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»Guten Morgen wünsch' ich, womit kann ich dienen?« fragte katzbuckelnd der Spielwarenhändler, indem er die zweite der beiden Gaslampen über dem Ladentische entzündete; fügte aber sogleich in weit weniger verbindlichem Tone hinzu: »Ah so, Sie san 's nur, Frau Lackinger!«
In der Tat sah die vorzeitig ergraute, hagere Frau mit Kopftuch und abgeschabtem Lodenkragen, die in früher Vormittagsstunde den halbdunklen, über und über vollgepfropften, muffelnden alten Spielzeugladen betrat, nicht danach aus, als ob sie große Weihnachtseinkäufe besorgen wollte.
»Weil i g'rad' vorbeigeh',« sagte sie und trat bescheiden näher, »und weil i mir 'denkt hab', jetzten hab'n S' no am ehesten Zeit für mi, Herr von Heller, so möcht' i halt nachschau'n – so möcht' i halt nachfrag'n – so möchten mir uns halt erkundigen, i und mei' Mann, wie S' alsdann z'frieden sein mit unserm Buben, mit 'n Hermann.«
Der Angeredete hantierte mit einem Staubwedel, rückte verschiedene Gegenstände zurecht und zog die Brauen zusammen:
»Wie i z'frieden bin? No, gar so arg aus is 's net mit meiner Z'friedenheit. I könnt' mir schon an' brauchbarern Lehrbuben vorstell'n als wie Ihnern Hermann.«
»Oje, oje, oje, das hör' i aber gar net gern, Herr von Heller, da machen S' uns a große Sorg' und Kümmernis mit so aner Auskunft. Is er faul, der Bub'? Oder stellt er si' recht ung'schickt zum G'schäft? Oder folgt er Ihnen am End' net?«
»No naa, über das alles könnt' i net klag'n. Aber kein' rechten Ernst zeigt er halt net, die Spielereien interessier'n ihn viel mehr als wie die Kundschaften, mit ein' Wort – z' kindisch is er no', als daß ma' si' auf ihn ordentlich verlassen könnt'.«
Die Frau seufzte tief auf:
»Z' kindisch is er! No ja, da hat ma' 's wiederum! Weg'n dem hab'n mir 'n ja aus seiner früheren Lehr' wegnehmen müssen, dort hab'n s' uns dasselbe g'sagt. Vierzehn Jahr' wird er schon am Februar, in dem Alter müssen si' tausend und tausend andere ihner Brot verdienen, aber er hat halt sein' Kopf no' allerweil' nur auf Kindereien. Drum war'n m'r ja eb'n so z'tod froh, mei' Mann und i, daß 'n Sö g'nommen hab'n, Herr von Heller, das war' so der richtige Beruf für ihn, hab'n mir uns 'denkt –«
»Scheint aber doch net der Fall z' sein,« brummte der Spielwarenhändler, »im Gegenteil, möcht' i beinah' sag'n, g'rad' bei unsern G'schäft hat er die meiste G'legenheit zum Spiel'n, zum Kindischsein, und die mißbraucht er, daß einem mannig'smal die Geduld reißt. Statt daß er dazuschaut, daß alle Kundschaften so g'schwind wie möglich bedient werd'n – der Andrang is natürlich jetzten groß und grad' in unserer Bransch' muß man die letzten Täg' vor Weihnächten ausnutzen – steht er halbe Stunden lang bei einer einzigen, die vielleicht nur um a paar Sechserln was einkaufen will, der er aber alles Mögliche zeigt und erklärt und demonstriert, was ihm selber am besten g'fallt, dem Kindskopf, dem Spielratzen. Gestern auf d' Nacht erst hab' i desweg'n mit ihm ein' Auftritt g'habt, weil er mitten im bummvollen G'wölb', wo fufz'g Ungeduldige hunderterlei Wünsch' g'habt hab'n, a Kasperltheater auspackt und aufg'stellt und a ganz's Stuck drauf zum spiel'n ang'fangt hat. Wann mir so was no' amal vorkommt, so muaß er geh'n, stantepeh, vor 'm heiligen Abend no'.«
»Jessas und Josef, das werd'n S' uns do' net antuan, Herr von Heller!«
»Ja, ja, es is net anders, auf die Art hilft er mir ja net, der Bub, sondern halt't mi' eher auf ... Hermann! Komm' amal her da! Hermann! Er hört schon wieder net. Im Magazin is er hinten, die neuchen Zauberlatern' mit Kinematograph soll er aus die Kisten nehmen, die was gestern ankommen sein, weil gar a so a große Nachfrag' is danach ...«
