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In den ersten Junitagen gebar Eva ein Mädchen. Es ging alles leicht und glücklich von statten. Der alte Sanitätsrat schmunzelte: »Sehen Sie, so was, das lass ich mir gefallen! Und die Kleine, eine Pracht, die könnte man gleich frischweg auf 'ne Ausstellung schicken. Da sieht man doch wieder mal, wie die Natur schafft, wenn ihr niemand reinpfuscht!«
»Wie ist's denn nun mit den Grosseltern? Haben die denn gar keine Ahnung? Man müsste es ihnen doch mitteilen. So'n Enkelchen, das ist doch ein Staat! Ob sie das nicht erweicht?«
Mieze schüttelte den Kopf. Das Herz wurde ihr schwer, wenn sie an die Aufgabe dachte, die alten Leute zu benachrichtigen. Und doch musste es sein, lange liess es sich nicht mehr hinausschieben. Sie drängten immer mehr, dass Eva zurückkommen sollte, sie wusste auch keinen Grund mehr anzugeben, um deren Bleiben erklärlich zu machen, zu rechtfertigen. Im letzten Briefe hatte Frau Professor Weidmann etwas verlauten lassen, wie »Eva holen, sonst scheine sie nicht zu kommen«. Das fehlte gar noch. Mit Schrecken fiel es ihr jetzt ein, der Brief war schon über eine Woche alt; durch die Geburt der Kleinen war er bis jetzt in Vergessenheit geraten. Aber das musste auf jeden Fall verhindert werden, kommen durfte niemand. Eva war noch zu schwach, war einer solchen Aufregung nicht gewachsen. Sie musste alles schreiben, die ganze Wahrheit mitteilen. Am besten gleich heute noch.
Der Brief wurde ihr sehr schwer. Sie erzählte alles so schonend wie möglich, hob hervor, was Eva in den Augen der Eltern zu entschuldigen vermochte. Aber sie fühlte es wohl, die einfachen, nackten Tatsachen blieben dieselben. Sie war auch nach manchen Seiten hin zu sehr gebunden, vieles konnte sie nicht aussprechen, wie sie es empfand. Den Vater des Kindes nannte sie nicht, das war Evas Sache. Sie wusste, diese würde ihn und ihre Liebe nimmermehr preisgeben. So schrieb sie nur sehr nachdrücklich, dass Eva Schutz und Hilfe suchend zu ihnen gekommen sei. Sie hätte ihn ihr gern gewährt, um so mehr, da sie sie jeden Tag lieber gewonnen. Von Evas Arbeit, ihrem Streben schrieb sie, dem Kinde, auf das sie stolz sein könnten. Sie klagte die alten Leute nicht an, sagte nicht: dies habt ihr verschuldet mit eurer weltfremden Erziehung. Weil ihr das arme junge Herz nicht auszufüllen verstandet, griff es selbst um sich und nahm sich, was es brauchte, um das Leben, das ihr ihr zugeteilt, ertragen zu können. Sie sagte nichts dergleichen, aber zwischen den Zeilen war die Anklage deutlich zu lesen, herauszuhören, dass sie auf Evas Seite standen, sie und ihr Mann, voll und ganz.
Wochen vergingen, es kam keine Antwort. Längst hatte Eva ihre Arbeit wieder aufgenommen, mit grösserem Eifer noch als früher. Die kleine Ruth machte ihr nicht viel zu schaffen, es war ein ruhiges, gesundes Kind. Seit dem Gespräch mit Frau Renner hatte sie deren Enkelin, die Bertha, mehr und mehr zu sich herangezogen. Das Mädchen tat ihr leid, und ihr Schicksal beschäftigte sie. Unter der Grossmutter strengem Wesen war das junge Ding ganz verschüchtert, aber langsam besiegte Evas Freundlichkeit die ängstliche Scheu und schliesslich hing sie mit schwärmerischer Liebe an ihr. Bertha besorgte das Kind bald so gut, dass Eva sie ganz dazu engagierte. Ihre eigene Zeit war kostbarer; was sie dem Mädchen zahlte, nahm sie ein und noch das Doppelte dazu. Jetzt, im ersten Jahr, die rein körperliche Pflege konnte wohl auch eine fremde, bezahlte Kraft versehen.
