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Der Fluch der guten Tat

»Was, der Krongast is g'storben?« rief Herr Johann Meier erstaunt. »Und vor vierzehn Tag' schon? Und das sagst du mir erst heut'?«

»Ich hab' 's selber nur durch Zufall erfahren,« entgegnete Herrn Johann Meiers Altersgenosse, Freund und Vetter, Herr Siegmund Mayer. »Ich hab' auch nicht wissen können, daß dich das so interessiert und aufregt.«

»Na, hörst du, er war doch unser Schulkamerad'!«

»Vor fünfundzwanzig Jahr', ja, sind wir mit ihm in die gleiche Gymnasialklass' gegangen. Das is ein bisl lang her. Und was die Kameradschaft betrifft – du wirst dich wohl noch erinnern können, wie beliebt bei gewissen Lehrern und wie wenig beliebt bei seinen Mitschülern der Krongast wegen seiner Denunziantenmanier war.«

»Mein Gott, diese Kindereien! Wir waren damals alle miteinander Buben! ... Er war verheiratet, der Krongast?«

»Ja. Und die Witwe soll sich nicht g'rad' in glänzenden Verhältnissen befinden. Er war zwar aus wohlhabendem Haus, der Krongast, und seine Frau hat, hör' ich, auch eine ganz nette Mitgift 'kriegt, aber weil er nie einen wirklichen, ständigen Beruf gehabt, sondern einmal da und einmal dort dilettiert und spekuliert hat und weil auch die Familie auf großem Fuß zu leben gewohnt war, so soll jetzt so ziemlich das ganze Gerstl verzettelt und verpufft sein. Aber ich komm' da ins Tratschen. Was geht mich, was geht uns die ganze Gschicht' an!«

»Etwas, denk' ich, geht sie uns doch an,« sagte darauf Herr Johann Meier ernst. »So viel wenigstens, daß wir der Witwe unseres verstorbenen Schulgenossen einen Kondolenzbesuch machen, daß wir nachschauen müssen, wie 's ihr geht.«

Herr Siegmund Mayer versetzte mit unterdrücktem Gähnen:

»Fallt mir gar nicht ein. Ich kenn' doch die Frau nicht. Den Besuch müßtest du schon allein machen. Aber auch dir möcht' ich raten, sei nicht sentimental, laß ihn bleiben. Er ist zum mindesten überflüssig.«

»Wer weiß!« sagte hartnäckig und nachdrücklich Herr Johann Meier ...

Und tags darauf war er auf dem Wege zur verwitweten Frau Mathilde Krongast.

Diese, eine kleine, schwächliche Dame, empfing ihn, nachdem er sich vorgestellt hatte, mit wahrhaft überströmender Herzlichkeit.

»Ich bin Ihnen so dankbar, lieber Herr Meier,« schluchzte sie ein- übers anderemal, »daß Sie sich zu mir bemüht haben, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin. Ich hab' ja gar niemanden auf der Welt als meine Kinder, unsere Verwandten sind zum Teil g'storben, zum Teil sind sie uns feindlich gesinnt, neue Freunde hat mein armer Mann keine g'sucht, und die alten, Sie wissen ja, haben ihn vergessen. Sie, Herr Meier, sind die einzige Ausnahm'. Ach Gott, wie ich Ihnen dankbar bin dafür!«

Herr Meier wehrte beschämt ab, suchte dabei im Geiste nach einer Gelegenheit, sich wirklich den Dank der schwergeprüften Frau zu verdienen, und kam endlich so takt- und schonungsvoll wie möglich auf ihre materiellen Verhältnisse zu reden. Er hoffe, ja, er sei überzeugt, sagte er. daß der Verewigte doch in dieser Hinsicht entsprechend vorgesorgt habe.

