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Am 15. Oktober sollte die Hochzeit sein. Sie war für so bald festgesetzt, weil der Bräutigam gern im Winter schon seine kleine Frau um sich haben wollte. Er mochte ihn nicht wieder – wie so oft schon – allein auf dem einsamen Gute verleben. Dann war er auch schon Ende der dreissiger Jahre und sehnte sich nach dem lange entbehrten Familienleben, der eigenen Häuslichkeit.
Der Familie der Braut war es sehr recht so, – Eva wurde nicht gefragt.
Da das Herrenhaus in Niederwiesa von den verstorbenen Eltern Illners her noch vollständig eingerichtet war, – die alten Möbel waren sämtlich von der Mutter und Lotte für gut befunden worden, – galt es nur Evas persönliche Aussteuer anzuschaffen. Das war eine grosse Erleichterung, es waren schon genug nicht zu umgehende Ausgaben. Aber man brauchte nun doch nicht zu sehr zu rechnen, das Weisszeug konnte etwas feiner genommen werden als bei Lotte, wo doch auch deren ganze Wohnung zu möblieren gewesen war.
»Eva, du hast es zu gut! Sogar Spitzen an die Kopfkissen! Und Nachthemden, die gab es sonst auch nicht, die Jäckchen genügten immer. Sie sind auch viel praktischer, du wirst es schon noch sehen.«
So und ähnlich redete Lotte oft und liess dabei bewundernd mit heimlichem Neid die Sachen durch die Finger gleiten. Und Eva war es doch so unendlich gleichgültig. Fanny hatte alles in die Hand genommen und besorgte mit Mama, suchte für sie aus und wählte. Eva war kaum verwundert, wenn es dann immer hiess, sie habe das so gewünscht. Eigentlich wurde sie nie gefragt. Aber es war ihr lieb so.
Einiges zu nähen hatte man aus dem Hause gegeben. Trotzdem sah man den ganzen Tag die Köpfe an den drei Nähtischen emsig über die Arbeit gebeugt, in Bergen von Spitzen, Häkeleien und Leinwand vergraben.
Es ging sehr still dabei zu. Die Schwestern sprachen untereinander fast nichts, nur das allernötigste wurde zwischen ihnen erörtert. Sonst gingen sie stumm nebeneinander her. Viel hatten sie ja nie Gemeinsames gehabt, es fiel also nicht auf. Fanny hatte einige Male versucht, in harmlosem Ton mit Eva zu plaudern, als wäre nichts geschehen, doch unter dem verwunderten Blick, der sie traf, schwieg sie errötend.
Auch sonst war Eva anders geworden; gegen ihre sonstige Art sah sie blass aus und die Wangen wurden schmäler und schmäler. Aber sie lächelte heiter und erklärte, es fehle ihr gar nichts.
»Ich kenne das Kind nicht wieder!« klagte die Mutter der Aeltesten. »Du warst doch so ganz anders als Braut.«
»Ach lass nur, Muttchen, das gibt sich alles, wenn sie verheiratet ist. Eva war immer ein bisschen überspannt, da machen ihr nun die Nerven zu schaffen.«
»Meinst du wirklich, sonst ist es nichts? Ja, die dummen Nerven, ich dachte es auch schon.«
»Und dann ist sie bleichsüchtig. Lass sie mal Eisen nehmen. Ich werde dir mein Rezept schicken, das tat mir so gut, ehe Fritzchen ankam. Weisst du noch?«
Und Eva schluckte eine Schachtel Pillen nach der anderen. Die Landluft später würde auch schon das ihre tun. Gewiss war ihr auch das viele Stillsitzen nicht gut. Sie durfte nicht mehr soviel nähen und musste täglich spazieren gehen. – – –
Paul Illner war trotz der dringenden Sommerarbeiten auf den Feldern fast jeden Tag da. Er sass die Nachmittage mit am grossen runden Familientisch im Garten oder an den nun schon länger und kühler werdenden Abenden in des Professors Zimmer unter der Hängelampe. Wie früher erzählte er von allem, was täglich bei ihm vorging und hörte mit Interesse die verschiedenen kleinen Ereignisse, die man ihm berichtete.
Meist hielt er Evas Hand in der seinen, streichelte sie leise oder drückte sie leicht zwischen seinen beiden grossen, gebräunten Händen, die von einem ruhigen, in Arbeit gefestigtem Leben zeugten. Er war Landwirt mit Leib und Seele und hatte durch seinen Beruf etwas von der derben, biederen Art des mit seiner Scholle verwachsenen Bauern angenommen, etwas vom Erdgeruch, ohne doch von der Poesie dieses selben Lebens gestreift zu sein.
Alles, was von Zartheit und tiefem Gefühl noch in ihm ruhte, übertrug er auf seine Braut, die er zärtlich liebte. Er sah zu ihr auf wie zu etwas Kostbarem, zu einem Luxus- und Schmuckgegenstand, den er sich wohl leisten konnte, bei dessen Anblick er sich aber täglich wunderte, dass er ihm wirklich gehören sollte. Und wenn man die beiden nebeneinander sah, konnte man das wohl verstehen. Er breitschulterig, ein wahrer Hüne von Gestalt, etwas laut und lärmend, Eva schlank und feingliederig, noch zerbrechlicher und zarter erscheinend neben ihrem Bräutigam.
