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Der Herr des Fastens und die Schwarze Blume traten ein. Sie trugen Rosenknospen in den behandschuhten Händen. Montezuma nahm die Rosen entgegen und stellte sie in eine für diesen Zweck bereitstehende Tonvase. Dann kniete die Schwarze Blume nieder und küßte dem Großkönig die Hände und die Füße. Montezuma zog ihn empor, umarmte ihn und umarmte auch den Oheim. Auf silbernen Sesseln, dem Thron gegenüber, nahmen die Gäste Platz.

Die herkömmlichen, feierlich zeremoniösen Begrüßungsformeln wurden ausgetauscht; und sie klangen heute nicht so kühl wie neulich im Schloßgarten von Tlateloko. Dann stellte Montezuma die aus Höflichkeit hinausgeschobene Frage, was »den König und großen Chichimeca seinen lieben Vater und Oheim« (so lautete die Anrede) hergeführt habe.

Der Herr des Fastens berichtete nun das Wunder. Ein Grab hatte sich geöffnet. Papan, die Bestattete und Beweinte, war zurückgekehrt aus dem Himmel der Sonne.

Ohne Ausruf des Staunens oder Schreckens, regungslos hörte Montezuma zu. Lange schwieg er, nachdem der alte König seine Erzählung beendet.

Seine dünnen Lippen lächelten noch immer, doch in seinen Augen hatte sich ein böser Trotz verhärtet – ein Trotz gegen den Himmel und gegen den Mann, der ihm die Unheilsbotschaft überbrachte, um ihnzu demütigen.

Nie war es geschehen, daß ein Toter wieder auferstand. Bis vor hundert Jahren wurden alle Leichen auf den Scheiterhaufen gelegt, und auch jetzt noch war die Leichenverbrennung allgemein Sitte unter dem Volke. Erst in jüngster Zeit hatten die Könige und reiche Adlige begonnen, ihre Toten in unterirdischen, mit Kalk und Stein ausgemauerten. Grabhäusern beizusetzen. Und immer bisher hatten die Verschlußplatten vor den Grabeingängen dem Heimweh der Toten widerstanden.

»Ich will sie nicht sehen!« sagte endlich Montezuma. »Gespenster muß man verscheuchen. Ich werde Priester hinschicken, die sie ins Grab zurückführen sollen!«

Es war klar: Montezuma wollte sie wieder einmauern lassen, obgleich er wußte, daß sie lebte. Die Sterne durften nicht recht haben! Wenn Zeichen geschahen, so geschah ja auch, was die Zeichen androhten. Das durfte nicht sein, Stolz und Furcht wiesen es von sich. Das Geschehene mußte ungeschehen sein und bleiben.

Der Herr des Fastens verlor seine Selbstbeherrschung. Erregt stand er auf und trat nahe an Montezuma heran. »Der Himmel birst, die Erde klafft«, rief er keuchend, »doch du Verblendeter willst blind sein, willst nicht sehen!« Und wie ein mahnender Seher erhob er den Arm.

Da ereignete sich etwas Unerhörtes. Der Hund Montezumas hatte die Armbewegung falsch gedeutet. Ohne zu bellen, unheimlich still, stand er plötzlich neben dem Herrn des Fastens, und an ihm emporspringend, biß er ihn ins Handgelenk, nahe bei der Pulsader.

Doch fast im selben Augenblick lag auch schon der Hund tot am Boden. Prinz Schwarze Blume hatte ihm mit seinem Obsidiandolche den Bauch aufgeschlitzt. Eine dunkle Blutlache breitete sich langsam auf dem weißen Marmorboden aus.


Montezuma war emporgeschnellt. Er und die Schwarze Blume starrten sich in die Augen.

Augen können aufeinandertreffen wie Feuersteine und Zündflammen geben. Blühende Städte sind durch solche Funken eingeäschert worden.

Es stand in Montezumas Macht, den Brand mit Blut zu löschen. Doch er war ein Zauderer, gebunden und gehemmt durch die Spinnfäden seiner Ränke. Heute brauchte er den Frieden. Und so ließ er die Hand, die schon mit dem Dolchgriff spielte, wieder sinken.

