mit ihrer Hilfe durfte nun Brigitte den Wagen verlassen.

Die Zimmer noch kärglich ausgestattet, doch licht und blitzsauber, mit allerhand lustigem Kram an den Wänden, wie er sich als Mitbringsel aus den großen Städten wohl hinaus auf das Land verirrt, der Mittagstisch gedeckt, und die Verwalterin als gütiger Genius betulich über dem allem.

»Hier gehe ich überhaupt nicht mehr weg!« lachte Brigitte, doch dann erstarrte sie plötzlich zu erschrockenem Schweigen, als hätte sie sich selbst über verbotenen Wünschen ertappt.

Nach dem Essen sollte sie ruhen, wie es ihr jetzt geboten war. Aber sie weigerte sich.

Zuviel des Neuen und seit der Kindheit nie mehr Geschauten gab es zu sehen, als daß sie die kargen Stunden des Hierseins auf dem Sofa hätte vertrödeln dürfen.

Der Hof – das Schloß – der Park, das alles wollte beguckt sein.

Und Steffen wich ihren Bitten.

Der Hof sah aus wie fast jeder Hof. Gekalkte Ställe, Fachwerkscheunen, alles in weitem Geviert und wie der Spielzeugschachtel entnommen. In einem Tümpel sielte sich das Wassergeflügel, Hunde tobten, der Truthahn kollerte, und Gespanne wurden an- oder ausgeschirrt.

»Wie seltsam,« sagte Brigitte, »da lebt eine ganze Welt, lebt nur für einen selbst, und man hat sich bloß drum gekümmert, wenn ein Paket eintraf und man den Gänsebraten aß oder die angefrorenen Äpfel.«

»Ich mußte mich manchmal wohl kümmern,« erwiderte er, »besonders, wenn die Rechnungen kamen, aber dich habe ich immer damit verschont.«

»Warum tatst du –?« Sie stockte, und wieder glitt der Schatten eines Erschreckens über ihr freudig staunendes Angesicht.

Er las ihr die Gedanken aus der Seele, ohne sie anzusehen.

Ein Jahr, ein kurzes Jahr nur, von dem die Hälfte schon durchlebt war, und dann mußte der Märchenspuk verflogen sein für immer.

Beruhigend, abbittend fast, preßte er ihren Arm gegen den seinen, und schon leuchtete sie wieder auf.

»Nun ins Schloß!« bat sie. Aber er widersprach.

»Da drin ist es kalt und dunkel und greulich,« sagte er, »erst muß alles von Sonne durchwärmt und durchlichtet sein, dann darf ich wagen, es dir zu zeigen. Ich selber betret' es ja auch nicht.«

Da gab sie sich drein, und nur mit zagen, furchtsamen Blicken umstrich sie die grauen Mauern, die abseits vom Hofe hinter hochragenden Rüstern sich klotzig in die Landschaft lagerten.

Eine brüchige Freitreppe, mit Sandsteinurnen besetzt, führte zu einem eisenbeschlagenen Tor; hinter erblindeten Fenstern starrten weißliche Läden, und von einem Balkon mit hölzernem Notgeländer hingen verfilzt und verknotet die struppigen Ranken des wilden Weins.

»Dann aber zum Park!« bat sie von neuem.

Hiergegen war nichts einzuwenden. Wenn Erschöpfung vermieden wurde, durfte sie gehen, soviel sie nur wollte.

Das Staketentor klappte zurück.

Da lag er nun – der Garten Eden der künftigen Tage. Noch winterlich kahl, mit braunem Geästel und graufahlen Flächen.

Aber schon trieb in Adern und Flecken saftvolles Grün aus dem gebärreifen Erdreich, schon wiegten sich stäubende Kätzchen an den unbeschnittenen Zweigen, schon platzte das Goldgelb der Forsythien in das farbenlose Gewirr. Schon sprenkelte sich der Boden mit den weißen Sternenblüten der Anemonen. Und als kohlschwarzes Geheimnis stand hier und da ein Koniferengebüsch, an dessen harter Kraft der Winter machtlos abgeprallt war.

Leuchtende Brücken guckten aus Nähe und Ferne. Und blaues Gewässer, von der Schneeschmelze geschwellt, glitt in schwatzender Eile zwischen flachen Uferhängen dahin.