Herr Heller ging nach dem Hintergrunde des Ladens, auf eine offene Tür zu, aus der von fern und ferner mehrere Gasflammen schimmerten. Immer wieder »Hermann!« rufend, verschwand er im Magazin. Nach etlichen Minuten kam er zurück, aber sein Gesicht war jetzt rot und zornig und mit der Rechten zog er einen bleichen und schwächlichen, eingeschüchterten und verlegenen Knaben heraus:
»No also, da hat man 's ja wieder! Ob i 's net g'ahnt hab'! Statt daß er sich tummelt, hockt er bei einer offenen Schachtel und tändelt mit einer Zauberlatern' herum. Statt daß er arbeitet – spielt er halt! Jetzt sein S' Zeugin, Frau Lackinger, und können selber aufrichtig sag'n, ob mir mit so ein' G'hilfen gedient is oder net!«
»Aber Hermann,« schmälte die hagere Frau fast weinend, »hast denn gar kein Einsehg'n, wirst denn du gar net vernünftig werd'n? Vierzehn Jahr' bist schon bald alt und no allerweil' weißt nix vom Ernst des Lebens, no' allerweil' bist so kindisch, no' allerweil' denkst auf nix als wie auf's Spiel'n! Du mußt do' g'scheit sein, du mußt di' do' dem Herrn von Heller dankbar zeig'n, daß er di' in sein G'schäft aufg'nommen und 'm Vatta und mir damit eine große Last abg'nommen hat. Begreifst denn das net?«
Der Knabe beteuerte mit heißen Wangen und zitternden Lippen, daß er es begreife und sich von nun an alle erdenkliche Mühe geben wolle.
Ein wenig hoffnungsvoller verließ seine Mutter den Laden, nachdem sie nochmals um Nachsicht und Geduld gebeten hatte ...
Bis gegen drei, vier Uhr nachmittags ist der Geschäftsverkehr im Spielwarenhaus Heller ziemlich flau, und jede einzelne Kunde kann darum unter den mannigfachen Vorräten so lange wählen und prüfen, wie es ihr beliebt. Jeder einzelnen steht der junge Hermann Lackinger mit Feuereifer und Höflichkeit und Sachkenntnis zu Gebote und jedes Stück Spielzeug lobt und beleuchtet und erläutert und »emballiert« er so zärtlich umständlich, als könne er sich nur schweren Herzens von ihm trennen. Mit erneuter kopfschüttelnder Mißbilligung sieht ihm sein Chef zu; mit um so größerer Mißbilligung, je tiefer der Abend sinkt und je mehr kauflustiges Publikum von der Straße über die Stufen ins Lokal drängt. Meist sind es Frauen und Männer aus dem Arbeiterstande, die um wenige schwer verdiente Kreuzer ihren Sprößlingen eine Weihnachtsfreude bereiten wollen, die nicht lange suchen und feilschen, aber auch rasch abgefertigt sein wollen. Plötzlich aber machen sie mit angeborner, wenn auch widerwilliger Ehrfurcht einer eleganten, jungen Dame und einem älteren, vornehm gekleideten Herrn Platz, denen es zweifellos um einen bedeutenderen Einkauf zu tun ist. Der Spielwarenhändler und seine Frau, die längst zur Unterstützung herbeigeeilt ist, grüßen mit lauter Stimme, aber beide sind eben jetzt zu sehr in Anspruch genommen, um sich der noblen Kundschaft sofort zu widmen. Der alte Herr wendet sich an den blassen, ärmlichen Knaben hinter dem Pulte:
»Haben Sie Eisenbahnlokomotiven mit Dampfbetrieb?«
»Aber Papa,« flüstert ihm seine Begleiterin zu und zupft ihn am Ärmel, »wir wollten ja nur für Elsa noch eine Kleinigkeit kaufen – Robert mit seinen dreizehneinhalb Jahren ist doch wirklich schon zu alt für solche Spielereien!«
»Paperlapap!« wehrt der alte Herr ab. »Ich kenn' ihn besser, den Buben, dem ist eine Spielereieisenbahn noch immer viel lieber als wie das Lateinische und Griechische trotz seinen dreizehneinhalb Jahren, und das nehm' ich ihm auch gar nicht übel und es ist auch gar kein Schaden und keine Schande. Die Kinderzeit ist auf jeden Fall zu bald vorüber, und je länger so ein Bub sich sein kindliches Gemüt bewahrt – – aha, da haben wir also eine Dampflokomotive!«