Er war sehr zurückhaltend und rücksichtsvoll, da er ihr instinktives Zurückweichen bei seinen ersten stürmischen elementaren Zärtlichkeiten wohl gemerkt hatte. Mit der Zeit würde sie sich schon an ihn gewöhnen. Die Mama sagte ihm ja auch, es sei das nur mädchenhafte Schüchternheit, die sich später geben würde. Die Mama musste es doch wissen. Lieb haben musste ihn Eva doch, weshalb hätte sie ihm, dem grossen, ungeschickten Menschen, sonst ihr Jawort geben sollen. Das Ja, das er ersehnt und erhofft hatte, über das er doch fast verwundert gewesen war und das ihn so unsagbar stolz und glücklich machte. Er liebte sie nur noch zärtlicher, sie erschien ihm wie ein höheres Wesen in ihrer Scheu, anders und tausendmal besser und reiner als er. Ruhig beschloss er zu warten, bis sie selbst ihm entgegenkomme. Wusste er doch, dass die edelste Frucht am langsamsten reift, dass die Blüte desto schöner wird, je langsamer sie sich entfaltet.
Und Eva war ihm dankbar für seine Art und gab sich Mühe, ihm und seinen Interessen näherzukommen, sich am allgemeinen Gespräch zu beteiligen.
So gingen die Tage still und friedlich hin, es war im ganzen wenig anders als früher, vor der Verlobung.
*
Jetzt war es Anfang Oktober. Eva war allein zu Haus. Die Mutter und Fanny waren nach Niederwiesa gefahren, um die Wäsche hinzubringen und überall noch einmal nach dem Rechten zu sehen. Paul hatte es sich nicht nehmen lassen, wenigstens Evas spezielles Zimmer neu einzurichten; sie wollten ihm mit ihrem Rat helfen, die Möbel zu stellen, auch einige sonstige Anordnungen noch treffen, die sich die Mutter nicht nehmen liess. Beide wollten über Nacht bleiben, sie fürchteten sonst nicht fertig zu werden, da der letzte Zug schon gegen halb sechs die kleine Bahnstation passierte. Der Gutsherr hatte ihnen zwar sein Geschirr für jede Zeit zur Verfügung gestellt, aber die alte Dame war ängstlich, sie fuhr am Tage nicht gern mit den feurigen, meist jungen Pferden, für die Illner eine Vorliebe hatte, am Abend und in der Dunkelheit hätte sie aber keine Macht der Welt dazu vermocht.
Es war trübe und regnerisch, einer jener Herbsttage, die uns das Scheiden des Sommers so recht zum Bewusstsein bringen. Eva sass am Fenster und blickte in das eintönige Grau hinaus. Ein herzhafter Regen wäre ihr eine Erquickung gewesen, Hagel, Sturm, Gewitter, – nur nicht diese dumpfe Gleichmässigkeit, die sich endlos dehnte wie ein träger stagnierender Strom. Er verursachte ihr förmlich ein beklemmendes Gefühl, ein Gefühl der Angst, die etwas Körperliches hatte.
Stundenlang sass sie schon so hier und dachte und dachte. Die letzten Wochen und die nun kommen sollten, liess sie an sich vorüberziehen, – grau – alles grau, einförmig grau, wesenlos und doch erfüllt von sich drängenden schattenhaften Gestalten, Dingen, die ihr hinter der Schwelle des Bewusstseins nur dämmernd auftauchten, sie mit Angst und Abscheu erfüllend.
Ihre Gedanken tasteten scheu an der Zukunft; nicht voll heimlicher, freudiger Ungeduld, – mit zitternder Angst, mit bebendem Grauen suchten sie daran herum, spähten nach einem Lichtblick, einem Halt in dem Chaos. Wie mit der feuchten, dunstigen Luft von draussen kommend, legte es sich eng und enger um ihre Seele, presste sie zusammen in hoffnungslosem Weh und Verzweiflung.
Sie hielt es nicht länger aus, allein zu sein. Dort die Tür führte in Vaters Zimmer. Ob sie nicht zu ihm ging? Es waren ja nur noch wenige Tage, dass sie ihm so nahe war, es packte sie eine plötzliche Sehnsucht nach dem alten Mann, für den sie seit neulich eine noch tiefere Liebe, eine leidvolle Zärtlichkeit im Herzen fühlte.
Der Professor sass am Schreibtisch, tief über seine Arbeit gebeugt. Unwillig schüttelte er den Kopf über die Störung; gerade war er so gut im Zuge gewesen. Heute hoffte er noch mit seiner wissenschaftlichen Abhandlung zu Ende zu kommen. Es konnte zwar spät werden, aber was schadete das? Seine Frau war ja nicht da, er war sicher, nicht mitten aus dem schönsten Denken gerissen zu werden, niemand würde ihn an die Schlafenszeit erinnern.
Leise schlich sich Eva zu dem grossen Stuhl in der Ofenecke, schmiegte sich hinein und schlug fröstelnd die Arme auf der Brust übereinander. Ihre Blicke glitten suchend in dem wohlbekannten Zimmer umher und kehrten wieder und wieder zu der gebeugten Gestalt des Vaters zurück. Er hatte sich in den alten, braunen Schlafrock gewickelt, das Licht des einzigen Fensters fiel voll auf seinen Kopf, auf die weissen, buschigen Brauen, die merkwürdig dicht waren im Verhältnis zum Haar. Seine Augen leuchteten angeregt, er schrieb und schrieb.
Eva wurde das Atmen schwer. Die Luft war erfüllt von Pfeifenrauch und jenem scharfen, undefinierbaren Geruch, wie er alten Büchern und Möbeln entströmt. Jenes sonderbare Etwas, das alte Leute und die sie umgebenden, in jahrelangem Gebrauch abgenutzten Sachen verbindet, das sich oft fast zur Persönlichkeit verdichtet und den toten Gegenständen ein geheimnisvolles Leben einhaucht, uns feindlich gesinnt, in das wir nicht eindringen können mit unsern groben Sinnen, das wir nur gleichsam ahnend fühlen.