»Steffen, lieber Steffen!« jauchzte sie auf. »Da drin soll ich 'rumgehen dürfen einen ganzen, langen Sommer lang! Und die Kinder! Die Kinder! Die werden davon zehren, solange sie leben!«

Kein Groll, kein Gram, alsbald vertrieben zu sein von da, wo sie die rechtmäßige Herrin war – nur Glück, nur Dankbarkeit für die geliehene Gabe, die das Schicksal zu allzu kurzem Verweilen in ihrem Schoße ruhen ließ.

Und in ihm wallte es heiß: ›Bleib! Bleib hier in Gottes Namen! Bleib, bis der Tod dich von hinnen führt!‹

Aber er sprach es nicht aus. Wozu ihr das Herz schwer machen! Trennung mußte ja sein! Für Halbheiten war kein Platz in seinem aufs Ganze gerichteten Leben.

So weit streckte sich das Parkgelände, daß an ein Durchwandern in dieser Stunde gar nicht zu denken war.

Hier noch ein Blick auf einen sich schlängelnden Teich, von Röhricht umsäumt, von Trauerweiden umstanden, deren rotgoldenes Gezweig bis in das Wasser hinabtauchte. Dort noch ein Blick auf einen zerfallenden Tempel, um dessen gebälklose Säulen Kletterrosengeranke als dorniges Dickicht hing.

Und dies noch! Und das noch! Nicht fortgehen! Nur einen Augenblick noch!

»Wir kommen ja wieder, Liebling!« tröstete er.

» Wann kommen wir wieder?«

»Wann du wirst wollen! Sobald drüben eingepackt ist! Nächste Woche – in drei Tagen vielleicht. Niemand hat's eiliger, dort wegzukommen, als ich!«

Lachend in hoffender Seligkeit ließ sie sich willig von hinnen führen.

Schon stand der Wagen vor der Tür.

Eine Tasse heißen Kaffee noch rasch – »Denn die Abende sind kalt, gnädige Frau!« – und dann ging's wieder hinaus in die Fremde.

In die Fremde, wahrhaftig! Denn so tief war von heut ab die Heimat entwertet.

Hier war Heimat und würde es bleiben, wo immer man hauste.


Drei Tage. Mehr nicht. Da war der städtische Hausrat eingepfeffert, und was man mitnahm – Betten, Teppiche, Tafelgeschirr und dergleichen –, ging als Frachtgut vorauf.

Die drei Pilze saßen mit leuchtenden Traumaugen da. Sie wußten, sie fuhren ins Märchenland. Und Mi sah aus, als wäre sie immer darin zu Hause gewesen.

Und wieder stand die Viktoria hinter dem Bahnsteiggitter. Wieder nickte die Troddel von Michels – denn »Michel« hieß er, das hatten sie schon im ersten Augenblicke erkundet – von Michels Bärenfellmütze. – – –

Was nun kam und sich herunterspielte, wochen- und wochenlang, hatte nichts Wirkliches mehr. Ein Hindämmern war's in lachender Weltverlorenheit, ein Begrabensein in den zärtlichen Armen der großen Mutter, ein Sichaneinanderklammern aus Angst vor der Überfülle des Glücks, die jeder neue Tag in neuer Verschwendung über die dankbaren Seelen auszuschütten begehrte.

Um sie herum herrschte die holde Herbigkeit des Kiefernwaldes. Sandflecke erglänzten silbern zwischen dunkelnden Preiselbeersträuchern, Heidekraut hob seine vorjährig fahlen Blütenrispen. Auf dürrem Niedergeäst jagten die Elstern sich. Harzduft durchbebte jeglichen Atemzug.

Man streckte sich lang auf den Boden und sog die Sonne wie eine leibliche Nahrung in sich hinein.

Daß in nächster Nähe eine andere Welt ihrer harrte, um sie als Herren und Herrenkinder in ehrfürchtiger Liebe zu empfangen, daran dachten sie fürs erste kaum anders als in Scheu und in Bangen. Selbst Steffen begab sich in sie nur hinein, weil es von ihm verlangt wurde und weil das »Regieren« jetzt sein Geschäft war. Er mußte den Anschein erwecken, als ob er wunder wieviel von landwirtschaftlichem Wesen verstünde, und hatte vor allem die Sorge, sich keine Blöße zu geben. Drum schaffte er sich Haufen von fachlichen Büchern an, in denen er unablässig studierte, ob er auch, neben Brigitte im Moose liegend, zumeist drüber einschlief.

Aus dem Malen wurde nicht viel, und es blieb ja auch vor lauter geschäftiger Faulheit nur wenig Zeit dazu.