»Ich danke Ihnen tausendmal,« rief Frau Krongast, »daß Sie mich darum fragen! So hab' ich doch wenigstens einen Menschen, dem ich mein Herz ausschütten kann. Also glänzend gesorgt ist keineswegs für mich und meine Kinder. Mein armer Mann hat Pech g'habt in seinen Unternehmungen. Ganz zuletzt erst hat sich ihm ein G'schäft geboten, das unbedingt ein gutes G'schäft hätt' werden müssen, aber da ist er plötzlich abberufen worden ins Jenseits. Unser ganzes übriges Gerstl steckt in einem Zinshaus, das eben erst fertig worden ist und vor dem nächsten Viertel nicht vermietet werden kann, das aber mein Mann gekauft hat, weil es gar so preiswürdig, gar so billig unter der Hand zu haben war. Und jetzt is er tot und das Geld is festg'legt und ich steh' da. Die Leich' hat so viel gekostet und die Trauerkleider und die Gruft und die Trinkgelder – bares Geld hab' ich momentan keine zehn Kronen im Haus. Vor Ihnen, Herr Meier, brauch' ich mich ja nicht zu schämen ... Ich bin Ihnen ja so dankbar!«

Herr Johann Meier rückte verlegen auf seinem Stuhle hin und her und kämpfte mit einem Entschlusse. Endlich sagte er:

»Wenn ich mir die Freiheit nehmen dürfte ... Momentan ... Soweit meine Mittel reichen ... Ihr Herr Gemahl und ich ...«

»Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen! ...Hundert Kronen, ja, ich geb' Ihnen sofort einen Schuldschein darüber ... So ... Vielen, vielen Dank! ... Mein Himmel, es gibt halt gar nichts mehr aus heutzutage, das liebe Geld. Hundert Kronen, das hört sich großartig an, ist aber tatsächlich ein Pappenstiel. Wann ich nur wen wüßt', der mir ein paar hundert, der mir tausend Kronen leiht, bis die Erbschaft flüssig wird oder wenigstens bare Zinsen trägt! Aber ich kenn' ja gar niemanden als Sie, Herr Meier. Ihnen bin ich auch so viel Dank schuldig ...«

Als sich Herr Johann Meier mit dem Versprechen, recht bald wiederzukommen, entfernte, hatte er zwar das Gefühl, sich ohne Not eine kleine Unbequemlichkeit auf den Hals geladen zu haben, aber zugleich auch das Bewußtsein einer guten, wackeren Tat. Und jenes wurde von diesem weit überwogen. Als er jedoch seinen Vetter Siegmund Mayer fragte, ob er nicht der Hausbesitzerin Mathilde Krongast tausend Kronen, natürlich gegen ausreichende Sicherstellung, vorschießen wolle, lachte der ihm ins Gesicht:

»Keine Spur davon! Ein Geldverleiher bin ich nicht und zu Gefälligkeiten hab' ich keinen Grund. Sie soll sich an eine Sparkasse, an ein Kreditinstitut wenden. Sag' ihr das – oder nein, schreib' es ihr. Hingehen möcht' ich an deiner Stell' überhaupt nicht mehr.«

Herr Johann Meier ging doch hin. Und verschaffte der Witwe seines toten Schulkameraden das gewünschte Darlehen. Dafür war sie ihm neuerlich »so dankbar, so dankbar«. Wenn sie auch fünfeinhalb Prozent Zinsen ein wenig hoch, ja, ziemlich hoch fand, so war sie dennoch von Herzen dankbar.

Etwa die Hälfte des mörtelfeuchten, weit draußen an der Stadtgrenze gelegenen Zinshauses wurde vom nächsten Viertel an vermietet. Wer ihr behilflich gewesen wäre, auch die andere Hälfte an den Mann zu bringen, der hätte sich ihren und ihrer Kinder (sie besaß zwei Mädchen im Alter von zehn und vierzehn, und zwei Knaben von zwölf und siebzehn Jahren) unauslöschlichen Dank verdient. Sie selbst war ja viel zu unerfahren, auch durch den Tod ihres Gatten noch zu sehr erschüttert, um etwas Geeignetes zu unternehmen. Und sie hatte zu niemandem auf Erden Vertrauen als zu Herrn Johann Meier. Dieser tat nach einigem Schwanken und Zögern alles, das große Vertrauen zu rechtfertigen. Und widmete allmählich dem Hause der Witwe und der Kinder seines ehemaligen Mitschülers so viel unentgeltliche Sorgfalt und Sorge, als ob er selbst dieses Hauses Eigentümer oder doch gutbezahlter Administrator gewesen wäre.

Die Verlassenschaftsabhandlung machte ihm auch etliche Mühe. Frau Mathilde Krongast traute einerseits keinem Notar oder Advokaten über den Weg und war andrerseits natürlich nicht imstande, sie zu kontrollieren. Herr Johann Meier dagegen schien ihr vermöge seiner Klugheit, seiner Tatkraft und seiner Stellung als Bankbeamter aufs trefflichste dazu geeignet. Sie bat ihn zwar nicht darum, o nein, aber sie beteuerte ihm ihre ewige Dankbarkeit, da er sich nach kurzem Zögern dazu bereit erklärte.

Das geschah in seinem Bureau. Denn Frau Mathilde Krongast konnte nicht von ihm verlangen, daß er sich immer wieder in ihr bescheidenes Heim bemühte. Sie suchte ihn an seinem Schreibtische auf, bald vormittags, bald nachmittags, sie erwartete ihn vor dem Bankgebäude, einmal vor und einmal nach Schluß der Bureaustunden, in tiefster Trauer, in demütiger Haltung und mit tränenschwimmendem Blick, häufig einen oder zwei ihrer verwaisten Sprößlinge an der Seite.

Die machten ihr auch rechten Kummer, wahrhaftig. Sie waren ja gewiß keine bösen, keine faulen Kinder, aber der Verlust des Vaters und die erzwungenen materiellen Einschränkungen hatten sie so aus dem Gleichgewichte gebracht, daß es mit ihren Schulfortschritten betrüblich aussah. Der Vormund – mein Gott, ein wildfremder, gleichgültiger Mensch, ein gerichtlich bestellter Vormund! Was konnte man von dem erwarten! Aber wenn Herr Johann Meier, der gute, treue, edle Herr Meier ihnen die Leviten lesen, ihre Lehrer besuchen, ihre Aufgaben hätte nachsehen wollen, das hätte sicherlich geholfen.

»Bitte, wissen Sie denn sonst gar niemanden, gnädige Frau, an den Sie sich wenden könnten?« fragte sie Herr Johann Meier endlich einmal, da sie ihn wieder in einer amtlichen Konferenz mit seinem Vorgesetzten störte, mit einiger Schärfe und Ungeduld.

Und sie darauf voll Märtyrersanftmut:

»Niemanden ... Gelt, Poldi, wir hab'n keinen Menschen, der 's gut mit uns meint, als den Herrn Meier ... O, wir sind Ihnen aber auch so dankbar, die Kinder und ich!«

Da schämte sich Herr Johann Meier in die Seele hinein und versprach alles, alles, worum man ihn bat.

Bat? Frau Mathilde Krongast erbat niemals das Geringste. Sie dankte nur immer inniglich, dankte höchstens im voraus. Und das eifrige Danken kann man doch niemandem zum Vorwurfe machen.

Johann Meier war der letzte, der ihr einen Vorwurf daraus machte. Aber ein wenig nervös wurde er mit der Zeit, er, der früher als Junggeselle in den besten Jahren, in einem angenehmen Berufe und mit mehr als hinreichendem Einkommen überreizte Nerven nur vom Hörensagen gekannt hatte. Er hatte jetzt mehr als doppelt so viel Beschäftigung wie früher, mit Steuerbekenntnissen und Steuerrekursen, Vermietungsankündigungen und Leerstehungsanzeigen, Mietzinsklagen und Mietzinspfändungen, dazu Arger mit störrischen Gewerbs- und ungetreuen Hausbesorgersleuten. Seine Nachmittage und Abende waren schier reichlicher mit Arbeit ausgefüllt als seine Vormittage. Ins Kaffeehaus kam er nur selten. Seinem Freund und Vetter Siegmund Mayer wich er nach Möglichkeit aus.

