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März in Meidling

»Der Bach sogar verließ den alten Zug ...«

An diesen Vers aus Hoffmann v. Fallerslebens wunderschönem Erinnerungsgedicht muß ich denken, so oft ich die Strecke der heutigen Schönbrunnerstraße zwischen Storchensteg und Lobkowitzbrücke zu Fuß oder auch mit der Stadtbahn zurücklege. Der »Bach« meiner Jugenderinnerungen und meiner engsten Heimat, das ist der Wienfluß. Und wenn er auch die Richtung seines Laufes im großen und ganzen beibehalten hat, so haben sie ihm doch ein neues, tieferes und prächtigeres Bett gegraben, haben sich auch seine Ufer – sofern man überhaupt noch dies Wort anwenden kann – derart verändert, daß ihn weder die alten Vorortebürger, die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts im »Häuserl am Rain« ihren Heurigen, beim »goldenen Lampl« oder im »einschichtigen Wirtshaus« ihr Bier tranken, noch jene »inneren« Wiener, die fast bis zur selben Zeit Meidling als – Sommerfrische benützten, wiedererkennen würden.

Als im Jahre 1819 der nordöstliche Teil von Unter-Meidling durch die Fürsprache seines geistlichen Patronatsherrn, des Prälaten Gaudenz Dunkler von Klosterneuburg, die Bewilligung erhielt, sich als eigene, selbständige Ortschaft Gaudenzdorf zu konstituieren, da bildete eine Haupteinnahme des neuen Gemeinwesens der Ertrag der Gemeindefischerei im Wienfluß. Der Schrecken der Anwohner aber waren noch viel, viel später die gewaltigen Hochwässer und Überschwemmungen, mit denen sie die scheinbar so zahme, harmlose Wien fast in jedem Frühjahr heimsuchte. In meinem Geburtsjahr und Geburtsmonat war so ein Wienaustritt, der alle Brücken und Stege und angrenzenden Straßenteile unpassierbar machte, die Keller füllte und die Häusermauern in Einsturzgefahr brachte. Fürchterlicher noch war das Hochwasser vom März 1875, an das ich bereits ganz dunkle, verschwommene Kindheitserinnerungen habe. Und als man endlich das wilde, heimtückische Flüßchen mit Betonmauern einengte und auf weiten Strecken sogar überwölbte, da prophezeite mancher alte Meidlinger und Gaudenzdorfer erst die allerärgste Katastrophe, sobald die Wien einmal im Frühling diese Fesseln sprengen werde. Die Ingenieure lachten darüber und haben bis heute recht behalten. Aber wer die Wien nur einmal im Frühjahr bis zu den obersten Kairändern aufschäumen und mit schwindelnder Schnelle einherdonnern sah, der traut ihr nimmermehr, trotz aller modernen Technik.

Im Hochsommer freilich war sie dann, wir wissen es alle, manchmal sehr wasserarm, ja, wasserlos, und von keinem angenehmen Geruch. Zwischen den beiden Extremen jedoch konnte sie sich auch recht lieblich und anmutig und malerisch geben, an Ludwig Richtersche Frühlingsbilder gemahnend, Rudolf v. Alt zu stimmungsvollen Landschaften inspirierend.