Eine unerschöpfliche Fundgrube seltener Motive bot der Park in der Üppigkeit seiner Verwilderung. Nun das Blattwerk sich entfaltete, war erst zu erkennen, wieviel zerstörende und wieviel schöpferische Arbeit von der Natur geleistet worden war, seitdem der griesgrämige Ohm ihn nicht mehr gepflegt hatte. Schlupfwinkel und Dickichte, versumpfte Teiche, geborstene Bäume und lustiges Wuchern überall.

»Ein Jammer, daß ich ihn in diesem Urwaldstande nicht belassen darf,« sagte Steffen. »Ich würde drin zu pinseln haben bis an meinen seligen Tod.«

Den Kindern war verboten, ihn zu besuchen. Selbst unter Mis Aufsicht konnten sie leicht in all den Tümpeln und Fließen zu Schaden kommen. Nur wenn Mammi, deren Gang immer schwerfälliger wurde, sich aufmachte, die Wildnis zu durchstreifen, durften sie mitkommen. Und dann schritten sie, einander bei den Händen fassend, in herzbeklemmender Andacht dahin und wagten kaum die Stimme zu erheben, so sehr fürchteten sie sich vor den Riesen und Zwergen, die dort ihr Unwesen trieben.

Steffen aber verhandelte schon mit einem Berliner Gartenbaukünstler, um das wüste Durcheinander in gesittete Formen zurückzuführen. Männer mit Skizzenbüchern und Meßketten fanden sich ein. Planrollen kamen und gingen. Im Herbst sollte die Arbeit beginnen, und wenn die ausreichende Schar der Gehilfen eingestellt wurde, konnte zum nächsten Frühling alles in neuem Glanze erstrahlen.

Brigitte saß über den Plänen stunden- und stundenlang.

»Wenn ich auch nicht mehr sehen werde, was du da schaffst,« sagte sie, »mitarbeiten – das darf ich doch!«

Und meistens fand sie das Richtige. Immer neue Schönheit holte sie aus dem Chaos hervor.

Von Neugier und Sehnsucht umstrichen, stand derweilen der düstere Mauerklumpen des Schlosses als mahnendes Menetekel da.

Soviel sie auch bat, Steffen erlaubte ihr immer noch nicht, es zu betreten.

»Ich will vermeiden, daß du ein Grauen davor kriegst,« sagte er, »erst muß es sich ein wenig ausgeputzt haben.«

Und vorsichtig begann er, zunächst dem Äußern ein freundlicheres Ansehen zu geben.

Gerüste wurden gebaut. An der Freitreppe und wo sonst noch die Ziegel bloßgelegt waren, bastelten emsig die Maurer. Steinmetzen wanden Baluster zum Balkone empor. Und eines Tages erschienen mit struppigen Pinseln und gelbbekleckerten Eimern die Maler, um den Außenwänden ein neues Kleid anzuziehen.

Bald prangte das schwarzgraue Gemäuer in goldschimmernder Helle.

Und die blindmachenden Läden taten sich auf. Man fühlte in seinem Herzen den erlösenden Strom von Licht und Luft, der durch die muffigen Räume strich, in denen das Rattenvolk so lange die Herrschaft geführt hatte.

»Darf ich auch jetzt noch nicht 'rein?« fragte sie flehend.

»Später, Liebling, viel später,« sagte er, »als Belohnung, wenn das Schwere vorüber ist.«

Und dieses Schwere kam näher und näher.

Sie lebte in einem Traumzustande, der sie nur durch dünne Fäden mit diesem Erdenleben zusammenhielt. Sein Kind war es, das in ihrem Schoße erwuchs. Und dessen Dasein niemals dulden würde, daß er sich ihr ganz entfremdete. Selbst, wenn sie nichts mehr von ihm hörte, wenn er in weltenfernen Bezirken weltenfernen Zielen nachlief, dies Kind zwang ihn zur Seelentreue und mußte ihn immer wieder zu ihr zurückführen.