Der Vorsteher des Hauses der Teppiche, der Oberhaushofmeister, trat ein. Verwirrt durch den Anblick des toten Hundes, brachte er stotternd vor: im Saale der Gesandten warte ein Bote mit wichtiger Nachricht aus der totonakischen Provinz am östlichen Weltmeer.

Der Botendienst in Anahuac war gut geregelt. Obgleich die amerikanischen Völker keine Reittiere besaßen, konnten Briefe aus den entlegenen Teilen des Reiches die Hauptstadt in kürzester Zeit erreichen. An den gutgepflasterten Kunststraßen waren in gleichen Abständen Stationen erbaut, wo immer Träger und Boten bereitstanden, einander abzulösen.

Die Läufer hatten weithin sichtbare Abzeichen, an denen zu erkennen war, ob sie dem Könige wichtige oder weniger wichtige, gute oder schlimme Nachricht überbrachten. In den Dörfern und Städten, die sie durchliefen, hinterließen sie zuweilen Jubel, zuweilen Trauer. Und waren sie im Großen Palast angelangt, so sahen die Hofbeamten gleich, ohne den Inhalt der Botschaft zu kennen, ob der Herr der Welt beim Essen, Spiel und Schlaf gestört werden durfte. So wußte auch der Vorsteher des Hauses der Teppiche, daß der eben eingetroffene Bote wichtige Kunde trug, und er hatte es gewagt, ungerufen in den Thronsaal einzutreten.

Seine Meldung brach den beklemmenden Bann. Gleichmütig, als wäre nichts vorgefallen, befahl Montezuma dem Haushofmeister, die Berater der Krone zugleich mit dem Boten hereinzuführen. Der Vorsteher des Hauses der Teppiche entfernte sich. Nackte Sklaven eilten herein und trugen die weißliche Hundeleiche hinaus. Zwei schöne Coccs in grasgrünen, bis an die roten Knie reichenden Röcken brachten Tonschalen mit heißem Wasser und scheuerten den Marmorboden. Der rote Fleck wollte jedoch nicht bleichen.

Dann traten, mit phantastisch gegabelten Zeremonienstäben in den Händen, die Ratgeber ein: Cuitlahuac, der Überwältiger, Fürst von Iztapalapan und einziger Bruder Montezumas, Quauhpopoca, das Schwelende Holz, und Xuchitl, die Rose, zwei Oberfeldherren im Rang von Vorstehern des Hauses der Spiegelschlange, und endlich der Cihuacoatl, d. h. der Weibliche Zwilling – der höchste Würdenträger, wir würden sagen Kanzler – mit Namen Tlilpotonqui, der Schwarze Amber.

Die Willkür eines mexikanischen Despoten hatte Grenzen. Bei allen Staatsgeschäften stand ihm ein diademloser Nebenkönig, der Weibliche Zwilling, zur Seite. In früheren Zeiten hatten schwächliche Könige ein Schattendasein neben tatkräftigen Weiblichen Zwillingen geführt. Aber schon den letzten Vorgängern Montezumas war es geglückt, die lästige Bevormundung dadurch unwirksam zu machen, daß sie Greise zu diesem Amt ersahen. Halberblindet war der Schwarze Amber und ging gebeugt unter der Last von hundertundsechs Lebensjahren.

So sehr die beiden Feldherren einander äußerlich glichen, übereinstimmend in der Farbe und Form des Federwamses, des Federhelmes, der Sandalen mit goldenen Glöckchen – so verschieden war ihr Auftreten und Benehmen. Während die Rose einen ungezügelten Stolz zur Schau trug, erschien das Schwelende Holz überernst und bescheiden, in seinem blaugelb gestreiften Antlitz war ein starr melancholischer Ausdruck unverkennbar – trotz der Bemalung und obgleich die untere Gesichtshälfte verdeckt war durch das Abzeichen hohen Kriegerranges, ein Nasengehänge aus Türkis in Gestalt einer kleinen dreistufigen Treppe, an der durchbohrten Nasenscheidewand befestigt, reichte es bis zum Kinn hinab. Das Schwelende Holz stand Montezuma besonders nahe, seit er ihm in Atlixco das Leben gerettet, das geschah bei einem Sklavenraubzuge, den der Zornige Herr – noch als Prinz, doch schon zum König gewählt – hatte unternehmen müssen, um zur Feier seiner Krönung die nötige ungeheuerliche Anzahl Menschenherzen dem Himmel darbringen zu können. Das Schwelende Holz und der König waren Altersgenossen, eben ins vierzigste Lebensjahr getreten. Die Rose war zwei Jahre jünger, wie auch Montezumas Bruder, der Überwältiger.