Und untrennbar gehört sie auch zu meinen eigenen kindlichen Frühlingserinnerungen. Am ersten schönen, warmen Märznachmittag des Jahres wurden unser Geschäftswagen und unser braver, bejahrter Schimmel, anstatt daß sie sich von den Anstrengungen des vormittägigen Dienstes beschaulich erholen durften, aus Schuppen und Stall geholt und zwischen Storchensteg und Lobkowitzbrücke ins Wienbett gefahren, damit sich beide vom Schmutz des Winters im Freien gründlich reinigten. Mein Onkel kutschierte, und ich durfte neben ihm auf dem Bocke mitfahren. Gaul und Wagen standen mitten im Wasser, das jenem bis zu den Knien, diesem bis über die Achsen ging. Mein Oheim aber, ein riesenlanger Mann, der beim Militär Flügelmann und Trompeter gewesen war, watete in seinen gewaltigen, wasserdichten Kanonenstiefeln um den Schimmel herum und bearbeitete ihn mit Schwamm und Bürste, und übergoß ihm Rücken und Hals aus einem kleinen Eimer. Dabei beschloß ich, ihm einmal von meinem Kutschbocksitz aus zu Hilfe zu kommen, und als er den vollen Eimer neben mich gestellt hatte, goß ich ihn selbst aus freien Stücken von oben herab über das Pferd aus. Leider hatte ich nicht bemerkt und bedacht, daß sich mein Onkel soeben unter den Bauch des Gaules gebeugt hatte – und so stürzte fast der ganze erfrischende Guß meinem lieben Oheim zwischen Hals und Hemdkragen hinein, um sich in seinen hohen Stiefeln, denen natürlich all ihre Wasserdichtigkeit gegen diesen unvermuteten Überfall von innen nichts nützte, wieder zu sammeln. Nun, der langbeinige, schwarzbärtige Mensch war gutmütig und weichherzig wie ein Kind. Damals aber, als ich ihn so gründlich mit märzkühlem Wienflußwasser taufte, geriet er außer Rand und Band. Ich fürchtete schon ernstlich, er werde mich in der Wien ertränken wie eine junge Katze ... Er selbst hat danach nicht mehr lang gelebt, der Arme. Sein echter Trompeterdurst (der sich schließlich auch auf den Schimmel übertrug, so daß der fast nichts mehr fressen wollte als in Wein getauchtes Brot und vor jedem empfehlenswerten Gasthause von selbst Halt machte) hat ihn frühzeitig unter die Erde gebracht ...

In der Schule hörten wir so beiläufig, daß es im Wiener Becken von altersher noch etliche heilkräftige, heiße, vulkanische Quellen gebe. Und im nächsten Frühjahr, als wir nach Grundeln und »Spennadelköpfen«, den letzten traurigen Überbleibseln jenes einstigen Gemeindefischreichtums, angeln gingen, da – entdeckten wir selbst so eine, offenbar bisher unbekannt und ungenützt gebliebene heiße Quelle! Aus der Uferböschung, nahe dem Flußspiegel, kam sie in starkem, dampfendem Strahle hervorgeschossen! Anderen Tags teilten wir unserem Herrn Lehrer unsere überraschende und ungeheuer wichtige Entdeckung mit. Dieser, ein junger Mensch vom Lande, wollte anfangs nicht daran glauben. Aber als wir ihn an Ort und Stelle führten, da konnte er freilich nicht länger zweifeln. Er machte erst ein verdutztes Gesicht – dann brach er in ein schallendes Gelächter aus und schalt uns dumme Jungen und »Schweinbarteln«. Was wir gefunden hatten, war tatsächlich Thermalwasser, aber längst bekanntes und – schon benutztes: es war der Abfluß der Wannenbäder des nahen Theresienbades.