Und wie zärtlich würde sie ihn empfangen, selbst wenn es Jahre dauerte, bis er sich wieder einmal zu ihr fand! Genau so, als wäre er gestern gegangen. »Tritt ein«, würde sie sagen, »und denk, du seist in die Heimat gekommen!« »Und hier ist dein Kind,« würde sie weiter sagen, »schau ihm in die Augen; dann wirst du wissen, daß ich dein Eigentum nicht schlecht verwaltet habe.«

In den Nächten schlief sie wenig. Es war zuviel des Glücks, das auf sie eindrang. Durch die Ladenritzen dämmerte Frühmorgenhelle, in den Zweigen der Linde piepten die erwachenden Sänger, ein Häherschrei drang aus der Ferne – überall war Leben und Freude am Leben. Und sie sollte sich nicht freuen an dem Leben, das in ihr sich verdoppelte? Jedes Sichregen in ihrem Leibe war ein Ereignis, das Beachtung verlangte und Hoffnungen in die Zukunft warf.

Ähnliches hatte sie früher nie gefühlt. Hatte sich in schlichter Naturverbundenheit dem Laufe der Dinge gefügt und sich als ein Saitenspiel betrachtet, auf dem Musik zu machen es dem Schicksal beliebte. Jetzt hieß es mittun und sich würdig erweisen. Drum regelte sie auch jeden Schritt, selbst jeden Gedanken regelte sie. Nichts Mißtöniges, Grämliches, oder Launisches nur, durfte dem werdenden Leben zugeführt werden, das jetzt seine Prägung erhielt.

Würde es ein Knabe oder ein Mädchen sein?

Am liebsten hätte sie sich einen Knaben gewünscht, denn der hätte sein Bild am treuesten widergespiegelt. Aber er war nicht dafür.

»Ein Mädel muß es sein!« sagte er. »Mit einem Jungen wüßte ich nichts anzufangen. Der Sohn ist des Vaters, der Vater des Sohnes natürlicher Feind. Das habe ich einstmals am eigenen Leibe verspürt. Er würde sich gegen mich auflehnen, wie ich selbst zum Rebellen wurde.«

Und ihm zuliebe gab sie sich drein und lenkte die Wünsche wie er.

»Wenn es ein Mädel wird, wie soll es heißen?«

»Würdest du wollen wie ich?«

»Selbstverständlich würde ich das!«

»Dann höre! Ich habe dir von den Frauen, die in mein früheres Leben hineingespielt haben, nicht viel erzählt, denn ich wollte dich nicht beirren. Viel Kroppzeug war darunter, und manche, deren Erinnerung gerade noch fürs Rauchzimmer gut ist. Doch unter den wertvollen gab es eine, die war mir ein Gottessegen … Die hob mich aus dem Sumpf heraus, in dem ich vielleicht nicht untergesunken wäre, der mich aber jedenfalls schon tüchtig verdreckt hatte – und mutlos gemacht, und zur Scheinkunst niedergezogen … Da wies sie mir den Weg zur Höhe, den ich schon fast verloren hatte, und gab mir den heiligen Rausch zurück, den kein Werdender missen kann … Wie geweiht kam ich mir vor, seit ich den Hauch ihrer Nähe atmete … Krank war sie immer, und jetzt ist sie tot … Aber lebendig muß sie mir bleiben, solange ich lebe. Und darum sollst du drein willigen, daß unsere Tochter heiße wie sie.«

Ach, wie gern sie das tat! Kein Schatten des Neides gegen jene Verklärte umdunkelte ihr Gemüt. Nur ehrerbietiger Dank wuchs in ihr auf und das heiße Verlangen, es ihr im Notfalle gleichzutun. Wo ihr künftiges Haus auch stehen würde, jener Toten sollte darin ein Altar gehören, und das Kind, das ihres Namens gewürdigt wurde, sollte ihr Priesterin sein.

Damit war ein Neues dazugekommen, das sie mit andächtiger Liebe erfüllte und gegenstandslosem Entzücken Inhalt und Daseinsrecht gab.

Nur Wochen vielleicht trennten sie noch von der Schicksalsstunde. Und als der Mittsommer das Dunkel der Mitternacht mit glutroten Streifen durchzog, als der Nachtigallenschlag leiser wurde und Johannistriebe die Zweigspitzen erhellten, da hatte sie wirklich geschlagen.

Früher, als alle erwarteten.

Steffen wurde eines Abends aus dem Walde geholt. Die gnädige Frau sei unwohl geworden, und ob er nicht heimkommen wolle.

Da saß sie auf dem Sofa steil aufgerichtet und sah zu ihm empor mit einem Hundeblick, der ihm das Herz zerriß. Hilflose Not und unbegrenztes Vertrauen einten sich in diesem angstvoll angeklammerten Blicke.