Zwar fieberverzehrt infolge einer nie heilenden Beinwunde, die das Pfeilgift eines südlichen Volkes verursacht, und entstellt im verschrumpften Gesicht durch das Heraustreten der breiten Backenknochen und der gebogen vorspringenden Nase (was ihm den Ausdruck eines entfiederten Papageien gab), hatte doch der Überwältiger ein kraftvolles, ritterliches Wesen. Wie Montezuma war auch er schweigsam, doch schneller zum Handeln bereit. Und der gefestigte ruhige Blick seiner schwarzen Glanzaugen unterschied sich vorteilhaft vom unsicheren Geflacker in den Augen des Großkönigs.

Nach stummer Begrüßung nahmen die Ratgeber auf niedrigen, mit buntgemusterten Baumwollkissen bedeckten Schemeln Platz, rechts und links von den Gästen aus Tezcuco einen Halbkreis um Montezuma bildend.

Der Mann, den der Vorsteher des Hauses der Teppiche hereinführte, war kein gewöhnlicher Bote, vielmehr ein Staatsdiener von Rang, der das Amt eines Steuererhebers in dem vor kurzem unterworfenen Küstenlande versah. Er hatte sich gescheut, die ungeheuerliche Kunde, die er wußte, gemeinen Läufern anzuvertrauen, darum hatte er selbst den weiten Weg vom Meer bis zur Hauptstadt in der Sänfte zurückgelegt.

Eintretend ließ er ein Kügelchen aus Kopalharz in ein Kohlenbecken fallen, um dem Herrn der Welt zu räuchern, er näherte sich mit drei Verbeugungen, wobei er »Großer Herr! Großer Herr! Erhabener großer Herr!« sprach. Dann warf er sich zu Boden und erhob sich erst, als eine Handbewegung Montezumas ihn zum Reden ermuntert hatte. Er begann mit niedergesenkten Blicken: »Töte mich, o König und Herr, ich habe zehnfachen Tod verdient, denn ungerufen kam ich! Vernimm, was ich gesehen, als ich am Ufer des Ostmeeres stand. Drei Häuser, gezimmert aus Holz, groß wie Türme oder wie kleine Hügel, schwammen auf den Wellen, so leicht, als wären es Nachen. Und auf den Dächern der drei Wasserhäuser sah ich weiße Götter, Diener des großen Quetzalcoatl. Doch ob Unser Herr Quetzalcoatl unter ihnen war, weiß ich nicht.«

Eine Schwalbe hatte sich in den Saal verirrt und schoß unter dem Zedergebälk hin und her, einen Ausweg suchend. Ihr ängstlicher Ruf schrillte durch die Totenstille.

Nach einer Weile fragte Montezuma:

»Sind sie herabgestiegen auf die Erde?«

»O großer König, o Zorniger Herr, mein Auge sah es nicht«, sagte der Steuererheber. »Die Wasserhäuser glitten nordwärts, vorbei an der Bucht, wo ich stand. Weiter nördlich können sie herabgestiegen sein. Ich aber eilte her in den Großen Palast, um es vor deinem Mund und deinem Antlitz zu melden.«

Montezuma saß lange in Nachdenken versunken. Dann ließ er den Blick über die Ratgeber schweifen. Die Ungeduld des Feldherrn die Rose war unverkennlich.

»Rede«, sagte Montezuma.