Hermann Lackinger, der jugendliche Spielwarenhandlungsgehilfe, hat längst die »Budel« so weit wie möglich abgeräumt für den gewünschten Gegenstand, eine herrliche, dreißig Zentimeter lange Eilzugslokomotive mit blankem Messingkessel und mattschwarzem Rädergestell, Schneepflug und Tender. Der Herr will sie ihm aus der Hand nehmen, um sie näher zu besichtigen, aber Hermann läßt sie nicht los, sondern putzt und schraubt und dreht an ihr herum und gibt, unbekümmert um die strafenden Seitenblicke seines vielbeschäftigten Chefs und um das amüsierte Lächeln der Käufer, die sachkundigsten, liebevollsten, ausführlichsten Erläuterungen. Und als die junge, vornehme Dame fragt: »Wird sie aber auch funktionieren?« da hat Hermann – sein Chef sieht es in maßloser Verwunderung und ohnmächtigem Groll – im Nu irgendwoher ein Fläschchen mit Spiritus hervorgeholt und setzt nun die Heizvorrichtung in Brand – und: »Puff! Puff!« fängt die Lokomotive zu pusten und zu rasseln an, und ihre Räder drehen sich schneller und schneller, und stolz fährt sie dahin. Aber nicht lang und nicht weit. Einen Stoß gibt es und einen kleinen Krach und einen Purzler – da liegt die ganze Pastete auf dem Boden mitten unter den erschreckt zurückweichenden Kunden, und ein bläulich brennendes Bächlein schlängelt sich über die Dielen, und die Lokomotivräder schwirren noch ein Weilchen hilflos in der Luft.
*
Der Tischlergesell Hermann Lackinger der Altere und seine Frau feierten einen trübseligen Christabend. In ihrem ärmlichen Zimmer saßen sie bei einer schlecht brennenden Lampe am karg bestellten Weihnachtstische und fingen Grillen und sorgten sich um die Zukunft.
»Jetzt haßt's alsdann wiederum a neuche Lehr' suachen für den Mistbuab'n, den patscherten, jetzt hat er si 's richti' wiederum verscherzt in so an' guaten Haus, wia 's das Hellerische is. I kann kan' Zorn hab'n auf'n Herrn von Heller, i verdenk' eahm 's net, daß er 'n außig'schmissen hat, den kindischen Tolpatsch!« Also Herr Lackinger. Frau Lackinger aber sagte:
»I waß net, wo er das her hat um Christi willen, der Bua! Tuat er's uns z' Fleiß oder is er wirkli' no' so dumm? Wia i so alt war wia er, da hab' i net nur für mi' selber allani, sondern ah scho' für meine drei jüngern G'schwister sorg'n müassen. I wett', wann i jetzten in die Kuchel 'nausschau' – er denkt net nach, was er ang'stellt hat und was weiter werd'n soll, naa, er is scho' wieder mitten im Spiel'n drin ...!«
Frau Lackinger kannte ihren Erst- und Eingebornen sehr gut. Der saß in der Küche, in die ihn elterliche Entrüstung verbannt hatte und die nur vom »Gang« aus schwach erhellt war, auf dem Fußboden und hatte die Eisenbahnlokomotive, die an seiner plötzlichen Entlassung schuld war, zwischen den Beinen.
Hauptsächlich aus Zorn über ihre schwere Beschädigung, zum Teil aber auch aus Mitleid mit dem unglückseligen Täter hatte sie ihm sein gewesener Chef, der Spielwarenhändler Heller, mitgegeben – genauer gesagt, nachgeworfen.
Und der Knabe Hermann, nahezu vierzehn Jahre alt und doch noch immer so weit entfernt von der Erkenntnis des Lebensernstes, noch immer so entsetzlich kindisch, war ihm dankbarer dafür, als wenn er ihn mit unkündbarem Kontrakte und steigender Gage angestellt hätte, war ihm zehnmal dankbarer als der Märchenhans seinem Herrn für den Klumpen Goldes.
Er gab die Hoffnung nicht auf, das lädierte Spielzeug wieder in Stand zu setzen. Aber selbst wenn dies nicht mehr gelingen sollte – sein Weihnachtsgeschenk war ihm auch, wie es war, wert und teuer. Liebkosend streichelte er das blanke Metall, im matten Lichtscheine ließ er es aufglänzen, und dann wieder schob er es hin und her über die Fliesen.
So weit er zurückdachte, einen so herrlichen Christabend hatte er noch nicht erlebt. Heuer zum erstenmal wußte er doch auch, was Weihnacht sei.
Er war heute vollkommen glücklich. Er beneidete niemanden auf der Welt. Er war eben zu kindisch.