Das Theresienbad, berühmt durch sein ulkiges Sommertheater und durch seine sagenhaften unterirdischen Verliese, heute eine Kommunalbadeanstalt, war uns zu abgeschlossen, zu »exklusiv«, wir trauten uns nicht in seinen herrlichen Park; umso näher aber lag uns das »Pfannische« Bad. Es war auf der südlichen, Meidlinger Seite der damaligen Lainzerstraße gelegen, gegenüber meinem Geburtshause, das bereits zu Gaudenzdorf gehörte. Richtiger gesagt, es befindet sich noch heute dort. Aber wie hat es sich seither verändert, wie ist seine riesige Grundfläche, sein dichter, weiter Baumbestand zusammengeschmolzen! Nur mehr die Wannenbadeabteilung, das eigentliche »Schwefelbad« und ein winziges Gartenfleckchen sind übriggeblieben, parzelliert und verbaut sind die beiden großen, primitiv eingerichteten, dafür aber mitten im Grünen gelegenen Schwimmbassins. Im Winter blieb die ganze Anstalt geschlossen. Aber wenn im März, vor Ostern, das Tor sich knarrend öffnete und ein Mann mit Farbtopf und Pinsel sich daran zu schaffen machte, es zu renovieren, dann wußten wir Buben, die wir uns wenig um den gedruckten Kalender kümmerten, daß der Frühling ganz nahe sei; und wenn endlich eines Morgens über dem Tor die kleine weißrote Fahne flatterte, dann war es auch für uns höchste Zeit, die Winterspiele, Kasperltheater- und Laterna magica-Vorstellungen zu beenden und mit den Frühlingsspielen, dem Grüberlscheiben, Tempelhupfen und Fleckerlsetzen, den Ritter- und Indianerschlachten, zu beginnen. Hof und Garten des Pfannischen Bades, obwohl oder weil uns verboten, waren uns der liebste Platz dafür. Das Kassenhüttchen, neben dem Damenschwimmbad gelegen, mit seiner feenhaften Dekoration von Pelargonienstöcken, Wandspiegeln und Gipsfiguren, reizte uns mächtig, erschien uns wie der Eingang zu Aladins Wunderhöhle. Und eines Frühlingstages betrat ich es zum erstenmal, ohne daß mich die Kassierin hinausweisen durfte: Ich sollte selbst schwimmen lernen, und zwar nicht in der rauhen Männer-, sondern in der zarten Damenabteilung. Das wurde damals, da man an ein fröhliches Gänsehäufel mit Familienbad noch nicht einmal zu denken wagte, nur unter der Bedingung erlaubt, daß ich ein Mädchenschwimmkostüm mit Spitzen und Falbeln anlegte und mich »Fräul'n Fritzi« rufen ließ. Diese Komödie dünkte mir Neunjährigem ungeheuer entwürdigend, ich haßte meine »Badeschwestern« und wäre viel lieber bei meinen Geschlechtsgenossen im Herrenbade drüben gewesen, dessen Schwimmmeister allerdings von fürchterlicher, lebensgefährlicher Grobheit sein sollte, wo es aber auch viel mehr »Hetz'« gab. Einige Jahre später war es schon umgekehrt, da durfte ich nach Herzenslust bei den »Herren« drüben baden – aber da stieg ich wieder manchmal heimlich auf unseren Dachboden, um von dort aus wenigstens fernher einen Blick in die Tiefe, über die neidische Mauer ins Damenbad zu werfen ...