»O großer König, o Zorniger Herr! Dein Kriegsheer ist deine Axt! Recke deinen Arm aus bis an die Meeresbrandung. Mache mich zur Hand, die deine Axt schwingt ...«

Montezuma unterbrach ihn.

»Tapferer Krieger Xuchitl«, sagte er, »hast du schon mit Göttern gerungen ?«

Die Rose schwieg.

Der König wandte sich fragend an den Überwältiger.

»Und was denkt mein Bruder?«

»Im Jahre Vier-Haus«, sagte der Überwältiger, »– das sind jetzt zehn Jahre – kam auch ein Bote, der Wasserhäuser auf dem Meere gesehen und auf ihren Dächern weiße Götter. Doch unser Land betraten die Söhne der Sonne nicht.«

»Weil wir sie mit süßem Blut beschwichtigt haben!« ertönte es aus dem zahnlosen Munde des Weiblichen Zwillings.

Wie unangebracht dieser Ausruf war, empfanden alle peinlich. Montezuma vermied es, den Herrn des Fastens anzusehen. Der weiße Gott, vor dessen geweissagter Rückkunft Mexico zitterte, war ja der Friedensbringer, der Feind des Krieges, Quetzalcoatl, und der hatte gegen den blutrünstigen Opferdienst geeifert.

Montezuma verfiel wieder in ein dumpfes Sinnen. Über alle Anwesenden breitete sich die Ratlosigkeit wie ein schwarzer Schleier. War also Mexico auf dem Irrwege, als es sich vom Himmel begünstigt geglaubt und zum Dank für die Himmelsgeschenke – sowie um den Strom der Götterhuld nicht verebben zu lassen – die Opferzahl vertausendfacht hatte? War es besessen von einem Blutrausch, einem Blutwahnsinn ? Immer höher war ja der Blutschaum emporgeschäumt. Doch hatten nicht Tezcatlipoca und Huitzilopochtli ihre Allmacht dauernd bewiesen, indem sie, zum Lohn für die Opfer, Siege und immer wieder Siege verliehen? Hatte nicht Quetzalcoatl vor ihrer Macht aus Tula weichen müssen, ein gemarterter Flüchtling? Oder sprachen die Prophezeiungen wahr, daß er siegreich sie ablösen käme? Konnten also Götterpaläste zerschlagen werden wie die Paläste der Könige, deren verfallene Mauern rings in den Landen aus Trümmerhügeln ragten? Die Treulosigkeit der Erde beim Erdbeben mußte weniger grauenvoll sein, als wenn der Himmel bebte und Götter wankten ...

Montezuma sagte zum Boten:

»Du bist ermattet von weiter Fahrt, geh mit der Götter Segen in dein Haus, dich ausruhen ... Das Meer soll bewacht werden, ich werde Mannschaften aufstellen als Wächter. Wir haben durch deinen Mund ein Geheimnis gehört, das niemand außer uns wissen darf. Gib acht auf deine Zunge – sonst stirbst du und dein Weib, deine Söhne und Töchter, dein Haus wird vertilgt bis auf die Grundmauern, so daß das Wasser der Erde emporsprudelt, und von deiner Verwandtschaft bleibt keiner am Leben. – Geh!«

Der Bote wurde hinausgeführt.

Montezuma erhob sich und trat an den Herrn des Fastens heran.

»Ich will sie sehen«, sagte er leise. »Die Toten sind die Erwachten, wir aber träumen noch. Wolke wollte ich sein, doch das Licht schiebt die Wolke beiseite. Jetzt muß ich sie sehen und hören ...«


In seinem goldenen Tragsessel ließ sjch Montezuma von vier königlichen Sänftenträgern nach Tlatelolco bringen. Hinter ihm her, in sechs anderen Sänften, wurden der Herr des Fastens, die Schwarze Blume und die Ratgeber getragen. Ein Sklave eilte dem Zuge voraus und blies in eine Muscheltrompete, damit die Bewohner Tenuchtitlans Zeit hatten, sich auf den Boden zu werfen vor dem Zornigen Herrn. Wo er vorbeikam, auf den Straßen, Marktplätzen und Kanalbrücken, lag das Volk anbetend da, mit niedergesenkten Blicken – wer gewagt hätte, den Beherrscher der Welt anzuschauen, wäre unverzüglich gesteinigt worden. Die Könige von Mexico wurden nach ihrem Tode Götter; aber schon bei ihren Lebzeiten wurden sie mit der Furcht verehrt, die Gottheiten zukam.