Ruhig arbeitete der Professor weiter. Ab und zu pausierte seine Hand, die die Feder hielt, einen Augenblick.
Dann flog sie wieder knirschend über das Papier, malte Wort für Wort, Zeile für Zeile, wie von eigenem Willen beseelt. Eine Seite nach der anderen füllte sich mit den grossen, steifen Schriftzügen und wurde auf den hohen Stoss loser Blätter auf den kleinen Nebentisch gelegt.
Das junge Mädchen rührte sich nicht. Wenn er sich nur um sie kümmern wollte! Am liebsten hätte sie ihm die Arme um den Hals gelegt, ihre Wange an die seine geschmiegt, sich von ihm streicheln und hätscheln lassen wie ein Kind, das sich fürchtet. Doch solche Zärtlichkeiten waren nicht üblich. Gewiss hätte er sie ganz erstaunt angesehen, sie nicht verstanden. Aber musste er nicht ahnen, dass ihr Herz so unruhig pochend nach dem seinen verlangte, dass sie sich verzehrte in heisser, quälender Angst? Dass sie gekommen war, sich Schutz suchend an ihn anzulehnen?
Endlich schien er bei einem grösseren Abschnitt angekommen. Ein leises »Hm! Hm!« zeigte seine Zufriedenheit; leicht aufstöhnend richtete er sich in die Höhe, drehte sich halb im Stuhl herum, einen Augenblick auszuruhen.
»Da bist du ja noch, Kind! – Ich hatte dich wahrhaftig ganz vergessen.«
»Vater, mir war so bange ...« Sie wusste nicht, wie sich ihm verständlich machen und schwieg wieder. Aber er hatte ihre Worte gar nicht beachtet. Seine Gedanken weilten noch bei der Arbeit:
»Wie die staunen werden! Dem Richter, dem Berliner, habe ich scharf zugesetzt, ihm eine Menge Irrtümer nachgewiesen. Oho! ich bin noch nicht zu alt dazu, – immer denken sie, mit dem Weidmann ist nichts mehr, der ist alt. Weil ich nicht immerzu mitschwatze. Aber dafür sitzt's nun auch! Wartet nur, ihr werdet euch umgucken. Auch dem Professor Krey habe ich's ordentlich gegeben ... Wird der Augen machen. Tut immer so sicher. Widerlegen kann er mich nicht ... nein ... nein ...« Er blätterte bereits wieder in umherliegenden Broschüren und Blättern, auf denen er sich Notizen gemacht hatte.
»Väterchen!«
Es klang solch eine Trauer aus den mahnenden Worten, dass er sich wieder zur Tochter wandte:
»Hm, ja, so ... Tut mir leid, ich kann mich nicht stören lassen, Kind. Lass mir doch halb acht eine Tasse Tee und etwas zu essen bringen.«
»Willst du denn nicht mal mit mir essen? Heute noch einmal ... Ich freute mich so darauf, gerade weil wir allein sind. Ich bin ja nicht mehr lange bei dir.«
»Nein, – nein, was denkst du wohl, was das für Arbeit ist! Gerade beim Schluss kann ich mich nicht unterbrechen.«
»Bitte, bitte, habe doch eine halbe Stunde Zeit für mich, mehr will ich ja gar nicht.« Flehend sah sie zu ihm auf, leise berührte sie seine Hand.
»Nein, nein, Kind. Quäle mich nicht! Und schlaf mir recht gut. Träume von der kleinen Hausfrau, die du nun bald wirst!« fügte er scherzend hinzu. Dann fasste er ihren Kopf zwischen beide Hände und schob sie zur Tür.
Das junge Mädchen bestellte in der Küche Tee und Abendbrot für den Vater, dann stand sie unschlüssig da. Was nun? Ach, sie wollte spazieren gehen, vielleicht wurde es ihr da freier zu Mute. Wenn man draussen war, mitten drin, war es sicher nicht so schlimm mit dem Wetter.
Sie nahm Hut, Mantel und Schirm und sagte Anna, dass sie nicht für sie decken sollte oder auf sie warten, sie nähme die Schlüssel mit, sie ginge wahrscheinlich zu Pastor Ludwigs. Lotte war ihr eben eingefallen, die war sicher zu Haus.
Eine dumpfe, feuchtkalte Luft schlug ihr entgegen, als sie ins Freie trat. Niemand war auf der Strasse zu sehen, wie ausgestorben alles weit und breit. Mechanisch ging sie einige Schritte geradeaus, dann zauderte sie. Rechts war der nächste Weg zu den Geschwistern. Sollte sie den einschlagen? Aber nach einem kurzen Ueberlegen kam ihr die Absicht, zu Lotte zu gehen, unausführbar vor. Das war auch nichts. Sie wusste ja ganz genau, wie es dort zuging, sie kannte es gut genug: Heute war Sonnabend. Lotte würde ihr selbst öffnen und sie gleich mit der Bitte empfangen, recht ruhig zu sein, weil Ernst an seiner Predigt arbeite und Sammlung brauche. Die Kinder schlichen ängstlich in Filzschuhen herum, um die Mutter her, die in der Küche Gemüse zuputzte oder dergleichen, das Mädchen war auf der Rolle, machte Besorgungen. Sie würde irgend etwas helfen und dabei Vorträge anhören müssen über Silberputzen, Reinmachen und Wäsche. Und alles das im Flüsterton, in der Küche, weil die am weitesten vom Studierzimmer ablag und Ernst da sicher nichts von ihnen merkte.
Nein, das war schlimmer als Alleinsein.