Mi und er zogen sie aus und brachten sie zu Bette. Keine Hebamme war bestellt, kein Arzt zu erreichen. Die raschesten Gefährte konnten sie erst gegen Morgen zur Stelle schaffen.

Eine Wehe jagte die andere, und wenn ihr Winseln die Räume durchdrang, dann raste Steffen zum Walde, wie von den Furien gehetzt.

Die Kleinen waren weinend eingeschlafen, und Mi saß auf der Schwelle und starrte.

Die Verwalterin, die eilends gerufen wurde, brachte sachverständigen Beistand. Und in der ersten Dämmerung, noch ehe die Hebamme ankam, war das Kleine schon da.

Ein Mädchen. Selbstverständlich ein Mädchen.

Dann Wagengerassel und Wichtigkeit – und Badewasser, und Kaffee mit Butterstullen, und was zu den Weisen Frauen sonst wohl gehört.

Steffen saß unter der Linde, in deren Dickicht die kleinen Sänger sich rüsteten, das neue Erdenkind mit Morgenmusik zu empfangen, horchte aufzuckend nach jeglichem Laute und dachte bei sich: ›In was für ein Abenteuer bin ich da verwickelt!‹

Dann legte sich drinnen das bedrohliche Treiben, und die Stimme des fremden Weibes sprach hinter ihm: »Jetzt dürfen Sie allenfalls zu ihr, Sie glücklicher Ehemann!«

Aus Wut über seine lächerliche Lage hätte er ihr am liebsten den Stock an den Kopf geworfen. Er übersah die gratulierende Hand und trat in das deckenverhangene Zimmer, in das der sorglich gemilderte Morgenschein dämmerig hereinbrach.

Da lag sie – ohne das zünftige müdselige Lächeln, von dem er immer gelesen hatte; ganz ernst und ein fast ängstliches Fragen im Blicke, so lag sie da.

Wie er's aufnehmen würde, ob er nicht böse sein würde und ob ihm das Kind auch nicht zuviel sein würde, das alles las er ohne Mühe aus diesem ängstlichen Blicke.

Von Rührung überwältigt, kniete er neben dem Bette nieder und küßte die flügellahm hängende Hand, und erst als er sich dann aufrichtete und ihr von neuem ins Angesicht sah, fand er es lächelnd in bescheidenem Glücke.

›Und soviel Gutsein, soviel seelische Schönheit muß ich verlassen, muß ich zerstören!‹ dachte er. ›Das geht nicht, das ist wider die Natur!‹

Und so hat er zu dieser Zeit noch oft gedacht, während das Verlangen, aus der widersinnigen Traumwelt in sein eigentliches Leben zurückzukehren, stärker und stärker in ihm rumorte.

Mit den Weibern begann's. Sie lag krank, und ihm fehlten die Weiber. Die Weiber, die ihm oft schon nach dem ersten Begegnen gehörten.

Mi blieb sakrosankt. Das verstand sich von selbst.

Aber da war die Kämmererstochter, die er sich schon damals vorgemerkt hatte, als er zum Begräbnis des Oheims gekommen war.

Ein dralles, pralles Geschöpf, mit Flunkeraugen und sinnlich gekräuselten Lippen. Die richtige Muse der Heumahd. Als sie ihm unlängst auf dem Vorwerk ein Glas kalter Buttermilch gereicht und dabei seine Hand berührt hatte, war's wie ein elektrischer Schlag durch beide Körper gegangen.

Die tauchte jetzt öfters im Forsthause auf und brachte Erdbeeren für die gnädige Frau.

Und wie sie sich nach ihm umsah!

Ihr Weg führte quer durch den einsamen Wald. Er hatte nur nötig, sie einzuholen.

Doch er biß die Zähne zusammen und blieb. Es schickte sich nicht. Für einen Ehemann schickte sich's nicht … Moral? Pah, Moral! Vorsintflutliche Sache! … Aber unschön war's. Unästhetisch, proletenhaft und seiner und Brigittens nicht würdig.

Mit ihrem stillen Lächeln lag sie da, und das Kleine daneben, das drollige, knallrote Fleischklümpchen, das ihm gehörte wie ihr und das den Namen der Toten, der Heiligen führte, so daß auch sie ihren Anteil hatte und mit ihrem Segen dies alles umwob.

Und derweilen sollte –? ›Nee, nich zu machen.‹ Aufsparen für später, wenn man erst wieder frei war.