Papan ließ sich von ihren Frauen im Bette aufrichten, als ihr gemeldet wurde, daß ihr Bruder ihren Witwensitz betreten. Weiße Orchideen mit gelbroten Mäulern waren in ihr Haar geflochten.

Montezuma, der Herr des Fastens und der Überwältiger traten ins kreisrunde Schlafgemach ein und näherten sich ihrem Lager. An der offenen Tür blieben in ehrfurchtsvoller Entfernung die Schwarze Blume, die beiden Feldherren, der Weibliche Zwilling und ein Page.

»Heil dir, Papan«, sagte der Herr des Fastens. »Wie der Hirsch den Ruf der verwundeten Hinde, so hat der große König den Ruf seiner Schwester vernommen.«

Das Zeremoniell schrieb vor, daß der Besucher Blumen überreiche. Zu diesem Zweck hatte Montezuma einen halbwüchsigen Diener mitkommen heißen. Jetzt winkte er ihn heran und entnahm der weißen Nephrit-Vase, die der Knabe trug, einen Strauß gelber Federnelken. Er streute die Blumen über Papans Lager. Es war wie eine Opferhandlung, scheu und unpersönlich.

Über die Wangen des Überwältigers rollten Tränen. Er kniete nieder und küßte die Hände der wiedergekehrten Schwester. Ihre abgemagerten, rotbemalten Finger mit den milchweißen Nägeln waren fiebrigwarm und zittrig wie eben dem Ei entschlüpfte Wachteljunge im Nest.

»Du bist kein Gespenst! Du bist unser Edelstein, unsere kostbare Feder! Nie warst du tot!« rief der Überwältiger.

Noch immer konnte Montezuma sein Grauen nicht meistern. Es verstimmte ihn, daß der Bruder zuerst gesprochen. An ihm war es, der Erwachten Heil zu wünschen. Noch hatte er es nur mit dem stummen Blumengruß getan.

Er zwang sich. Und gezwungen klang, was er sprach.

Er selbst staunte über den fremden, hohlen Ton seiner Stimme. Allzu feierlich rief er:

»Die Sonne und die Erde haben dein Antlitz gewaschen, Schwester. Du hast ein anderes, neues. Sage es uns, Schwester, ob du lebst oder ob ein böser Geist deine Gestalt stahl, um uns zu schrecken! ...«

Papan lächelte.

»Meine Seele kam in mich zurück«, sagte sie. »Doch des großen Königs Herrlichkeit soll nicht erschrecken meinethalb«, fügte sie fast schüchtern hinzu.

»Nie habe ich gehört, daß Tote erwachen!« murmelte Montezuma.

»War ich eine Tote? Ich weiß nur, daß ich jetzt lebe«, sprach sie sinnend. »Wenn ich nicht tot war, so lag ich in einem steinernen Schlaf und habe mich und euch alle getäuscht, ohne es zu wollen. Euch allen muß es ja ein Wunder scheinen«, fuhr sie fort und blickte den rings Versammelten ruhevoll in die Augen, »ja, ein Wunder muß es euch scheinen, daß ich atme und spreche. Wenn ihr nicht glauben könnt, daß mich ein Gott zurückgesandt, so glaubt, daß ich schlief und daß alles ein Traum gewesen, was ich im anderen Lande gesehen.«

»Was hast du gesehen?« fragte Montezuma.

Ein Schatten glitt über Papans Gesicht. Sie atmete tief auf, ab sträube sich ihr Herz, das Erlebte im Spiegel berichtender Worte neu zu erleben.