Eva bog also links in den kleinen mit Hecken umzäunten Weg ein, der zum alten Kirchhof führte. Es war ihr liebster Spaziergang, fast täglich ging sie hin. Dort war es so still, keine neugierigen und aufdringlichen Gesichter störten sie. Von Bekannten kam niemand hin.
Sie ging den wohlbekannten Weg längs der Mauer hin, der innen um den ganzen Kirchhof führte. Ueber ihr neigten sich die Büsche, fast zusammenstossend mit den Enden der Zweige, die feucht und schwer herabhingen und sich nun wie ein Dach über ihrem Kopfe wölbten. Ueberall sickerten leise unsichtbare Tropfen nieder und fielen mit einem glucksenden Laut irgendwo zu Boden. An manchen Stellen rieselte das Wasser in kleinen Rinnen längs des Weges hin, verlor sich, kam dann wieder zum Vorschein; vorsichtig umging es von beiden Seiten einen Stein, ein festes Stück Erdreich, das seinen Lauf hemmte, teilte sich, vereinigte sich wieder; andere Wässerchen kamen hinzu, es wurde grösser und stärker. Dann wieder ein Hindernis, – das flinke Spiel begann von neuem. Unermüdlich, immerzu strebte es weiter und weiter, als könnte es nicht erwarten, zum Ziele zu kommen.
Eva schaute eine Weile zu. Aber die Hast, das fröhliche Leben, das darin lag, ermüdete sie, war ihr unverständlich und weckte keinen Widerhall in ihrer Seele. Es kam ihr so albern, so unnütz vor. Sie ging deshalb weiter und blickte nach der Seite zu den Gräbern, die ab und zu durch das Laub zu sehen waren. Eingesunkene, von keiner Hand gepflegte, ohne Merkzeichen, dann welche mit grossen Monumenten und Säulen, meistens mit Kreuzen. Die unbekannten, verlassenen Hügel waren ihr lieber. Ihr war, als hätten die unter den schweren Kreuzen auch jetzt noch keine rechte Ruhe, als müsste das grosse, gewaltige Symbol, das nur von Leiden und wieder von Leiden und von geduldigem Ertragen erzählte, jetzt noch auf die armen Leiber drücken, die unter ihnen lagen, wie es sie im Leben gewiss oft genug gedrückt hatte. Und jetzt mussten sie es noch geduldiger ertragen, konnten sich nicht wehren dagegen und es abzuschütteln versuchen.
Warum nur war es so? Warum sollte das Leben durchaus nur Leiden, Ertragen, Entsagung sein? Warum? Warum nicht ein heiterer Genuss, wie ihn die alten Heiden gekannt und gepriesen, warum nicht Freude und Glück in dieser kurzen Spanne Zeit suchen?
Was sollte sie mit dem Jenseits, das sie sich nie hatte vorstellen können, an das sie nicht glaubte, nicht glauben konnte? Dieser vage Trost für den Elenden und Müden, der ihnen Ersatz für alles hinieden Ersehnte geben sollte. – Jetzt, jetzt fühlte sie so warmes pulsierendes Leben in sich. Mit dem Heute wollte sie rechnen. Warum sollte es ihr verwehrt sein? ... Die Entsagung, die Erfüllung ihrer Kindespflicht hatte ihr Herz leer gelassen. Mächtig brach nun in dieser Stunde das Ich durch, verlangte stürmisch nach seinem Rechte. Mochten die Menschen sagen, was sie wollten, alles, das ganze Jenseits mit seiner versprochenen Herrlichkeit wollte sie hingeben, wenn sie leben durfte nach eigenem Gefühl, wenn sie in diesem kurzen Erdenleben sich ihr Glück suchen durfte, ihre Freiheit, das, was ihre Natur brauchte. – Warum nur erschwerten sich die Menschen alles so unnütz untereinander? Es gab ja noch genug Not, Elend und Krankheit, die nicht zu umgehen waren.
Das junge Mädchen dehnte sich, richtete sich straffer auf und breitete unwillkürlich wie in Sehnsucht die Arme weit aus.
Ja, soweit es in ihrer Hand lag, sie wollte leben. Niemand zum Leid, sich selbst zum Glück. Es würde schon gehen. Sie war noch jung, lang dehnte sich das Leben vor ihr aus. Und sie dachte nicht mehr mit Schaudern an das Kommende, sie fühlte sich selbst, den hohen Wert, den sie als Einsatz gab, – es musste ihr gelingen.
Mit raschen Schritten eilte sie weiter und trat an ein etwas abseits liegendes Grab; es war dicht mit Efeu übersponnen, nur eine einfache Marmortafel zeigte, wer dort lag: »Maria Burkhardt«. Das war sie, die Mutter von Hans. Gewiss, die hätte sie verstanden. Sie entsann sich noch gut der alten Dame mit den fröhlichen blauen Augen und weissen Löckchen über den Ohren, die sie immer so strahlend angesehen, bei der sie gespielt als Kind mit Hans zusammen, bei der sie dann, älter geworden, oft in der Dämmerung gesessen. Sie warteten beide auf Hans, der nun bald aus der Schule kommen musste. Es war so köstlich gewesen, dann zu dreien zusammen zu sitzen. Und die »Mama«, – so hatte sie die alte Dame immer genannt, – erzählte von ihrem Leben, das sie teils in Paris, teils in Italien verbracht an der Seite ihres Mannes, der Maler gewesen. Sorgen hatte sie genug gekannt, aber »soviel Glück, Kinder, soviel Glück, dass ich noch hundert Jahre davon leben könnte!« versicherte sie oft.