Eva hatte auf Heinz' Rat in mehreren Zeitungen Inserate aufgegeben. Sie erhielt auch einige Arbeiten, meist von Geschäften, in denen ein Teil des Personals Ferien hatte und wo nun in einigen Fällen die Arbeitskräfte nicht ausreichten. Ab und zu vertrat sie auch stunden- oder halbtageweise in einem Bureau.
Das erste Mal war ihr das schrecklich gewesen. Die dreisten und musternden Blicke ihrer Kollegen und Kolleginnen, die Unsicherheit ihrerseits, ihre Unkenntnis von manchen geschäftlichen Einrichtungen, – am liebsten wäre sie davongelaufen.
Eines Tages war sie in dem Bureau einer Aktiengesellschaft beschäftigt. Sie hatte eine erkrankte Dame zu vertreten, Stenogramme aufzunehmen, die sie zu Hause übertragen sollte. Mit Wohlgefallen musterte sie der Direktor, ein untersetzter ältlicher Herr mit weissem Bart, tadellos elegant. Ebenso war das ganze Kontor äusserst geschmackvoll, ja luxuriös eingerichtet. Eva fühlte sich angenehm davon berührt. Auch das vereinbarte Honorar war sehr günstig. Mit Freude machte sie sich an die Arbeit und schrieb eifrig in ihr kleines Heft. Sie war mit ganzer Aufmerksamkeit dabei, denn noch musste sie alle Gedanken zusammennehmen, um dem Diktat folgen zu können und Wort für Wort festzuhalten.
Mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen blickte sie am Schluss in die Höhe. Einen flotten geschlungenen Strich noch darunter – fertig war's. Mit einem leisen »Ah!« dehnte sie sich etwas. Sie hatte über eine Stunde angestrengt tief über die Schreiberei gebückt gesessen. Der Direktor verfolgte interessiert ihre Bewegungen. Donnerwetter! Das war mal eine, frisch und flott, und dazu diese Formen, diese süsse Fratze.
»Sind Sie aus Berlin?« frug er. »Gewiss sind Sie noch nicht lange hier?«
»Nein, erst seit dreiviertel Jahr,« sagte Eva, sich langsam erhebend.
»Nicht wahr, Weidmann, Fräulein Weidmann? – Ihr Herr Papa verzieht Sie gewiss recht?«
»Nein, ich bin allein.«
Der Herr pfiff leise vor sich hin. Interessiert betrachtete er sie nochmals. Allein! Aha! Laut sagte er:
»O, das tut mir leid. Gewiss fühlen Sie sich da oft recht einsam, Fräulein ... Fräulein ... wie ist doch Ihr Vorname?«
Erstaunt blieb sie stehen. Was ging ihn das an?
»Eva,« antwortete sie kurz.
Er lachte laut auf.
»Eva! Das ist ja famos, ein richtiges kleines Evchen! Sie machen Ihrer Stammutter alle Ehre.«
Sie errötete unwillig, machte dann eine Verbeugung und wandte sich zur Tür. Er erhaschte ihren Arm:
»Ach, tun Sie doch nicht so, Kleine. Ich mein's doch gut mit Ihnen. Sie wollen mir doch nicht weissmachen, dass man so 'nen Ring« – er deutete auf den Brillant an ihrem Finger – »mit der Schreibmaschine verdient. Nee, so dumm bin ich nich.«
Entsetzt machte sich Eva los und stürmte hinaus. »Dummes Ding!« hörte sie noch hinter sich, »sich so anzustellen.«
Zu Hause angekommen, riss sie den Ring ab und warf ihn in einen Kasten. Auch das noch! Wie konnte man das wagen? Sah sie denn so aus, forderte sie dazu heraus? Schon auf der Strasse, wie oft war sie da angesprochen worden, wenn sie allein ausging. Sie schämte sich dann immer schrecklich und rannte, so sehr sie konnte. Aber dann hörte sie hinter sich erst recht Bemerkungen und Lachen, Witze, die ihr das Blut in die Wangen trieben.