Jetzt galt es, Sorge und Arbeit einer Aufgabe zu widmen, die jeden seitwärts schielenden Wunsch im Keime erstickte.

Was ihr verheißen war seit Monaten schon, das Innere des Schlosses kennenzulernen, mußte sich, wenn sie gesund sein würde, endlich erfüllen – und so erfüllen, daß sie Freude dran hatte.

Darum begann ein großes Wirtschaften in dem verlotterten Kasten.

Zwei Tapezierer wurden aus Berlin herbestellt; die Maler, die die Mauern getüncht hatten, erschienen von neuem und setzten ihr Werk im Inneren fort. Die Vorratskammern, in denen die Möbel zu Stapeln sich häuften, wurden geräumt, und was sich als brauchbar erwies, auf die leeren Räume verteilt. Die Bezüge waren ja meistens zerschlissen, aber Rudolph Herzog schickte Muster genug, man hatte die Auswahl. Und wo die Möbelstücke nicht reichten, wurden Holzkisten hingestellt und mit bunter Polsterung bezogen. Auch Gardinen fehlten natürlich. Aber die brauchten nicht einmal aus Berlin verschrieben zu werden, dafür sorgte das Warenlager der Kreisstadt.

Ob alles auch Blendwerk war, wohnlich und herrschaftlich sah es aus, und das Ruppigste blieben die Räume, in denen der Oheim gehaust hatte. Man konnte lüften, soviel man wollte, der kalte Tabaksrauch ging nicht 'raus. Und die Teppiche lagen grau und zertreten. Wie ein alter Uhu hatte er da drinnen gesessen, den Menschen ein Greuel und sich selbst wahrscheinlich nicht minder. –

Nun konnte Brigitte schon aufstehen. Recht matt war sie ja immer noch, aber bis in den Wald zwang sie bereits. Dort saß sie, halb beschattet, halb belichtet, im Liegestuhl hingestreckt, das Wägelchen der Kleinen dicht neben sich. Und in Sichtweite spielten die dreie.

Bald kam eines oder das andere dahergeschlichen, streckte die Nase über den Wagenrand oder schmiegte sich still an Mammis gastfreie Schulter.

In ihren Lebensäußerungen glichen sie sich mehr, als Geschwister sonst pflegen. Sanft und voll Zutrauen und immer liebebedürftig. Nur den kleinen Wulle-Wulle stieß manchmal der Bock, so daß er sich strampelnd zur Erde warf und mit Geheul sein Persönlichkeitsrecht behauptete. Umso herzerweichender war dann seine Reue, wenn er die Ärmchen um den Hals desjenigen schlang, den er durch seinen Widerstand soeben gekränkt hatte, und nuckelnd sich daselbst festweinte.

Für ihren Papa hegten sie maßlose Zärtlichkeit. Wenn sie sein Nahen nur witterten, stürmten sie schon auf ihn los, und da er ja nicht mehr als zwei Hände hatte, an deren jede sich eines hängen konnte, so fühlte der Übrigbleibende sich bitter im Nachteil und wollte zwiefach entschädigt sein.

Steffen, der nie mit Kindern zu tun gehabt hatte und, obwohl er ein Kinderfreund war, sie doch nur als Spielzeug betrachtete, spürte dann stets eine kleine Beschämung, weil er sich eingestehen mußte, all diese Liebe nicht zu verdienen. Soviel er auch mit ihnen herumtobte, so willig er sich ihre leidenschaftliche Neigung gefallen ließ, im Innersten blieben sie ihm doch nur ein störendes Gekribbel, von dem durch Mis Dazwischenkunft befreit zu sein sich meist als Wohltat erwies. Auch für sein eigen Fleisch und Blut hegte er wenig väterliche Gefühle. Was da dröselnd in den Kissen lag, was zur Unzeit gefüttert und zu einer anderen Unzeit umgebettet sein wollte, war ihm bestenfalls ein Gegenstand der Neugier, und nur wenn er sich darüber klar wurde, daß mit ihm der Name der geliebten Toten von neuem in die Welt hineinwuchs, erwachte ein wärmerer Herzschlag in ihm.

Und immer wieder, wenn er das fünfköpfige Menschenhäuflein vor sich sah, das nun zu ihm gehörte wie sein eigenes Leben, faßte er sich vor den Kopf und fragte im stillen: ›Was ist mit mir geschehen? Träume ich, bin ich verwunschen, kann das Wirklichkeit sein?‹

Manchmal wurde das Verlangen nach der Welt, in der bisher seine Tage sich abgespielt hatten, so stark in ihm, daß er anspannen ließ, um mit oder ohne Abschied – gleichviel! – von dannen zu fahren.