Hans hatte das Talent seines Vaters geerbt. Er wollte Künstler werden und konnte es gar nicht erwarten, die lästige Schule hinter sich zu haben. Mit seinem wilden Temperament machte er der Mutter viel Sorge; sie ahnte die Kämpfe, die er durchzumachen haben würde, und sie war kränklich und wusste, sie würde ihm nicht lange zur Seite stehen können. Oft drückte sie die kleine Freundin an sich und flüsterte ihr zu: »Verlass meinen Jungen nicht, du bist die einzige ausser mir, auf die er hört.« – Eva entsann sich dessen wohl. Sie war sich damals riesig wichtig vorgekommen und hatte heimlich Pläne gemacht, wie sie Hans helfen wollte und ihm Ruhe schaffen, dass er malen könnte und nicht mehr in die dumme Schule brauchte. Da war sein Onkel, der Vormund, der immer mit Hans zankte, den wollte sie nie hereinlassen, da würde es schon gehen ...
Dann war die alte Dame plötzlich gestorben, ganz sanft in ihrem Lehnstuhl am Fenster. Und mit einem Schlage war alles anders geworden. Hans, der nun durchaus sein Maturum machen sollte, war eines Tages auf und davon gegangen. Nur ihr hatte er es gesagt; sie hatte ihm noch ihr Frühstücksbrötchen mitgeben wollen, das er aber stolz zurückwies. – Eva lächelte in Gedanken. Sie war doch zu dumm gewesen mit ihren dreizehn Jahren. Er hatte sie stürmisch an sich gezogen und geküsst: »Eva, vergiss mich nie, ich arbeite für uns!«
Das war nun solange schon her! Sechs – nein sieben Jahre. Nur flüchtig hatte sie ihn in der Zwischenzeit einmal gesehen, ehe er nach Rom ging. Er hatte von dort schreiben wollen, – aber es war wohl beim Wollen geblieben. Direkt hatte sie nie etwas von ihm gehört, durch andere wenig und auch das ungewiss. Warum kam nie, nie ein Wort von ihm? Sie hatte ihn nie vergessen ... Aber er? ... Es hatte eben niemand für sie Zeit.
Traurig lehnte sie an der hohen Gittereinfassung, die das Grab umschloss, und blickte vor sich nieder. Sie hörte es nicht, dass sich auf dem regendurchweichten Wege rasche Schritte näherten und ihr gegenüber plötzlich Halt machten.
»Eva!«
Sie schrak zusammen. Wie konnte sie nur so lebhaft denken! Das war ja seine Stimme gewesen, ganz wie früher ...
»Eva, ich bin's, Hans! Kennst du mich denn nicht!«
Nun blickte sie doch auf. »Hans? – Hans!« Erst zweifelnd, fragend, dann in hellem Jubel.
Er stürzte auf sie zu und drückte sie fest an sich. Und sie liess es sich gefallen, dass er sie herzhaft abküsste, wieder und immer wieder. Es war ja ganz wie früher! Und es tat so gut. Nun war sie nicht mehr allein, nicht mehr einsam. Nun war mit einem Male jemand da, der sie verstand, dem sie alles sagen und klagen durfte.
»Gott, Eva, dass ich dich gleich treffe, so'n Glück! Ich bin vor zwei Stunden erst gekommen und wollte Mütterchen nur schnell besuchen, ihr zeigen, dass aus ihrem wilden Jungen doch was geworden ist, wenn's auch lange gedauert hat. Ja, mein Mäuschen, 's hat lange gedauert. Nicht? Aber nun wollen wir um so fideler sein. Ich bin ja so rasend glücklich, Evchen!«
Vergnügt drückte er sie an sich und zog ihren Arm fester durch den seinen.
»Weisst du, wir haben uns doch soviel zu erzählen, so fix geht das hier nicht abzumachen. Komm mit zu mir, das wird mal so gemütlich wie früher, als Mütterchen noch dabei war. So'n gemütliches Dämmerstündchen.
Die alte Frau Schmidten wird nun alles in Ordnung haben, weisst du, die alte Waschfrau von Mama, bei der stehen die Möbel, die ich gern behalten wollte, und da wohne ich auch. Du wirst staunen, es ist fast ganz so wie früher. Du hast doch Zeit? Nicht? Oder erwarten sie dich zu Hause?«
Sie schüttelte den Kopf. Und er fing sofort an, von seinem bunten Leben da draussen zu erzählen. Er hatte einige Jahre in München studiert, dann hatte ihm sein Professor ein Stipendium verschafft und er war in Italien, in Rom gewesen. Begeistert schilderte er den Aufenthalt dort, berichtete ausführlich von seinen Studien, Arbeiten und Plänen. Nun wollte er nach Paris, um sich dort selbständig zu machen; der Erlös einiger kleiner Bilder und Skizzen langte für den Anfang.
»Bald, bald, mein Liebling, wirst du sehen, was ich kann. Du sollst stolz auf mich sein! Ich habe ja immer nur an dich gedacht und für dich gearbeitet. Und wenn es manchmal gar nicht vorwärts gehen wollte, immer half mir die Erinnerung an dich über den Berg. – Auch vor so mancher Versuchung, die an mich herantrat, hast du mich behütet,« fügte er leiser hinzu. »Du, du allein. Weisst du das?«
Ein leichtes Zittern flog über ihren Körper. Mein Gott, wie schön das alles klang! Wie ein Traum umfing sie seine Stimme, alles, was er sagte. Es war ja zu schön, um wahr zu sein! – Und sie ... was hatte sie ihm zu erzählen? Was musste sie ihm sagen? ... Sie schmiegte sich dichter an ihn.