Mutlos trat sie an den Wagen der Kleinen. Die schlief ruhig, die Fäustchen an die rosigen Wangen gepresst. Lichte blonde Löckchen umringelten das runde Kindergesicht. »Armes Ding,« murmelte sie leise, »dass du auch gerade ein Mädel sein musst! Na, warte nur, bis der Kampf für dich losgeht, wird deine Mutter wohl noch ein Eckchen gescheiter sein und sich besser zurechtfinden. Du sollst es mal nicht so schwer haben.«
*
Der Sommer war entsetzlich heiss. Alles, was es irgend konnte, hatte der Stadt den Rücken gekehrt, um im Freien auf dem Lande oder an der See Kühlung zu suchen. Auch Dr. Wolfs hatten auf einige Wochen Berlin verlassen. Es war tote Zeit überall, die einzige im Jahre, wo sich Heinz einmal von seiner Redaktion losmachen konnte. So waren sie jetzt mit Bubi in einem pommerschen Fischerdorf, und nur seltene und meist flüchtige Nachrichten bekam Eva von ihnen. Sie fühlte sich schrecklich mutlos. Seit ihrem neulichen Erlebnis wagte sie sich kaum hinaus auf die Strasse, sah nicht mehr nach den in der Zeitung ausgeschriebenen Arbeiten und Angeboten. Und sonst kamen keine Aufträge. Sie sagte sich wohl, dass es an der Jahreszeit läge, dass das zahlungskräftige Publikum in den Bädern weilte, dass deshalb alles stockte, – aller Trostgründe ungeachtet kam eine tiefe Mutlosigkeit über sie.
Ab und zu nähte sie etwas für die Kleine. Aber es war so unnütz. Mieze hatte ihr die vielen verwachsenen Sachen von Bubi gegeben, es war alles mehr wie reichlich vorhanden. Was sollte sie sich darum mühen? Es hatte gar keinen Zweck. Eva legte müde die heissen Hände in den Schoss. Trotz allen Lüftens war es unerträglich heiss in den beiden engen Räumen, in der staubigen, sonnendurchglühten Strasse. Es war ihr ein Gefühl, als müsste sie ersticken.
Sie schloss die Augen und dachte zurück an das kleine Haus im Grünen, an den schattigen Garten. Welch köstliche grüne Dämmerung herrschte unter dem alten grossen Nussbaum ... War sie es denn wirklich, die jetzt hier sass? Träumte sie nicht bloss? Oder war das andere nur ein Traum gewesen? Es lag alles so weit zurück in ihren Gedanken. Ihr war es, als seien Jahre darüber hingerauscht, seit sie in der kleinen ruhigen Strasse geweilt, wo das Gras zwischen dem Pflaster wuchs, Jahrzehnte, seit sie in dem stillen Garten mit seinen schnurgeraden Beeten gesessen hatte im Duft der Rosen und Levkojen, wo die Amsel flötete und die Finken ihre lustigen Lieder zwitscherten. Sie sah den runden Gartentisch vor sich mit dem Kaffeegeschirr, den Vater, die Mutter, Schwester ...
Ein tiefes Heimweh überkam sie. Eine Sehnsucht schmerzlich und unbezwingbar. Jetzt fühlte sie erst, wie tief sie dort festgewurzelt war. – Wie mochte es allen gehen? Hatten sie sie ganz ausgetilgt aus ihrer Mitte? Hatten sie alle den Stab über sie gebrochen, dass keine Antwort von dort kam, kein Lebenszeichen. Vor vierzehn Tagen hatte sie selbst noch geschrieben, hatte gebeten um ein Wort. Nur wie es den Eltern ging, wollte sie wissen, ob ihnen die Reise gut bekommen war. Natürlich verurteilten sie alle, schonungslos, unerbittlich, das wusste sie. Aber wie konnte das mit einemmal jede Teilnahme ausschliessen, jedes Band zwischen ihnen zerreissen, als hätten sie sich nie gekannt? Das Interesse an dem gegenseitigen Ergehen konnte nicht so mit einem Male erlöschen, das war doch unmöglich. –
Ein scharfer Zug an der Klingel riss sie aus ihren Gedanken. Da noch einer ... sie eilte hinaus. Gewiss war Frau Renner ausgegangen. Bertha spielte im Schlafzimmer mit dem Kind, sie konnte die Glocke nicht hören. Rasch öffnete sie. Vom Halbdunkel der offenen Vorsaaltür hob sich, scharf umrissen vom Licht des Treppenhauses, eine schwarze, lange Gestalt ab.
»Wohnt hier Eva Weidmann?«
Sie musste sich an der Kommode halten. Das war ihres Schwagers Stimme.
»Ernst, du?« Halb freudig, halb gedrückt kam es heraus. Sie hatte ihren Schwager nie sehr leiden können, seine ganze Art widerstrebte ihrem Empfinden. Und nun kam er zu ihr, als erster von zu Hause! Im stillen bat sie ihm manches harte Urteil ab, sie hatte ihn doch wohl verkannt. Einladend öffnete sie die Tür zu ihrem Zimmer und hielt ihm die Hand hin. Er übersah sie. Stumm trat er ein.
Eva hatte sich inzwischen gefasst.
»Wie gut von dir, dass du kommst! Geht es allen zu Hause gut?« Sie nahm ihm den Hut aus der Hand.
»Setz dich, bitte.«
Der Geistliche liess sich schwer auf einen Stuhl nieder, sah sich prüfend um.
»Wie soll es gehen?« sagte er ernst, »wenn die Tochter Schande und Unehre über das graue Haupt der alten Eltern bringt. Wenn sie heimlich davonläuft, sich versteckt in ihrer Sünde und Schande. Eva, Eva, wie konntest du uns das antun?« Seine Hand fuhr nervös durch das Haar. »Hast du denn nicht an uns gedacht, an mich, meine Stellung? Und ihn hielten wir alle für einen Ehrenmann. – Wie konntest du so alles vergessen, was dir gelehrt war von Jugend auf, so wider alles göttliche Gebot dich versündigen? Wahrlich, es gibt keine Entschuldigung für dich. Bist du doch aufgewachsen, behütet und beschützt vor allem Uebel, die Deinen wandeln Gott vor Augen und im Herzen. Womit haben sie das um dich verdient? Des Herrn Hand ruht schwer auf uns.« – Er wischte sich den Schweiss von der Stirn und sah Eva lange an. »Was hast du zu deiner Entschuldigung zu sagen?«
Eva schwieg.
»Es gibt auch keine Entschuldigung. Gibt nichts, das die Wunde heilen könnte, die du mit frevelnder Hand geschlagen. Du hast die kargen Lebenstage des alten Vaters verkürzt, der Mutter Haar gebleicht. Eva, wie willst du bloss leben können mit diesem bitteren Stachel im Herzen? Armes, unglückliches, missratenes Kind ...« Er brach ab, seine Worte rührten ihn. »Und er,« – fuhr er dann auf – »dieser Schurke, dieser Illner. Dahingefahren ist er mitten in seiner Sünde. Mitten auf seinem bösen Wege hat ihn die Hand des Herrn erreicht. So gehe es allen denen, die des Herrn Gebote mit Füssen treten. Gott ist gerecht, er lässt sich nicht spotten!«
Eva fuhr zusammen. »Illner?« fragte sie leise.