Aber er brauchte nur in Brigittens Augen zu sehen, die in wiederkehrender Heiterkeit und voll von wunschlosem Danke an ihm hingen, und jeder lieblose Plan ging in Trümmer.

Dieses Jahr gehörte ihr. Was davon noch übrig war, sollte ganz ihr Eigentum bleiben. Die Not des Sichbangens kam zeitig genug.

Inzwischen wuchsen ihre Kräfte zusehends, und eines Tages bat sie sogar, bis nach dem Parke geführt zu werden.

Heiß wallte es in ihm auf. Nun durfte die Stunde kommen, die ihr als Belohnung seit langem verheißen war.

Mi wurde heimlich voraufgeschickt. Was von Handwerkern sich noch im Schlosse herumtrieb, habe sofort zu verschwinden, mitsamt den Leitern und allem sonstigen Kram. Nur das bereitgelegte Willkommenplakat müsse noch rasch über dem Haustor angebracht werden.

Wohl zwanzig Minuten vertrödelte er, die abgeschmacktesten Vorwände suchend, und dann ging's langsam auf den Weg, den sie seit bald zwei Monaten nicht mehr gemacht hatte. Die Pilze zottelten hinterher, und nur das Kleine mit seiner Wärterin blieb zu Hause.

Als sie aus dem Walde traten und das schwarze Ungetüm in seinem neuen, lichtgelben Gewande wie eine verwitterte Schöne, die sich auf Jungsein herausgeputzt hat, blitzblank und beinahe kokett vor ihnen sich spreizte, da schrie Brigitte hell auf in Entzücken. Und als sie gar das umkränzte Tor und die wie weiße Segel sich blähenden Vorhänge sah, da verschlug ihr der Atem. Stillstehend blickte sie bald auf Steffen, bald auf das veränderte Bild. Dann barg sie den Kopf an seinem Arm und verhehlte die Tränen, die eine widersinnige Hoffnung wohl in ihr hochsteigen ließ.

Aber bald hatte sie sich wieder gestrafft. Und so rasch ihre noch brüchigen Kräfte erlaubten, eilte sie den sich auftuenden Wundern entgegen – zur Terrasse hinan, in deren Vasen blühende Verbenen sich wölbten, und dann in die dunkle Halle hinein, die mit ihren gefurchten Pilastern, ihrem Kassettengebälk und ihrer in wildem Barock geschwungenen Treppe aus märchenbunter Vergangenheit in das nüchterne Heute hineingeschneit schien.

Links lagen die Zimmer des Oheims, die einzigen, die er, ausgerüstet mit Petroleumkochern und Kanonenöfen, durch lange Jahre hindurch bewohnt hatte. An ihnen vorbeizusehen, verstand sich von selbst. Aber rechts tat sich die Flucht der einstigen Staatsräume auf; die war nun vollends ein Wunder. Daß den rotbrokatenen Sesseln hier und da ein Bein abhanden gekommen war, daß die goldumschnörkelten Spiegel von dem, was sie zu zeigen hatten, kaum ein Nebelgebilde hervorzubringen vermochten, daß die Ölbilder an den Wänden sich hinter einer schwarzen Schmutzkruste versteckten und daß der getäfelte Boden ein Schachbrett von vermorschten Lücken aufwies, das hatte alles nichts zu bedeuten.

Hier war Vorwelt, hier war Historie, hier war Märchen. – Hier wiegten sich die Geister reifröckiger Damen und bezopfter Herren in dienernden Menuetten. Hier war geschwärmt, gekost, parliert, getändelt worden, hier hatte man Werther vorgelesen und aus dem wurmstichigen Spinett Mozarts erste Töne hervorgelockt.

Und dann ging's die Treppe hinan, zur oberen Halle. Kamine mit vorgewölbten Voluten wiesen zu schwarzen Höhlen empor. Eine fischleibige Meerfrau hing an der Decke. Von draußen lachte grünrankiger Sommer herein.

Hallende Korridore rechts und links. Hinter diesen Türen hatten dereinst die Gäste gehaust. Hier hatte zu nächtlicher Stunde manch angesponnenes Liebesspiel sich heimlich vollendet.

Inmitten geschweifter Holzwände lagen finstere Alkoven versteckt, und jeder barg sein Geheimnis, wie er die Rattenlöcher barg, die an den Leisten entlangliefen.