»Fehlt dir was? Frierst du, Liebling? – Ja, gewiss ist's dir kalt. Ich alter Egoist hab gar nicht daran gedacht, weil's mir in meiner Freude so heiss ist, so mächtig heiss. Aber warte nur, wir sind gleich da, da trinkst du ein Glas Wein oder Tee. Ja, ja, ich hab viel gelernt da draussen. Ich koche ihn dir fein. Was meinst du? Das wird lustig werden heute Abend!«
In seiner Freude merkte er Evas Schweigsamkeit nicht.
Als sie nun im hellen, behaglichen Zimmer waren, nahm er ihr behutsam Hut und Mantel ab und führte sie zur Lampe, um sie endlich ordentlich anzusehen. Nun erschrak er doch vor ihrem Aussehen. Wie fein und schlank sie war! Wie zart das schmale Gesichtchen. Und welchen Gegensatz zu den kindlichen Zügen bildeten die grossen Augen mit den blauen Schatten rundum, die so gar nicht im Glück strahlten, wie er gedacht, die von soviel schlaflosen Nächten redeten, von Leid und Not.
Er war sehr ernst geworden. Scheu und ängstlich sah Eva zu ihm auf, unsagbar rührend. Da nahm er ihre beiden Hände, zog sie neben sich in den Sessel und legte ihren Kopf an seine Schulter:
»So, Herzchen, nun ist es wieder wie früher. Nun erzähle du mal, wie es dir gegangen ist. Was hast du denn? Freust du dich nicht, dass ich wieder da bin? Hast du mich denn gar nicht mehr lieb?«
Mit einem wehen Aufschluchzen barg sie ihren Kopf tiefer an seine Brust, wühlte sich mehr und mehr in ihn hinein in fassungslosem Jammer, indem sie sich angstvoll schutzsuchend an ihn anklammerte. Heisse Tränen rollten an ihm nieder und nässten seine Hände, die die ihrigen leise streichelten. Beruhigend redete er ihr zu:
»Aber, Kind, Evchen, ist es denn gar zu schlimm, was du mir zu erzählen hast? Du machst mir ja ordentlich Angst! Rede doch wenigstens, sage mir alles. – Ich bin doch derselbe noch wie früher, hab doch Vertrauen zu mir. – Willst du nicht? Bitte sei doch gut und weine nicht! – Du weisst ja nicht, wie ich mich oft nach dir gesehnt und gebangt habe ... Gewiss bin ich dir nur zu plötzlich gekommen, du bist erschrocken, weiter ist es nichts. Siehst du, es war immer so unbestimmt, vorgestern habe ich den grösseren Verkauf erst abschliessen können. Ich wollte dich doch nicht in meine Sorgen, in das ungewisse Auf und Ab mit hineinziehen. – Ich wollte deinen Frieden, dein ruhiges, glückliches Leben nicht vor der Zeit stören ... War denn das nicht richtig von mir, nicht recht? – Von Zeit zu Zeit hast du ja doch von mir gehört, du wusstest, ich vergass dich nicht.«
Hier richtete sich Eva plötzlich auf:
»Du ... du hast mir geschrieben? Ich hätte von dir gehört ab und zu?«
»Nun natürlich! Oft war's ja nicht, aber so drei-, viermal habe ich doch geschrieben. Ich dachte immer, dass du mir wohl antworten könntest, aber wahrscheinlich hatten sie es dir verboten. Ich war doch ein ganz gefährlicher Mensch, durchgebrannt! Und wer weiss was noch! ... Und du warst wohl brav und folgsam geworden, – was solltest du auch machen? Du gegen sie alle. Da dachte ich: Man zu, es nützt euch doch alles nichts, mein Evchen vergisst mich auch ohne das nicht, es glaubt an mich, da könnt ihr reden, was ihr wollt. – War's nicht so, Liebling?«
Erregt schloss sie ihre Arme fester um seinen Hals. Sie weinte nun ganz leise, bitterlich vor sich hin.
»Siehst du, und nun finde ich dich so!« fuhr er fort. »Und ich kam so fröhlich und dachte, du müsstest ebenso sein ... Herr Gott nochmal! Was ist denn nur? Rede doch bloss! Du folterst mich ja unnütz.«
Und nun kam es zuerst leise und stockend, dann immer rascher von ihren Lippen in lebhaften, abgerissenen Sätzen, anklagend, entschuldigend, verzweiflungsvoll. Nichts verschleiernd oder beschönigend: das eintönige Leben die ganzen langen Jahre, nie ein Lebenszeichen von ihm. Gewiss hatte man ihr seine Briefe vorenthalten. Alles, was an ihr den Eltern und Schwestern nicht passte, galt ja als »von Burkhardts« stammend. Ihr vergebliches Warten, immer in dem entsetzlichen Einerlei des Alltags, das ganze interessenarme Leben, das sie so müde gemacht, in dem sie nur halb gelebt, das sie schliesslich abgestumpft, ihr die Kraft zum Hoffen genommen hatte. Ihre vergeblichen Bitten, irgend etwas lernen zu dürfen, die Sehnsucht nach Tätigkeit, nach Arbeit, der Wunsch etwas zu haben, um das es sich gelohnt hätte, des Morgens aufzustehen, das ihrem Dasein Inhalt gegeben ...