»Nun ja, Illner, dieser schändliche Verführer und Verräter. – Und verstockten Geistes ist er geblieben bis zuletzt, ohne Einsicht seines tiefen Fehltrittes, ohne Busse zu tun für seine Schuld. Wir haben gesucht und geforscht in seiner Hinterlassenschaft. Kein Wort, keine Silbe, – nicht ein Gedanke der Reue ist ihm gekommen, der Pflicht, gut zu machen, soweit es in seiner menschlichen Kraft stand! Dieser Elende, dieser ... Keine Bestimmung für dich und das Kind hat er getroffen, nichts habt ihr, nichts! Recht- und ehrlos hat er euch gemacht, dich und sein Fleisch und Blut über das Grab hinaus ...«
Sein Fleisch und Blut?
Eva verstand endlich. Es zog fast wie ein Lächeln um ihre Lippen. Stolz richtete sie sich auf:
»Illner ist nicht der Vater meines Kindes.«
Er starrte sie verständnislos an. Sie wiederholte ihre Worte nochmals.
»Nein, Ernst, du irrst, er ist nicht der Vater. Er hat keine Schuld in eurem Sinne.«
Der Mann musste ihr glauben, er hörte, dass sie die Wahrheit sprach. Nun aber hielt er sich nicht länger zurück. Die masslosesten Schmähungen warf er ihr ins Gesicht, dicht trat er an sie heran, fasste sie bei den Schultern und schüttelte sie. Ihre eisige Ruhe brachte ihm das Blut in Wallung, empörte ihn bis zur Raserei, dass er sie hätte niederschlagen mögen.
»Mässige dich, du vergisst dich!« wehrte sie ihm endlich. – Der ganze Strom seiner Worte war achtlos an ihr abgeglitten. Aengstlich horchte sie auf das leise Weinen des Kindes nebenan, das Bertha zu beruhigen suchte. Da kam ihr zum Bewusstsein, sie waren ja nicht allein, das Mädchen sollte solche Worte nicht hören; sie schämte sich für ihren Schwager. Rasch öffnete sie die Tür.
»Gib mir die Kleine, Bertha, geh einstweilen in die Küche, bis ich dich rufe.«
Mit ruhiger Hand nahm sie das Kind aus dem Wagen, zog ihm ein frisches leinenes Käppchen an und schlug den kleinen Körper in eine leichte Decke. Es sorgfältig im Arm haltend, trat sie endlich in das Wohnzimmer zurück. Pastor Ludwig hatte sich inzwischen etwas gefasst. Er stand ruhig am Fenster und trommelte mit den Fingern gegen die Scheiben. Er wandte den Kopf nicht nach ihr, schien das Kind nicht zu sehen. Eva war ihm völlig unverständlich. Dass sie nicht weinte und bat, sich nicht entschuldigte, nicht jammerte und klagte! Ihre Ruhe empörte ihn und nahm ihm dabei jegliche Sicherheit. Er wusste eigentlich nicht, was er ihr sagen sollte, nicht, wozu er hergekommen war. Er hatte es sich anders gedacht. Im Staube sollte sie vor ihm liegen, dann wollte er sie retten, aufrichten, trösten ... In der Gemeinde waren ihm doch schon ähnliche Fälle vorgekommen, da wusste er immer, was tun. Aber hier? – Schroff wandte er sich endlich herum:
»Also da es Illner nicht war, geruhst du mir wenigstens nun den Schurken zu nennen?«
»Nein.«
»Was, nein? Ich will dir zu deinem Rechte verhelfen. Gut machen soll er vor Gott und Menschen, dieser ... dieser ...«
Er suchte nach einem beleidigenden Wort. Eva unterbrach ihn schroff:
»Lass das sein, ich habe nicht um Hilfe gebeten. Das ist allein meine Sache. Den Namen erfährst du nicht.«