Im Bureau sprach und tuschelte man längst über die oftmaligen »Damenbesuche«, die er empfing, und die allerwenigsten waren geneigt, seinen opferwilligen Edelmut anzuerkennen. Portier und Diener wurden unhöflich, wenn sie Frau Mathilde Krongast anmelden mußten, die arme Witwe, die ihnen noch nie einen Heller Trinkgeld gegeben hatte, die Kollegen machten schlechte Witze, die Vorgesetzten gaben hie und da unter Hinweis auf die Dienstordnung, die »eigentlich« jeden Privatbesuch während der Geschäftsstunden verbot, ihrer Unzufriedenheit Ausdruck.

Nicht ohne Grund mußte Herr Johann Meier fürchten, bei der nächsten Beförderung übergangen zu werden.

Einzig das Bewußtsein seiner Schuldlosigkeit, das Bewußtsein seiner guten Tat konnte ihn trösten. Und die immer wieder beteuerte ewige Dankbarkeit seiner Schutzbefohlenen.

Die Lasten, die er freiwillig auf sich genommen hatte, wurden mit der Zeit nicht kleiner, sondern immer größer. Die jüngere Tochter mußte er auf Wunsch der Mutter in einem Pensionat unterbringen, was mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden war, weil Frau Mathilde Krongast keines kannte, aber gegen jedes, das Herr Meier in Vorschlag brachte, berechtigte Einwendungen hatte. Die ältere Tochter verlobte sich, und Frau Mathilde war ihm aufrichtig dankbar, als er über den Bräutigam die nötigen Erkundigungen einzog, da sie niemanden hatte, der dies so gut besorgen konnte wie er. Der ältere Sohn fiel bei der Maturitätsprüfung durch, und Johann Meier mußte ihn trösten und ihm seine Selbstmordabsichten ausreden und den Herren Professoren den Standpunkt klarmachen. Der jüngere absolvierte mit Ach und Krach die Unterrealschule, und wer sonst als Johann Meier hätte die Schritte einleiten sollen, um ihm die Aufnahme in eine Kadettenschule zu sichern? Das Zinshaus wollte Frau Krongast verkaufen. Herr Meier suchte fieberhaft Käufer dafür. Aber so oft er einen gefunden hatte, war sie wieder anderen Sinnes geworden.

»Gott im Himmel allein weiß, wie unendlich dankbar ich Ihnen bin!« sagte sie aber jedesmal mit feuchten Augen. Das vergaß sie nimmermehr zu betonen ...

Herrn Johann Meiers braunes Haar und blonder Bart, ganz wenig grau meliert, da er die Witwe Krongast zum erstenmal sah, sind rasch und gründlich erblichen, sein Gang müde und schlaff, sein ganzes Gehaben reizbar und fahrig geworden. Wenn er nun auch den ernstlichen Willen hätte, sich der aufreibenden Dankbarkeit der kleinen, schwachen Frau endgültig zu entziehen, so bringt er doch dazu die Kraft nicht mehr auf. Am liebsten ginge er vorzeitig in Pension und vergrübe sich in ein unbekanntes, entlegenes Nest, wo ihn Frau Mathildens Dankbarkeit nicht erreichte.

»Von der, mein Lieber, kann dich nur der Tod scheiden,« meinte Herr Siegmund Mayer, als er seines geschlagenen Vetters doch einmal auf der Straße habhaft wurde und dieser ihm sein übervolles Herz ausschüttete, boshaft und schadenfroh. »Warum hast du nicht auf meine Warnung gehört? Warum hast du's nicht so gemacht wie ich? Jetzt mußt du schon die Folgen deines überspannten Edelmutes tragen, den sauren Becher ausschlürfen bis zur Neige. Siehst du – das ist der Fluch der guten Tat ...«

Wir alle sind natürlich weit entfernt davon, dem kaltherzigen Selbstsüchtling Siegmund Mayer beizupflichten. Unsere Sympathien sind ganz unzweifelhaft auf seiten des hilfsbereiten Herrn Johann Meier. Aber in diesem besonderen Falle scheint das Leben selbst jenem recht, diesem unrecht zu geben. Was es damit bezweckt, das Leben, können wir freilich nicht wissen.


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