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VII.

Endlich ein schriller Pfiff. Keuchend und prustend setzte sich die Maschine in Bewegung, der Stoss pflanzte sich fort durch die lange Wagenreihe, ein Schwanken ging durch den Eisenkoloss; erst scheinbar widerwillig, dann immer glatter und rascher drehten sich die Räder, endlich, sauste der Schnellzug wie eine dem Käfig entwichene Riesenschlange in toller Lust durch die Landschaft dahin, unaufhaltsam, weiter und weiter, als jage er dem grössten Glück, der Freiheit entgegen.

Eva atmete auf. Das Abschiednehmen war überstanden. So schwer hatte sie es sich doch nicht vorgestellt. Sie meinte, das Herz sollte ihr brechen, als sie den Eltern Lebewohl sagte. Die letzten zitternden Küsse der alten Leute brannten ihr auf den Lippen.

Jetzt musste sie vorwärts, es gab kein Zurück mehr, kein Rückwärtsschauen. Das änderte nichts, es nahm ihr nur den Mut, machte sie schlaff und weich. Wenn sie leben wollte, brauchte sie all ihre Kraft und durfte sich nicht zersplittern. Nur nichts halb tun.

Sie sah sich im Coupé um. Sie war allein. Hastig öffnete sie ein paar Knöpfe der Taille und zog ein Briefkuvert heraus: das Geld, das sie gestern auf der Bank erhoben hatte. Sie zählte. Eins, – zwei, – drei Tausendmarkscheine, – der Erlös des Brillantkolliers. Das Geld war auf ihren Namen in ein Bankbuch eingetragen, und da man sie kannte, hatte man es ihr anstandslos ausgezahlt. Die übrige Summe für Brosche, Ohrringe und Armband hatten die Eltern auf ihr Bitten behalten, um die mancherlei Ausgaben, die die so traurig vereitelte Hochzeit mit sich gebracht, zu decken. Den Rest sollten sie zu einer Erholungsreise verwenden, und dafür im Frühjahr nach dem Süden fahren, im Frühjahr, der dem Papa immer so zu schaffen machte mit seinem Husten. Sie nickte vergnügt vor sich hin. Nun hatte sie ihnen doch einen so lange gehegten Wunsch erfüllen können, und sicherlich würde es beiden so gut tun, ein Ausruhen für sie sein.

Mechanisch spielte sie mit den knisternden Scheinen. War das nun eigentlich viel? Wie lange konnte man davon leben? Ein Jahr? Oder mehr? Es erschien ihr, die nie Geld in Händen gehabt, eine Riesensumme. Aber was wusste sie denn, was das Leben kostete! Es musste doch viel, sehr viel Geld dazu nötig sein, denn immer war alles zu teuer, immer langte das Geld für dies oder jenes nicht, war das praktischer, haltbarer, billiger und musste deshalb gewählt werden. Dass sie auch so gar nichts wusste und konnte. Aber das hätte sie doch lernen müssen. Ja, sie war wirklich aufgewachsen wie die Lilien auf dem Felde, wie einmal Lottes Mann scherzend gesagt hatte. Und in allen Familien, die sie kannte, war es ebenso.

Aber nun? Es war ihr mit einem Male, als fühlte sie gar keinen Boden mehr unter den Füssen. Ja, Mieze! Die blieb ihr noch. Die wusste gewiss alles und konnte ihr raten. Aber wenn die sie nicht verstand, sie verurteilte, – nichts mit ihr zu tun haben wollte, weil sie sie verachtete! Sie richtete sich gerade in die Höhe und sah starr zum Fenster hinaus. Nun ja, dann war es eben zu Ende ... Dann musste sie sich irgendwohin verkriechen bis der Tod kam, es sterben ja so viele Menschen, warum sollte sie es nicht fertig bringen, er würde sich nicht umsonst rufen lassen.

Sie wurde aus ihrem Grübeln aufgerüttelt, der Zug hielt an einer grösseren Station. Hastig schob sie die Scheine ins Kuvert und versteckte sie wieder in ihrem Kleide. Dann legte sie sich in die Kissen zurück, und versank in traumloses Hindämmern.