»Nicht?«
»Es tut mir leid, aber ich kann ihn nicht nennen.«
»Kannst nicht? Das kannst du nicht? Du willst nicht, – oder weisst du ihn etwa selbst nicht?« fügte er lauernd hinzu. »Das wird ja immer besser, du – du ... Dirne!«
»Was geht es dich an?« unterbrach sie ihn barsch. »Was willst du denn? Bist du nur gekommen, mich zu beschimpfen und zu schmähen, mir meine Ruhe zu stören? Dann will ich dir gleich sagen, ich brauche dich nicht, dich nicht und euch alle nicht und eure sogenannte Liebe. Ich weiss zu genau, dass ihr mich nicht verstehen könnt. Auch wenn ihr wolltet, – aber ihr wollt nicht einmal. Ich kenne zu genau alles, was ihr denkt und fühlt, um mich da irgend welchen Illusionen hinzugeben. – Als ich von euch ging wusste ich, dass es ein Abschied für ewig war, dass keine Brücke mehr von euch zu mir führte, ich wusste es und habe darunter gelitten, mehr gelitten, als ich je für möglich gehalten hätte. – Aber nun ist es vorbei. – Und wenn du nur gekommen bist, um das letzte Band zwischen uns zu zerschneiden, – du hast deine Arbeit gut getan, ich danke dir. Und nun kannst du gehen. Wir haben uns nichts weiter zu sagen, und jedes Zusammensein ist zwecklos.«
»Schmähen nennst du meinen gerechten Zorn? Du, die Verkörperung alles Bösen, die Schmach und Schande über die Familie gebracht hat. Versetze dich doch bloss in unsere Lage. Denke an deine alten Eltern, die dich auf den Händen getragen, uns, deine Geschwister, die wir dir immer in Liebe beigestanden haben. Wird dir denn nicht angst und bange vor Gottes Zorn? Wie ist dir bloss, zu Mute, wenn du das arme Wesen ansiehst, diese Frucht der Sünde, auf der der Fluch Gottes ruht bis ins dritte und vierte Glied. In Sünden empfangen und geboren! Wie willst du das je verantworten können! Auf deinen Knieen müsstest du im Staube rutschen, Asche auf dein Haupt tun, dich an die Brust schlagen und stammeln: Herr, sei mir Sünder gnädig! – Und unser Herr in seiner unbegrenzten Gnade und Barmherzigkeit, – glaube mir, – er lässt sich nicht umsonst suchen. Verzage nicht. Komme nur unermüdlich immer wieder zu ihm, in aufrichtiger Reue und Busse und demütige dich unter seine Hand. Wahrlich, es wird der, der die grosse Sünderin zu sich erhob, auch dich nicht zurückweisen! – Und auch dein Kind, dein Kind, wird er in Gnaden aufnehmen. Er wird alles das auch an ihm erfüllen, was er in seiner heiligen Taufe denen verspricht, die an seine Vaterschaft glauben und ihn ehrlichen Herzens suchen. In seiner unbegreiflichen Langmut und Liebe erfüllt er es ohne Ansehen der Person.«
Die Stimme des Geistlichen war immer lauter und kraftvoller geworden, er berauschte sich an seinen eigenen Worten. Als höre seine ganze Gemeinde lautlos andächtig zu, nicht nur diese eine, die da so unbeweglich vor ihm sass. Es störte ihn nicht, dass sie kein Wort sagte, nichts erwiderte, er hatte seine Macht so oft erprobt und war von der Kanzel her gewöhnt, dass ihm niemand dreinreden konnte, niemand ihm widersprechen.