Mitte März war es gewöhnlich auch, da stiegen aus den Feldern, die unseren Vorort umgaben und sich besonders zu beiden Seiten des Südbahngleises weithin breiteten, außer den ersten Lerchen und den gelblich-grünen Hainichen da und dort lange Stangen, glatte Mastbäume empor. Sie bedeuteten keineswegs, daß hier ein Neubau aufgeführt werden solle, nein, sondern daß ein »Künstler« seine »Arena« aufzuschlagen im Begriffe sei. Der »Künstler« war für Volksbelustigung und Volkserziehung in den »enteren« Gründen und den Vororten damals ungefähr das, was heute der Kinematograph. Uns Buben zogen die Künste des »Künstlers«, besonders der »Riesenluftsprung« unter bengalischer Beleuchtung und zum Schlusse die große »Pantomime«, unwiderstehlich in ihren Bann, auch noch als wir die Mittelschule frequentierten und von Cornelius Nepos Griechen- und Römertugend lernen sollten. Am Abend auszugehen, das erlaubten mir und meinem intimsten Freunde, der in der Jugend so haarsträubend gottlos war und später bei den Franziskanern eintrat, unsere Eltern nur höchst selten und ausnahmsweise. So mußten wir uns meistens mit den Sonntagsnachmittagsvorstellungen begnügen. An diesen aber entbrannten unsere Herzen gleichzeitig und gleichmäßig für eine schwarzhaarige Primaballerina (die auch Obergarderobierin zu sein schien, weil sie in ihren freien Stunden die fleischfarbenen Trikots für das ganze Ensemble flickte und mit »Flinserln« benähte) mit solcher Heftigkeit, daß wir die Schöne aus ihrer schmachvollen Knechtschaft zu befreien und zu entführen gedachten. Wohin wir sie dann bringen, wie wir uns in ihren »Besitz« teilen sollten, das und noch etliche andere Nebenfragen machten uns vorläufig kein Kopfzerbrechen. Zuerst mußte sie eben »entführt« werden. Zur Entführung aber gehörte Geld, auf fünf Gulden mindestens schätzten wir die Kosten, und die mußten erst aufgebracht werden. Aber wie? Der Verkauf unserer entbehrlichsten Schulbücher trug kaum die Hälfte ein, der Nebenverdienst fiel auch nicht sehr ins Gewicht, den sich mein Freund durch eine bei einem Gymnasiasten immerhin eigentümliche Fertigkeit erwarb: Er strickte nachmittags Strümpfe – so wie er später als Franziskaner gegen billiges Entgelt für seine Fratres Kuttengürtel strickte! Also an dem Geldmangel drohte unser ganzer Plan zu scheitern. Da schien mir Fortuna in eigener Person zu lächeln. Unsere Greislerin ließ bei mir anfragen, ob ich nicht zur goldenen Hochzeit ihrer Eltern ein nicht ganz passendes Gedicht, das sie in ihrem »Wunschbuche« gefunden hatte, entsprechend adaptieren und dann kalligraphisch abschreiben wolle; sie werde sich dafür sehr erkenntlich zeigen. Ich übernahm die Aufgabe löste sie zur vollsten Zufriedenheit der Bestellerin und wurde auch glänzend dafür honoriert: Nur leider nicht mit Bargeld, sondern mit Naturalien – mit einem großen Paket von Indianerkrapfen, Schaumrollen und Pastortorten. Erst wollte ich ihr das Zeug entrüstet vor die Füße werfen, dann aber machte ich mit meinem Freunde und mit dem Bäckereipack unterm Arm einen Ausflug aufs »Fuchsenfeld«, wo wir uns zerrissenen Herzens und angesichts der luftigen Bretterburg, in der Dulcinea schmachtete, an den Süßigkeiten labten bis aufs letzte Bröselchen. Um das bereits ersparte Geld aber kauften wir uns einen Fensterglaszwicker und ein schwarz-rot-gelbes Band, die wir abwechselnd trugen: Einmal ich das Band und er den Zwicker, dann wieder ich den Zwicker und er das Band ...

Sollte man's für möglich halten, daß man einmal, vor einem runden Vierteljahrhundert, so – jung gewesen?

Wenn ich das Eckfenster meiner jetzigen Wohnung aufmache, dann sehe ich wohl nicht den in seiner nachgeahmten Romantik so nüchternen Kirchturm von Meidling, aber an klaren, köstlichen Frühlingstagen höre ich aus der Ferne seine Glocken. Noch hundert Erinnerungen tragen sie mir zu, fröhliche, aber wohl auch manche gar nicht frohe, diese Glocken, deren sanfter, melancholischer Dreiklang fester in mir haftet als irgendein anderer Sinneseindruck meines Lebens.

Was hat sich alles geändert in meinem Geburtsort seit jenem März, da ich durch mich selbst seine Einwohnerzahl um eine Eins vermehrte! Liebes ist verschwunden, Teures gestorben. Altgewohntes zerstört:

»Der Bach sogar verließ den alten Zug – –
Die Glocke nur, sie schlägt noch wie sie schlug.«


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