»Bevor ich erwachte«, begann sie, »tief unter der Erde war ich ... Unmenschliche Kräfte lieh mir die Furcht, daß mir's gelang, die Steinplatte fortzurücken und herauszugehen, wo meine Frauen mich fanden, die mich dann hierherbrachten ....«

Sie schwieg wieder. Sie hatte nur gesagt, was nachher war. Als ob sie's hinausschieben wollte, an das andere zu rühren. Ratlos sah sie sich um.

»Was hast du gesehen ?« fragte Montezuma ungeduldig.

»Es war, bevor ich erwachte ...«, begann sie von neuem. – »Die Götter wollen, daß ich es erzähle. Also höre, großer König und Bruder. Hört ihr alle! ... Zwischen steilen Felswänden schritt ich in einer Schlucht, die endlos schien. Blumen und Gräser zertrat mein Fuß auf dem Weg, und sie weinten und jammerten laut. Schlummernde Vögel weckte mein Schritt im Gebüsch, und sie sangen mein Totenlied. Nacht war es, und ein großer Stern über mir tat den schmerzhaften Mund auf, und mit blutenden Lippen rief er: umkehren sollte ich! Doch ich überhörte seine treue Mahnung. Weiter schritt ich, bis Blumen, Vögel und Sterne schwanden und alles dämmergrau und wüstenkahl war ringsum. Da merkte ich, daß ein menschengroßer Schmetterling hinter mir herflog – ich wandte mich um und sah, daß es Izpapalotl war, der böse Schmetterlingsgeist. Mit den scharfen Feuersteinmessern an seinen Flügelrändern wollte er meinen Leib in Stücke schneiden. Entsetzt floh ich vor ihm, und er flatterte hinter mir her, und schon fühlte ich, wie die messerscharfen Flügel mein Nackenhaar streiften. Zu meiner Rechten donnerte ein wildschäumender Bergstrom – hineinstürzen wollte ich mich, um ans andere Ufer zu entkommen, da plötzlich stand ein junger Gott vor mir, gekleidet in ein lang herabwallendes Gewand, rein wie Kristall, leuchtend wie die Sonne und das Antlitz blank wie ein Himmelsstern. Der furchtbare Obsidian-Schmetterling aber wich zurück und flog von dannen, gelähmt von der Schönheit des jungen Gottes. Ich war so nah dem Ufersaum, daß ich schon niederfiel, da erfaßte der bleiche Mann – denn weiß war sein Angesicht wie das Antlitz Unseres Herrn Quetzalcoatl –, da erfaßte er meine Hand, riß mich fort vom zischenden Strom und sprach: ›Noch ist die Zeit nicht gekommen, daß du dieses Wasser durchschwimmen sollst!‹ – Und meine Hand in seiner haltend, führte er mich weiter durch die Schlucht, bis die Sonne sich hob. Da gewahrte ich, daß der Weg mit Menschenknochen und Schädeln bedeckt war. Und ein halbfertiges schwarzes Gebäude war vor mir – böse grüne Teufel, mit Hirschfüßen, führten die Mauern auf. ›Für wen ist dies finstre Schloß?‹ fragte ich meinen Begleiter. Darauf gab er zur Antwort: ›Ein Gefängnis ist es, – einst werden hier Fürsten und Große deines Volkes schmachten, denn sie haben einen Schädelhaufen errichtet, dessen Spitze bis an meinen Thron im Himmel reicht. Geh zurück in die Welt, aus der du kommst, und sage es ihnen –: noch ist Zeit zur Umkehr, noch landeten die Söhne der Sonne nicht, um die Altäre von Blut zu reinigen. Schau hin!‹ rief er und hob die Hand. Da sah ich etwas Entsetzliches. Die Berge zu beiden Seiten der Felsschlucht bestanden aus aufgehäuften Menschenschädeln, es war ein Schädelgebirge, in dessen Kluft ich stand, und die sonnengebleichten Kuppen tauchten in das Blau des Himmels hinein ...«

Papan verstummte. Ermattet sank sie zurück in ihre Kissen.

Die Schwüle im Gemach, die Schwüle in den Seelen war wie durchzuckt von Wetterleuchten.