»Und auch wir,« fuhr er nun nach einer kurzen Pause weiter fort, »auch wir wollen dir, der gefallenen Schwester in Liebe unsere Hände entgegenstrecken. Wie unrecht tust du uns in deinen Gedanken. Wir wollen dich nicht ganz sinken lassen, dir helfen, den schmalen Weg zu wandeln, den Dornenweg, der allein zu ihm führt. Denke nicht, dass ich nur Worte habe, ich bringe auch tätige Hilfe. Ich habe schon Schritte für dich getan, ehe ich zu dir kam. Der Vorstand des hiesigen Magdalenenheims ist ein Studienfreund von mir. Ihm habe ich mich in meines Herzens Not anvertraut und der Herr gab, dass er mir helfen konnte. Er hat mir eine Stelle für dich angeboten. In Lazara, dem Heim, das die ewig sorgende Liebe für die Krüppel und Elendsten unserer Schwestern geschaffen hat, ist eine Stelle als Pflegerin zu besetzen. Der Posten ist schwer, sehr schwer, das sage ich dir offen, ich kenne die Anstalt. Aber der Herr, der dir so sichtlich das Amt gibt, wird dir helfen. Es sind einige Schwestern dort, die die Oberleitung haben, an ihnen wirst du Halt und Stütze haben. Sie wandeln alle Gott vor Augen und im Herzen. Nicht weit davon ist das Kinderheim, die Krippe, unter gleicher Oberleitung. Dort wird dein Kind aufwachsen unter der Zucht des Herrn und alles Böse in ihm wird frühzeitig bekämpft werden. An freien Tagen kannst du es ab und zu sehen. Niemand wird von deinem Fehltritt erfahren, das hat mir Pastor Eisner bestimmt versprochen. Und für alle in deiner Heimat hast du dich der Krankenpflege gewidmet, – das ist nichts Auffälliges und tun manche Töchter aus guter Familie. Pastor Eisner wird uns von dir berichten von Zeit zu Zeit, und auch du wirst den Eltern wieder schreiben dürfen. Vielleicht werden sie dir antworten, werden sie dir voll und ganz verzeihen und dich wieder ihr Kind nennen. Natürlich hängt das von deinem Verhalten in Lazara ab,« – fügte er rasch hinzu.
Dann strich er sich das Haar von der Stirn zurück. Er hatte sich warm geredet. Da Eva sich nicht rührte, fuhr er in geschäftlichem Tone fort:
»Heute in vierzehn Tagen kannst du bereits eintreten. Schwester Martha wird dich abholen. Bis dahin ist wohl Zeit, hier alles zu ordnen. Sie wird um drei nachmittags kommen; wenn sie irgend welche Abhaltung bekommt, benachrichtigt sie dich; sonst bleibt es dabei. Deinen Taufschein, Impfschein und dergleichen schicke ich ein, fehlt nur noch der Taufschein des Kindes. Den kannst du selbst ihr zuschicken, hier ist die Adresse, die auch deine künftige sein wird.« Er zog eine Visitenkarte aus der Tasche und hielt sie Eva hin.
Diese stiess die Karte rauh zurück, dass sie zu Boden flatterte. Dann erhob sie sich stürmisch und trat einen Schritt auf ihren Schwager zu.