Dann kamen Verliese, Kammern, Wendeltreppen, Wandschränke, mit eisernen Riegeln dreifach verrammelt, Fensterläden, hinter denen kein Fenster war, Türen, die ins Leere führten. Sogar ein Kerker war da, von fingerdicken Gittern umschlossen; aber es konnte auch eine Rauchkammer sein, denn ein Schornstein, mit Klappen versehen, führte im Hintergrunde hindurch.

Wo man den Fuß hinsetzte, wo man den Blick umherschweifen ließ, überall zeigte sich Seltsames, niemals Geschautes.

Und derweilen lief ein Trippeln und Lachen und Quietschen treppauf und treppab, erfüllte die Hallen, durchklang die Korridore und gab der erstorbenen Welt ein neues, lustiges Leben.

Das waren die drei Pilze, die, von Mi eingefangen und gehütet, in dem weiten Hause herumtollten, während Brigitte, auf Steffen gestützt, in großäugigem Staunen von einem Raume zum anderen dahinschritt.

Und er dachte: ›Ohne das kleine Volk wäre ein Hausen hier ganz unerträglich!‹

Allmählich wurde sie müde, und er mahnte zur Heimkehr.

»Noch einen Blick in den Park hinaus!« bat sie und trat an eines der nach hinten führenden Fenster.

Da lag nun die ganze, zur Wildnis versponnene Herrlichkeit. Ein grünes, wellenschlagendes Meer von Baumkronen, Gebüschen, Rankenwerk und Dornengestrüpp.

Es war um die fünfte Nachmittagsstunde, und eben begann der abendliche Vogelskandal, schon abgemattet freilich, denn der Sommer strebte zur Stille, aber immer noch laut genug, um mit seiner Tausendtönigkeit die Herzen zu weiten.

Trunkenen Blickes schaute sie in die Ferne.

»Fast tut's einem leid,« sagte sie, »daß all diese Schönheit von der Kulturschere vernichtet werden soll!«

»Es soll noch schöner werden,« erwiderte er, »das wirst du ja einmal erleben.«

Sie antwortete nichts, aber das schmerzhafte Zucken, das ihre Glieder durchfuhr, reichte aus, um ihn mit Schuldgefühl zu erfüllen.

Und dann kehrten sie heim.


Der eben geschilderte Tag ist Brigitte für lange als Höhepunkt dieses selig-unseligen Jahres in Erinnerung geblieben.

In alles, was nun noch kam, träufelte der Gedanke an den unabwendbaren Abschied heimliche Bitterkeit.

Doch nein, Bitterkeit war es nicht, Wehmut höchstens und eine Vorwegnahme künftigen Sehnens.

Sie, die ihr Leben bisher mit ihren schwachen Händen sicher und planvoll geführt hatte, stand allem Zukünftigen ratlos gegenüber.

In der Stadt zu bleiben, wo sie ihre Freunde hatte und wo fast alle sie kannten, wehrte sie sich. Das Mitleid, mit dem sie dort bedacht werden dürfte, mußte sich alsbald als unerträglich erweisen.

Darum wurde beschlossen, daß sie nach irgend einem mitteldeutschen Orte übersiedeln solle, dessen Naturschönheit ihr Ersatz für das Verlorene bieten könnte, um sich dort eine neue Existenz zu bauen.

Ihre Witwenpension hatte sie durch die Heirat verloren. Ihr Vermögen war klein. Was sie, die Ungeübte und Ungekannte, sich mit ihrer Feder verdienen konnte, schien nicht der Rede wert. Trotzdem war sie nicht dazu zu bewegen, die Mittel zum Unterhalt von ihm anzunehmen. Erst, als er ihr klarmachte, daß sie ihm damit die Schmach zumutete, sein eigenes Kind unversorgt zu lassen, willigte sie ein, sich mit ein paar tausend Mark im Jahre von ihm unterstützen zu lassen.

Als der Frühherbst herankam, beschloß er, sich mit ihr auf den Weg zu machen, um eine künftige Wohnstatt für sie auszukundschaften.

Die Kinder blieben unter Mis Obhut, und die Verwalterin versprach, sie nicht aus den Augen zu lassen.

Und so zogen sie beide eines Septembertags in die Weite, glücklich, noch rasch mitsammen die Welt zu sehen, doch ohne Ahnung, wohin.


 << zurück weiter >>