»Sie redet irr!« sagte Montezuma trotzig und verächtlich, als wollte er eine Last abwerfen, die des Tragens nicht wert war.

Erregt drängte sich der Feldherr die Rose vor.

»O edler König, unser Herr, du sprichst wahr! Die Prinzessin ist krank! Der Schreck, als sie im finsteren Gewölbe erwachte, hat ihr Herz verwirrt! Fieberträume hat sie gesehen! Glaubt ihren Worten nicht!«

Aber Montezumas Auge blitzte ihn unwillig an.

»Mag sie irr sein. Die Götter reden durch den Mund der Irren!« rief er, selbstquälerisch sich selbst widersprechend.

Dann wandte er sich zu den Frauen, welche wie furchtsame, zusammengepferchte Schafe hinter dem Kopfende des Bettes standen: »Ich will, daß die Kranke streng gehütet und gepflegt werde. Ruft Ärzte!«

Er verließ das Gemach, ohne von Papan Abschied zu nehmen.

Als er die große Freitreppe des Palastes hinabschritt, äußerte er zum König von Tezcuco: er wolle Papan nie wiedersehen. Er lud den Herrn des Fastens und die Schwarze Blume ein, mit nach Tenuchtitlan zu kommen, um in seinem Ballspiel-Hause mit ihm Ball zu spielen.

Die Träger hatten die sieben Sänften wieder heimgebracht, das Volk Tenuchtitlans hatte wieder seinen irdischen Gott kniend angebetet. Der Zornige Herr und seine beiden Gäste durchschritten das Saal-Labyrinth des Großen Palastes und begaben sich in den Schloßgarten, wo sich das zierliche Ballspiel-Haus befand.

Doch Montezuma hatte seinem Gleichmut eine Bürde aufgeladen, unter der er zusammenbrechen mußte. Höhnende Stimmen schrillten in seinen Ohren und wiederholten die Worte Papans, fratzenhaft spottend gaukelten die gräßlichen Bilder ihres Traumes vor seinen Augen. Zu viel hatte er sich zugetraut, als er glaubte, gleich leichten Federbällen die bleierne Sorge fortschleudern zu können.

An der Schwelle des Ballspiel-Hauses zögerte er, dann bat er seine Gäste, ohne ihn einzutreten und auf ihn zuwarten.Erst wollte er sich im Hause der Trauer vor den Himmelsgöttern trostheischend niederwerfen.

Das Haus der Trauer war eine Kapelle inmitten des Gartens, die in kleinem Maßstabe die pittoresken Formen der großen Tempel-Pyramiden wiederholte. Längs den etwas schrägen Außenmauern liefen Relief-Friese von minuziöser Ausführung. Zehn steile Marmorstufen an der Ostseite stiegen empor zur kleinen Plattform, wo – der Treppe gegenüber – sich das Sanktuar erhob. Dessen aus drei Monolithen gebildete Pforte war überschattet vom weit vorspringenden, auch Plattform und Treppe überdeckenden Gebälk des vergoldeten Bronzedaches. Im Innern des Heiligtumes verhängten schwarze Teppiche die Wände, vor einem Betschemel stand ein schwarzverhüllter, in drei Absätzen sich verjüngender Altar, und auf diesem lag ein kristallener, glatt polierter Schädel – in der natürlichen Größe eines menschlichen Schädels, kunstvoll ausgemeißelt aus einem einzigen fehlerlosen Kristallblock. Ein Wunder der Kunstfertigkeit so sehr wie ein Wunder der Natur.

Der das Heiligtum bewachende Gottesdiener – ein Jüngling mit verwahrlostem Haar und kohlschwarzer Gesichts- und Körperbemalung – entfernte sich bescheiden, als der Herr der Welt hineintrat, kniend die Sturmflut seines Herzens verebben zu lassen.

Inzwischen blieben der König von Tezcuco und sein Sohn in der Nähe des Ballspiel-Hauses. Sie gingen schweigsam auf und ab, und ihre zergrämten Blicke glitten teilnahmslos über die staunenswerte Sammlung seltener, fremdartiger, einmaliger Blumen, die Montezuma, der leidenschaftliche Blumenzüchter, in bunter Anordnung längs der mit Muschelscherben bestreuten Wege angepflanzt hatte.