Es stiegen Reisende ein, auf einer anderen Station kamen noch mehr hinzu, sie kümmerte sich um nichts. Langsam verstrich die Zeit, unaufhaltsam näherte man sich der Grossstadt. Der warnende, angstvoll kreischende Pfiff der Lokomotive ertönte fast unausgesetzt, stossend wurde der Zug bei den Uebergängen von einem Geleis auf das andere geworfen, schüttelte und rollte fauchend und schnaubend dahin, immer langsamer und langsamer. In den Vororten wurde der Verkehr lebhafter, die Waggons füllten sich mit einer lärmenden, hastenden Menge, das Berliner Idiom herrschte vor, Bemerkungen flogen hin und her, stinkender Qualm und Rauch drang in die Wagen, dass man eilend die Fenster schliessen musste. Die grünen Wiesen und Wälder, die graue weite Ebene wurde von hohen Häuserreihen verdrängt, die ihre schmutzigen verräucherten Rückseiten, die Höfe und Balkons an den Küchen, wo allerlei Wäsche und Lappen hingen, dem Zug zukehrten, das einfache vornehme Gepräge der ganzen Fahrt wich einem eklen vulgären Etwas: der Grossstadt.

Eva war nun doch aufmerksam geworden. Sie empfand die Aenderung instinktiv und begann ihre Umgebung mit Interesse zu betrachten. Ein leises Grauen und Frösteln überkam sie. Es war alles so anders, so fremd. Aber es regte sie doch merkwürdig an, diese ganze neue Welt, in der sie leben wollte und musste, die nun die ihre werden sollte.

Da fuhr der Zug in die grosse Bahnhofshalle. Eilig raffte sie ihre Sachen zusammen und verliess als erste den Wagen. Sie sah sich noch suchend und halb benommen in dem Gewühl um, da legten sich von hinten zwei Arme um ihre Taille, sie fühlte einen herzlichen Kuss auf der Wange.

»Eva, Liebling, da bist du ja.«

»Mieze!«

Es klang mehr wie ein Aufschluchzen. Einen Moment lehnte sich Eva zitternd an die Freundin, dann machte sie sich erregt los:

»Warte erst, Mieze, sei nicht so gut zu mir. Wenn es dir dann leid tut, du es bereust, – ich, ich hielte das nicht aus.«

»Aber was denn? Was hast du denn? Gott, Eva, bist du komisch! Ich freue mich doch so rasend, dass du kommst! Aber, du hast recht,« fuhr sie fort, als sie Eva einen Moment angesehen hatte, »Gefühlsergüsse gehören nicht auf den Bahnhof, wir haben ja noch viel Zeit dazu vor uns. Und nun gib mir deinen Gepäckzettel, dass wir bald zu Hause sind.«

Harmlos und munter plauderte die junge Frau weiter von allem möglichen, so dass Eva sich bald gefasst hatte und zutraulich einstimmte, fragte, lachte und die erste Erregung und Befangenheit überwand. Als die Droschke vor einem hohen Hause in der Carlstrasse hielt, fühlte sie sich schon ganz heimisch in der neuen Umgebung und die Ereignisse der letzten Wochen und Monate lagen wie ein langer wüster Traum hinter ihr. Alles, was die junge Frau sagte, klang so frisch, sie war in einer so glücklichen heiteren Stimmung, dass Eva gar nicht anders konnte als auch so empfinden und sich gern und willig dem Zauber überliess, der von der Freundin ausströmte.

»Liebling, bitte, nun etwas leise!« mahnte diese jetzt, »du musst wissen Bubi schläft, und – gefährlich ist's den Leu zu wecken! Er hat eine Stimme, zum Erschrecken klingt's. Und Heinz hat ihn bewacht die ganze Zeit. Er wird uns mit Sehnsucht erwartet haben.«

Der Hausherr, Dr. Heinrich Wolf, von allen seinen Bekannten einfach »Heinz« genannt, empfing sie mit stürmischer Freude. Er war ein grosser, gut gewachsener, kräftiger Mann, mit einem offenen Kindergesicht und sehr impulsivem, etwas burschikosem Wesen. Alles an ihm strahlte von Leben, Freude und Kraft, so dass ihm niemand böse sein konnte und jeder auch seine gelegentlichen kleinen Grobheiten und Wahrheiten gern in Kauf nahm.