Der Mann nickte. Dass er daran nicht gedacht hatte! Ja, wie recht, wie recht hatte sie mit all ihren Klagen. Er wusste doch, wie es zuging, wusste, wie wenig für das Glück der einzelnen Individuen gesorgt wurde, wie im Gegenteil jede Eigenart schonungslos unterdrückt wurde in den Familien, so dass es nicht zu ertragen war für die, die nur einen Atemzug etwas anderes gefühlt und gedacht, als durch Generationen sanktioniert war. Er hatte ja selber darunter gelitten. Er hatte sich frei machen können. Ihm als Mann war das leicht und selbstverständlich gewesen, was für das Mädchen fast Unmöglichkeit. Wie konnte er nur das alles vergessen haben, dass er so gar nicht damit gerechnet? Seine Briefe einfach zu unterschlagen! Sie musste ja irre werden an ihm. Er verstand das so gut, obwohl sie es nicht sagte. Der Zweck heiligte ja bei ihnen auch die Mittel. Er roch förmlich die ganze dumpfe, mittelalterliche Atmosphäre und es schüttelte ihn, wenn er sich vorstellte, wie hilflos sie dem allen gegenüber gestanden hatte. Doch er nahm sich zusammen:
»Aber Herzenskind, das hat ja nun bald ein Ende. Sei nur ruhig, lange dauert es nicht mehr ... Armes Kleines, ja, schön hast du's nicht gehabt. Aber bald kann ich kommen und dich holen. Pass nur auf, dann wird's desto schöner! Das liegt alles bald, sehr bald weit hinter dir. Wie ein Traum kommt's dir dann vor. Denke nur gar nicht dran. Nun – nun – beruhige dich nur, – weine nicht mehr! Soll ich dir mal recht genau erzählen, wie ich mir alles ausgedacht habe? Ja? Hör zu.«
Er strich ihr das Haar aus dem verweinten Gesicht und küsste sie zärtlich. Aber erregt riss sich Eva von ihm los:
»Nein, nicht weiter! Ich kann's nicht ertragen! Du weisst noch nicht alles. Hans, ach, Hans, es wird ja immer so fortgehen, hat nie ein Ende. Nie! ... Ach, glaube mir doch, höre mich doch erst, – du weisst ja die Hauptsache noch nicht.«
Nun folgte die Geschichte der letzten Zeit mit allen ihren Einzelheiten.
Als sie von der Verlobung sprach, krampfte sich die Hand des Mannes um das Leder des Sessels, er unterdrückte nur schwer ein Aufstöhnen. Jetzt fühlte er erst, wie er an ihr hing, wie sein Leben mit dem ihren verwachsen war von Kind auf. Er hatte sie wiedergefunden, lieblicher, als er geahnt, und in ihren Geständnissen enthüllte sie ihm in rührender Offenheit ihre ganze reine Seele, die der seinen glich, die gleich der seinen hatte fliegen wollen und nun so bald schon wund und matt am Boden lag. Er konnte sie nicht lassen, sie musste sich frei machen um jeden Preis.
Noch war es Zeit. Ein furchtbarer Schreck durchfuhr ihn. Wenn er zu spät gekommen wäre? Nur vierzehn Tage später. Und er hätte sie als die Frau eines anderen gefunden ... Es war nicht auszudenken.
Erregt sprang er empor und lief im Zimmer auf und ab. Wild stürmten die Gedanken in ihm, es litt ihn nicht ruhig dazusitzen.
»Noch bin ich zur rechten Zeit gekommen ... Dem Himmel sei Dank ... Noch wird trotzdem alles gut ...« murmelte er.
Er trat an Eva heran, die noch immer leise weinend im Sessel lag, richtete ihren Kopf in die Höhe und zwang sie, ihn anzusehen:
»Eva, nicht wahr, du liebst mich?«
»Ja, Hans! Ja!« Ihre Augen leuchteten.
»Und den – den – deinen – den Herrn ... liebst du nicht?«
»Dann hebst du die Verlobung auf. Ganz einfach. In einem Jahr, längstens, komme ich und hole dich.«
»Aber ... aber ... Hans ...« Sie verstand ihn nicht.
»Knapp wird es ja dann bei uns noch zugehen. Aber du bist doch ein tapferes kleines Mädel, mein süsses kleines Frauchen dann ... Wir werden uns schon durchbeissen. Was?«
Er hob sie wie ein Kind in die Arme und küsste sie, wieder strahlend glücklich. Es war ja ein ganz unnützer Schreck gewesen, noch war er zur rechten Zeit gekommen.
Eva wand sich von ihm los. Sie war bleich bis in die Lippen:
»Nein, Hans, das geht nicht. Alles verlange von mir, nur das nicht. – Das nicht! – Ich habe mein Wort gegeben, – äusserlich gezwungen, ja, – aber innerlich habe ich es freiwillig wiederholt. Ich muss es halten, koste es, was es wolle. Bräche ich mein Wort, du selbst müsstest mich verachten.«
»Was, du willst nicht? Du willst nicht?«
»Ich kann nicht, Hans. Erbarme dich, versuche mich nicht über meine Kräfte.«
Er hörte nur ihre Weigerung heraus. »Was? Und dabei liebst du ihn nicht und liebst mich! Pfui Teufel über eure Moral! Wie soll ich das verstehen können. – Was bist du denn eigentlich. Was willst du hier? Wie? Du bist wohl auch von ihnen angesteckt worden? ... Freilich, eine gute Partie bin ich nicht! ... Aber es ist ja nicht wahr! Natürlich, du hast Angst vor allem, was nach deiner Erklärung kommen muss. Die Szenen alle, die Fragen ... Ja, aber Liebling, das will ich dir alles so schnell vergessen lassen. Das dauert ja nur eine kleine Zeit lang, und dann all das grosse strahlende Glück! Das macht die ganze Vergangenheit tot. Also sei tapfer. Nur keine Angst haben. Nicht feige sein! Siehst du, erkämpfen muss man alles im Leben, – anders geht's nicht. Und du wirst sehen, auch das ist schön. Der Kampf ist nötig. Er macht uns erst zu ganzen Menschen, die das grosse Glück verstehen, die seiner wert sind.«
Eva war während seiner Worte aufgestanden. Sie trat ans Fenster. Lange stand sie dort, stumm, den Rücken nach dem Zimmer gekehrt und starrte in die Nacht hinaus. Es war mittlerweile ganz dunkel geworden. Die Laternen brannten, die regenfeuchte Luft bildete einen grossen, hellen Dunstkreis um jede einzelne Flamme.