Lange schritten sie so stumm nebeneinander. Plötzlich blieb der Herr des Fastens stehen und zeigte auf einen Baum, dessen rotgetupfte Schneeblüten den Ausdruck gieriger tierischer Antlitze hatten.

»Da ist der Blumenbaum des Prinzen Grasstrick!« sagte er.

»Auch der Wind kann Bäume ausheben! ...« versetzte die Schwarze Blume mit bösem Lächeln.

Diese Antwort spielte auf den weißen Kreuzträger Quetzalcoatl an, den Herrn des Windes und des Sturmes. Die Schwüle des heutigen Tages bewies ja, wie nahe der Sturm schon war.

»Die Baumwurzeln haben des Prinzen Blut getrunken«, sagte der Herr des Fastens.

»Darum gleichen die Blüten seinem abgeschnittenen Haupte, und mit verzerrtem Munde rufen sie Rache!« sprach die Schwarze Blume.

Sie gingen weiter und kehrten doch immer wieder zurück zum seltsamen Baum. Der Schwarzen Blume Seele sog sich fest am Anblick der sühneheischenden, rachgierigen Blüten.

Seine Schwester, Prinzessin Perlmuschel, war Witwe des Prinzen Grasstrick. Prahlerisch leuchtete der Baum, ein Wahrzeichen für den schuldbeladenen Reichtum des Tyrannen.

Prinz Grasstrick, Montezumas Halbbruder, hatte, als Statthalter einer Provinz im fernen Südosten, selbständig wie ein Fürst in der Stadt Yuquane residiert. Aus einem unbekannten Lande war ihm eine Blume zugetragen worden, und nachdem er sie, ihrer Pracht wegen, in den berühmten Garten seines Palastes gepflanzt, war sie bald zum Baum herangewachsen. Ein mexikanischer Gesandter brachte eine ihrer Blüten in einer Schatzkiste nach Tenuchtitlan, und obgleich sich die milchige Haut gebräunt, erschien noch die Blumenleiche ein Wunder, wert, den Herrn der Welt zu erfreuen. Montezuma erkannte, das Geschenk betrachtend, daß seinem Garten der schönste Schmuck fehle. Ihn erfaßte eine unbezwingliche und unerfüllbare Liebe zu der Blume von Yuquane. Rausch war ihm ihr Modergeruch. Mit seinen Fingerspitzen streichelte er ihre toten Blumenwangen. Das Kästchen, darin sie aufgebahrt war, ruhte auf seinen Knien, wenn er Audienz erteilte, und nachts neben seinem Schlafkissen, so daß er erwachend danach tasten konnte, um sich zu vergewissern, daß sie nicht heimlich entschwunden. Er hätte Provinzen hingegeben, um sie zu erhalten. Doch sie zerfiel, und er mußte sie wegwerfen. Da empfand er bitter, daß seine unbegrenzte Macht Grenzen hatte.

Nun schickte er nach Yuquane Boten und verlangte, Prinz Grasstrick solle ihm den Blumenbaum abtreten, ihn eintauschen gegen reiche Königsgaben, was er auch fordern werde, es solle ihm bewilligt sein, wenn er sich von der kostbaren Blume trenne. Aber Prinz Grasstrick gab einen abweisenden verwegenen Bescheid: der Rauchende Berg – der Vulkan Popocatepetl – stehe drohend zwischen dem Weltherrn und der Blume! Da sandte Montezuma seine Heerscharen hin, ließ seinen Bruder Grasstrick töten und Yuquane zur Wüste machen. Nach Tenuchtitlan verpflanzt, verkündete die schöne Blume von Yuquane laut seine Macht und leise seine Sünde.

»Die Blüten sind schön – doch böse werden ihre Früchte sein!« sagte die Schwarze Blume, als er Montezumas Schritt vernahm, der eben die Kapelle der Trauer verließ und sich dem Ballspiel-Hause näherte.


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