Er machte gleich Brüderschaft mit Eva und erzählte ihr mit Stolz, was er in der letzten Stunde alles geleistet habe. Er hatte Bubis Schlaf überwacht, den Braten begossen, die Kartoffeln angesetzt, die Suppe war ihm zwar übergelaufen, »aber weisst du, Eva, ich habe Leitungswasser nachgefüllt, – das tut's auch. Sag's nur Mieze nicht!«

Eva musste hellauf lachen, als er ihr solches Geständnis machte. Das also sollte der als modern geschmähte, gefährliche, grosse Mann und Schriftsteller sein, dessen Sachen man gar nicht lesen durfte? So ein lieber, rührender Mensch! Unwillkürlich verglich sie ihn in Gedanken mit ihrem Schwager und ihr Gesicht wurde immer erstaunter und erstaunter.

Er verstand sie falsch.

»Ach so, du wunderst dich wohl, dass ich Köchin, Kinderfrau und Stubenmädchen in einer Person bin. Viel auf einmal! Aber siehst du, unsere Donna ist wirklich im Krankenhaus, – meine Depesche stimmte schon so ziemlich, – gar so sehr flunkere ich doch nicht, und meine kleine Frau freute sich so, dich abzuholen, na, da haben wir eben mal die Rollen getauscht. Man kann nicht vielseitig genug sein, Evchen. Du wirst sehen, ich habe famos gekocht.«

Wirklich war alles tadellos und Eva liess sich gern auf Heinz' Bitten noch einen zweiten Teller Suppe à la Dr. Wolf geben, wofür ihr Heinz lachend zutrank. Es war eine kleine lustige Tafelrunde und unter allseitigem Bedauern musste der Hausherr aufbrechen, da ihn dringende Arbeit in seinem Bureau erwartete.

Eva fühlte sich bald ganz zu Hause.

Die Wohnung, die das Ehepaar innehatte, bestand nur aus wenig Zimmern, aber alle atmeten die gleiche Ruhe und lebenfreudige Heiterkeit, die sich im Wesen ihrer Bewohner aussprach. Die Möbel waren in einfachen geraden Linien gehalten, ohne unnützen Zierrat, dafür von auserlesen schönem Holz und in warmen bunten Farben; schwere dunkle Stoffe, grosse weiche Teppiche, Polstermöbel in den verschiedensten Formen, gleichsam jedem Körper sich anschmiegend, standen in harmonischem Durcheinander herum und luden zum gemütlichen Plaudern und Nichtstun ein. An den Wänden auf den einfarbigen Tapeten einige wenige Radierungen nach Böcklin, Thoma und Stuck, einzelne schöne Porzellane, eine Bronze von Meunier, sonst nichts.

»Das ist mein Wohnzimmer und unser Salon zugleich,« sagte Mieze strahlend. »Ich habe mir das alles selbst erarbeitet, jedes Stück einzeln verdient! Ach, war das 'ne Wonne, wie wir uns das alles zusammen ausgesucht haben, Heinz und ich. Aber nun ist's auch gemütlich, nicht Evchen?«

Eva fand keine Worte. Sie nickte stumm. Dass es so etwas gab! Soviel Schönheit und Harmonie, nach der sie sich immer gesehnt, die sie nicht für möglich gehalten. Und nun war es rund um sie, sie mitten darin. Es konnte ja nicht dauern, es war zu schön. – Ein Paradies, aus dem sie fort musste, sicher bald fort.

Mit einem Male fiel ihr wieder ein, was sie zu beichten hatte. Sie musste es gleich tun, jetzt gleich.

Sie besichtigten noch das Schlaf- und Kinderzimmer. Beide waren ganz hell und licht, nach englischer Art eingerichtete. Nun waren sie nach dem Salon zurückgekehrt. Der Wagen mit dem leise lallenden und mit seinen Gummipuppen spielenden Kinde stand im Esszimmer, sie konnten ihn von ihrem Platz am Ofen aus sehen. Es war schon sehr dämmerig, ein trüber Dezembertag. –

Eva glitt von ihrem Stuhl herab, kniete neben dem Sitz der Freundin nieder, und fasste mit den bebenden Fingern deren Hand.

Sie erzählte. Erst gleichsam suchend und tastend nach Worten, dann immer fliessender, leidenschaftlicher, zum Schluss sich überstürzend in wilder Hast. Sie schrie es fast laut hinaus: »Und nun das Kind!« Es lag eine Frage, Bitte, höchste Verzweiflung und Trotz zugleich in diesem kurzen Ausruf. Die Hand in der ihren zuckte unwillkürlich zurück. Eva wurde blass bis in die Lippen. Sie wollte sich losreissen und aufstehen. Aber da drückte sie die Freundin sanft nieder und nahm ihren Kopf in beide Hände:

»Versteh mich nicht falsch, Eva, ich erschrak aber zu sehr. Du ahnst ja nicht entfernt, was du auf dich genommen, kennst die Welt zu wenig ... Ich, ich verstehe dich schon, ich kann alles nachfühlen, was du gelitten hast, was dich dazu brachte ...«

Sie sann eine Weile nach. In ihr sonst so frohes Gesicht trat ein bitterer Zug: Ja, das waren sie, diese armen Opfer der unberührten, weltfremden Erziehung, diese Märtyrer der Kindesliebe. Wann würde es endlich anders werden? Wann würden all diese mit ihrer Qual und ihren blutigen Tränen den Schwestern den Weg geebnet haben, dass sie Menschen sein konnten und durften, Menschen, nur Menschen, die leben durften und frei sich entfalten. Ein tiefes Mitgefühl mit all den Irrenden, Suchenden und Leidenden erfasste sie; sie sah ihn vor sich den ganzen nicht enden wollenden Leidenszug der Frauen, die ihre Hand ausgestreckt hatten nach den Rechten der Menschheit, sei es Mann und Kind, Arbeit und Beruf, nach allem, was ihnen verwehrt war, weil sie es Jahrhunderte lang nicht gelüstete danach zu greifen, oder doch nur wenige, die Kraft dazu hatten. Das kreuzige! kreuzige! tönte von allen Seiten, Steine flogen, Spott und Verachtung war ihr Teil ... Fast vergass sie der einzelnen über dem Jammer der Gesamtheit.

Jetzt traf sie Evas bangfragenden Blick, die nicht ahnte, was in der Freundin vorging, die das lange Schweigen nicht zu deuten wusste.

»Ich kann dich nicht richten!« sagte sie endlich. »Andere müssten gerichtet werden und verdammt. – Doch ändert das nichts und hilft dir nichts. Aber noch ein paar Fragen erlaube mir, antworte ganz offen, ja?«

Eva nickte stumm.

»Erscheint es dir als Schuld, bereust du, dass du dich Hans gegeben hast?«

»Nein!« Fest und klar kam die Antwort, Evas Augen leuchteten.

»Und willst du ihn nun nicht rufen? Er gehört nun zu dir.«

Stöhnend barg Eva ihr Gesicht in den Schoss der Freundin: »Alles, nur das nicht. Ich kann nicht, – der Tote! Illner, ich habe ihm den Tod gewünscht, um Hans' willen!« Ein Schauder ging durch ihren Körper.

»Nur ruhig, Liebling, du musst ja nicht, du sollst alles tun nach deinem Gefühl, niemand zwingt dich. – Nur noch eins, deine Eltern? Wie denkst du dir das?«

»Sie dürfen nie, nie etwas wissen! Nur das nicht, sie überleben es nicht. Du ahnst ja nicht, wie streng sie denken. Mein Gott, wäre ich tot, für sie wäre das besser. Ich gehe nie zu ihnen zurück, ich will arbeiten, schaffen, – sie haben kein Recht mehr an mich. – Schicke mich nicht zurück, lieber jage mich ins Wasser!«

»Nein, zurück kannst und sollst du nicht, ihretwegen nicht und vor allem deinetwegen ...« Mieze zog Eva zärtlich in die Arme und küsste sie. »Und nun überlass mal alles zunächst mir und sorge dich nicht. Ich will und werde dir helfen, – soweit ich kann. – Und ich weiss, mein Mann denkt wie ich, auch für ihn kann ich es dir versprechen. Es bleibt noch mehr als genug, was wir dir nicht abnehmen können. Dein Weg ist schwer, sehr schwer und all meine Liebe kann ihn nur auf wenig hell machen.«

Lange redete sie noch mild und tröstend auf Eva ein, deren seelische Spannung sich unter ihren zärtlichen Worten in bitteres Weinen löste.


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