»Bist du zu Ende? Ja? Nun, dann erlaubst du mir wohl, dass ich dir bestens für deine guten Absichten mit mir danke. Aber ich habe vor, meinen eigenen Weg zu gehen, den, den mir mein Herz und Gewissen vorschreibt, und beide sagen mir, dass ich mein Kind nicht in fremde Hände geben soll.« – Leise, zärtlich, strich sie über das kleine Köpfchen, das jetzt an ihrer Schulter ruhte. Unbekümmert um das erregte Reden war das Kind fest eingeschlafen. – »Ich weiss wohl, dass es für mich schwer ist, dass sich auch für meine Tochter Unzuträglichkeiten, mehr noch, schwere und bittere Stunden herleiten werden aus den gesellschaftlichen, momentan gültigen menschlichen Satzungen. Ich sage menschlichen, denn einen höheren Wert messe ich ihnen nicht bei. – Und wenn es dich beruhigt, gestehe ich zu, dass hierin auch für mich eine Art Strafe, in eurem Sinne, eingeschlossen liegt. Aber ich will dieser nicht feige aus dem Wege gehen, will mich nicht irgendwo unter dem Mantel der Kirche und Wohltätigkeit verkriechen und mein Kind verleugnen. Ich will und werde nicht das, was ich getan habe aus freiem Willen und in freiem Entschluss verbergen und verstecken, will nicht direkt oder indirekt in eure Lügen mit einstimmen und mich dafür peinigen lassen mit täglichen liebevollen Nadelstichen, die mich martern, bis ich müde bin und wohl gar denke, dass ihr, ihr alle recht habt. Nein, nie. Ich weiss ja wie es ist, wenn man von allen Seiten getrieben wird, dahin zu gehen, wohin man nicht will. Wie sich die ganze Natur dagegen sträubt, wie man rechtlos verschachert und verhandelt wird, wie über den eigenen Kopf hinweg beschlossen wird über das, was man dann freiwillig tut, – freiwillig nach aussen, im Innern gezerrt und getrieben durch euren Willen, durch alle Mittel, die euch zu Gebote stehen! Immer unter der Flagge der Liebe, natürlich! Aber Sklaven, ehr- und rechtlose Sklaven sind wir, wir Töchter der Familien, der glücklichen Familien! Unser Los ist entweder vollster geistiger und individueller Untergang aus Kindesliebe, Ersticken in der traditionellen Familienluft, – oder aber mein Schicksal, ein Freimachen um jeden Preis.
Und vor ähnlichem will und werde ich mein Kind bewahren, ich werde es verteidigen bis zum letzten Atemzug vor euch und eurer Liebe. Es soll ihm der Weg seiner Mutter erspart bleiben. All die Enttäuschungen, alle Kämpfe, die ich durchgemacht habe. Frei und stark soll es sich entwickeln dürfen.
Unsere Wege trennen sich für immer, ich weiss das. Lass uns ohne Groll scheiden, – auch wenn wir uns nicht verstehen können. Denn ich weiss jetzt, das ist ausgeschlossen. Als du kamst, ich will es nicht leugnen, da freute ich mich innig. Ich glaubte einen Augenblick, wenn auch ein volles Verstehen meiner Handlungsweise unmöglich wäre, es gäbe doch ein Verstehenwollen, die Absicht, auch mich zu Worte kommen zu lassen, mich in Frieden gewähren zu lassen, gegenseitiges Achten. Aber je länger du bei mir bist, desto mehr habe ich gesehen, dass es keine Brücke gibt zwischen dir und mir, euch und uns beiden.« Wieder strich sie mit bebender Hand über das Köpfchen der Kleinen. – »Und nun leb wohl! – Sage den Eltern,« ihre Stimme zitterte, – »sage ihnen, dass ich ihrer wert bin trotz allem und allem. Vielleicht dass es doch ein Eckchen in ihren Herzen gibt, wo sie das glauben, und dass es ihnen eine Beruhigung und einen kargen Trost bietet. Ich arbeite. Schon jetzt verdiene ich genug, um leben zu können. Und es wird immer besser werden. Nach dieser Seite beruhige sie, bitte, falls sie sich darum sorgen sollten. Dir danke ich, dass du gekommen, – ich weiss, es war gut gemeint auch deinerseits. Leb wohl!«
Sie hielt dem Schwager die Hand hin, die er wieder übersah. Sprachlos starrte er sie an, dann hob er die zu Boden gefallene Karte der Lazaraschwester auf, raffte seinen Hut vom Tische und stürzte hinaus, ohne Gruss, ohne Blick für sie. Eva sah ihm mit grossen Augen und einem leichten schmerzlich ironischen Lächeln um den Mund nach. Sobald sie die Tür hinter der langen hageren Gestalt geschlossen hatte, legte sie das Kind leise aufs Sofa, stürzte davor in die Knie und barg ihr Gesicht in den Kissen. Nun war auch das überstanden, nun war sie allein. Sie fühlte, das Schwerste lag hinter ihr. Und sie war zufrieden wie alles gekommen, sie hatte gehandelt, wie sie musste.