Endlich fing sie leise an zu erzählen, es sei nicht das, sie sei nicht feige der eigenen Unannehmlichkeiten wegen. Nein, die würde sie alle gern auf sich nehmen, alles wäre ihr gleich, – aber sie könne das den alten Eltern nicht antun. Väterchen sei leidend, er habe sich jetzt nur förmlich verjüngt in dem Glück über ihre Verlobung, er mache sich solche Sorge, was aus der Mama und Fanny würde, wenn er nicht mehr sei ... das alles habe sie ihm abgenommen, – der Mama auch, – sie könne beiden nicht das Herz brechen, es gäbe eine Pflicht, die höher stehe als das eigene Glück: Kindespflicht.
»Sei mir nicht böse, Hans. Klage mich nicht so bitter an. Ich kann nicht. Ich leide mehr als du deshalb!« schloss sie mit leiser, müder Stimme und einer suchenden Bewegung nach ihm hin.
Er stand am Tische, beide Fäuste auf die Platte gestemmt und schaute nicht auf. Sie trat hin zu ihm und strich zärtlich über seinen Arm:
»Sei doch gut zu mir. Du musst es doch einsehen.«
Er stiess ihre Hand von sich. »Gut! Gut! Freilich gut sein!« höhnte er. »Das denkst du dir so einfach! Hast du denn eine Ahnung davon, was eigentlich Liebe ist? Weisst du denn, was es heisst, jemand Jahre lang lieben und dann einfach, wenn man endlich nach ihm greifen kann, greifen nach dem einzigen Glück, – nach dem, um dessen willen man immer nur gelebt und geschafft hat, – dann finden, es war nichts, jemand anderes hat es dir weggenommen, – jemand, der es gar nicht braucht, der es nicht würdigen kann, – es dem dann einfach lassen, um gut zu sein! Ich pfeife auf euer gut! ...«
»Hans, lieber Hans!«
»Ach was, lieber Hans! Lieb! Was das für 'ne Idee davon hat! ... Geh nur, geh, wenn du nicht willst. Zwingen kann ich dich ja nicht. Aber sage nichts von lieben, sage das nicht nochmal ...«
Mit wankenden Schritten ging Eva nach der Tür, wo ihre Sachen hingen. Sie nahm Hut und Mantel zur Hand.
»Da muss ich wohl gehen ...« Es klang nur undeutlich, die Stimme versagte ihr fast. Mit einem Satze war er bei ihr.
»Nein, so nicht, so nicht! So wollen wir nicht voneinander gehen. Ich ging zu weit. Vergiss alles, was ich sagte, ich war nicht bei Sinnen. Aber bleibe noch, Eva, bleib noch! Wer weiss, ob wir uns je wiedersehen!«
Er zog die Willenlose nieder auf seinen Schoss. Ein heisses Begehren kam über ihn. Er konnte sie nicht lassen, sie, die er kaum gefunden nach langen Jahren der Sehnsucht.
»Eva,« flüsterte er, »wenn du mich wirklich liebst, bleibe bei mir. Bleibe! Nur heute abend! Nur dies eine Mal sei mein! Ich habe ein Recht auf dich, ein grösseres, heiligeres als sie alle. Du ... Du ... Sei gut, bleibe!«
Seine Erregung steigerte sich, als er ihr Zaudern, ihre Unentschlossenheit merkte. Fester drückte er die zarte Gestalt an sich, küsste sie stürmischer.
»Möchtest du denn nicht? Möchtest du nicht einmal ganz, ganz bei mir sein? Eva, du weisst ja nicht, ahnst nicht, wie ich dich liebe! Sag ja! Ja?«
Sie nickte leise, kaum merklich. –
»Siehst du! Und es ist auch dein Recht. Lass es dir nicht verkümmern durch kleinliche Bedenken. – – Weisst du noch, wie Muttchen immer sagte, sie könnte von ihrem Glück noch hundert Jahre zehren? – wir, wir werden das auch. Der eine kurze Abend muss uns für das ganze lange Leben reichen. Ich will dich auch gar nicht mehr quälen. Wir wollen beide bloss glücklich sein. Ja, Liebling?«
Und Eva kamen alle die Gedanken, die sie beim Anblick der Hügel auf dem Kirchhof vorhin gehabt, zurück: das kurze Leben, – ihr persönliches Recht auf Glück, ihre wilde Sehnsucht danach. Und dann, – ein wilder Zorn loderte in ihr auf: sie war betrogen worden, ihre Briefe unterschlug man! Wäre das nicht geschehen, sie hätte ihr Wort nie gegeben, wäre frei ... Nein, sie war nicht so ganz rechtlos! Sie nahm sich ihr Recht mit eigener Hand. Mochte es nur für diese kurzen Stunden sein, es war doch etwas. Noch gehörte sie sich an, sich allein. Niemand hatte ein Recht auf ihre Person, auf ihr innerstes Erleben, ihr ureigenstes Ich. Das gehörte für heute und immerdar dem Geliebten an ihrer Seite.
Es war ein so wonniges Gefühl, seine Stimme zu hören, ihn zu sehen, seine Nähe zu fühlen. Sie schloss die Augen und sagte laut und fest: