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Mein Aufenthalt in London ging zu Ende, und ich hatte keinen Anlaß, ihn zu verlängern. Ich hatte genug von blutigen Beefsteaks und Londoner Novembernebel und schlechten Zigarren und dem niederträchtigen Bier. Mit Paul Noster und Richard Brög war jetzt durchaus nichts anzufangen, die hatten sich in die Vorbereitungen für Mexiko gestürzt und hatten es verstanden, auch Thea Siebertz so darein zu verwickeln, daß sie kaum mit der Nasenspitze hervorschaute.
Ich glaube, alle miteinander merkten es kaum, daß ich ihnen bald genommen sein würde, jedenfalls legten sie meinem Abgang keine sonderliche Bedeutung bei.
Am Morgen des Tages vor meiner Abreise kam ein Brief. Martha Mirar schrieb mir, sie habe erfahren, daß ich in London sei, und sie habe den dringenden Wunsch, mich zu sehen, und sie wohne in Mrs. Morris' Pension, Cromwell Road. Martha Mirar, die Sängerin, die ich in Wien kennengelernt hatte, als sie dort das war, was man in der Theatersprache einen »gemöchteten Stern« nennt. Ich weiß nicht, ob man mich gleich verstehen wird. Sie war immerfort im Aufgehen, immerfort im Aufgehen, ein oder zwei Jahre lang; sie hatte sich selbst als Sängerin entdeckt und wartete nun von einem Tag zum andern, bis die Astronomen des Kunsthimmels sie ebenfalls entdecken würden. Ihr Verbrauch an Gesangslehrern war überwältigend, und sie setzte eine Menge von Leuten in Bewegung, denen sie durch bestrickende Liebenswürdigkeit Empfehlungen für Theaterdirektoren, Konzertunternehmer, Bühnenagenten und andere entscheidende Männer abpreßte. Sie war immer auf dem Weg zu einer Probe, einem Vorsingen, einer Besprechung mit einem dieser Gewaltigen. Damals vertrat ich einen auf Urlaub befindlichen Kollegen im Richteramt über die musikalischen Ereignisse, und so sah ich mich auch bald der holdesten Betörung preisgegeben. Aber ich zog mich auf gut münchhausenisch heraus und tat wohl daran. Denn kurze Zeit später bearbeitete Martha Mirar den wieder eingerückten Kollegen öffentlich mit einer Reitpeitsche, weil er anläßlich eines Konzerts über sie zu schreiben gewagt hatte, sie hätte nicht so zu schreien brauchen, es habe ihr doch kein Mensch etwas getan.
Was schließlich bei diesem ganzen Gestrampel herauskam, war ein Engagement am Stadttheater in Bautzen. Und dann verschwand Martha Mirars Stern aus meinem Gesichtsfeld. Ich hörte nur, er sei später in einer Revue als Venus aufgegangen, bekleidet mit einer Strahlenkrone auf dem Haupt. Aber das kann auch Verleumdung sein.
Immerhin: die Dringlichkeit ihres Wunsches, mich zu sprechen, verbündete sich mit einer gewissen Neugierde meinerseits, sie zu sehen, und so machte ich mich noch selben Tages nach Mrs. Morris' Pension Cromwell Road auf. Cromwell Road ist eine der Straßen nahe dem Ausstellungsgelände, und das Haus war eines jener unglückseligen älteren Londoner Gebäude, gleich weit entfernt von der biederen Gemütlichkeit der Dickenszeit wie von neuzeitlichem hellem Behagen.
Ich stieg eine mit zerrissenen roten Teppichen belegte Treppe hinauf, entkam glücklich der Gefahr, in den Löchern dieser Herrlichkeit von Teppich hängen zu bleiben und mir die Beine zu brechen, und dann läutete ich an der Tür von Mrs. Morris' Pension.
Als man mir aufmachte, drängte sich zunächst jemand, der zu gleicher Zeit hinaus wollte, etwas ungestüm an mir vorüber. Auf dem Vorplatz war es rechtschaffen dunkel, der Mann hatte es offenbar sehr eilig, schob sich mit abgewandtem Gesicht an der Hand entlang, und dann lief er rasch die Treppe hinunter – sehr unvorsichtig im Hinblick auf den Teppich –, aber alles das zusammen konnte nicht verhindern, daß ich den Eindruck hatte, der eilfertige Herr sei Mister Breadsley, Direktor des Britischen Museums.
Es ging mich aber weiter wenig an, ob es Mister Breadsley war oder nicht, und übrigens stand ich eine Minute später Martha Mirar gegenüber.
Sie war noch immer das schöne Weib von früher, vielleicht noch schöner und von einer geradezu dämonischen Schlankheit. Man sah es ihr an, daß es eine ehrlich erhungerte dämonische Schlankheit war.
Und das Haar war von einem ganz unwahrscheinlich prächtigen Tizianblond, viel prächtiger als irgendein einfach gottgewolltes Tizianblond, als es etwa das Theas war.
Ich hatte gar nicht gewußt, daß wir in Wien so innig befreundet gewesen waren, und es fehlte zu einer Umarmung nur gerade ein fingerbreit Nachgiebigkeit von meiner Seite.
»Ach, Sie Schlimmer«, sagte Martha Mirar, »Sie sind in London, und ich bin in London, und Sie kommen nicht zu mir.«
»Wie soll ich? ... Ich habe doch gar keine Ahnung gehabt.«
»Man soll aber Ahnungen haben ... Ahnungen von der Nähe seiner Freunde ... die psychischen Strahlungen, wissen Sie, die alles durchdringen.«
»Bei diesem Nebel ...« wandte ich ein.
Und dann stellte mich Martha Mirar einem kleinen gelbgesichteten Herrn mit schwarzem, gestutztem Schnurrbärtchen vor, einem Herrn Señor Ramon Herrera. Er erhob sich aus einer Ecke des scheußlichen roten Plüschsofas, der Ausgeburt eines kranken Tapezierergehirns, und verbreitete eine Wolke von Wohlgeruch um sich.
In welchen Beziehungen er zu Martha Mirar stand, erfuhr ich nicht, aber ich glaubte nicht fehlzugehen, wenn ich annahm, er müsse ein Theateragent oder irgendein anderer ehrlicher Makler auf der Kunstbörse sein.
»Sie trinken den Tee mit uns, nicht wahr?« bestrickte mich die Sängerin mit süßestem Wohllaut.
Ich ergab mich, obwohl ich mir eingestand, daß meine Neugierde zur Genüge befriedigt war.
Ach, wie sie hin und her schwebte und ihre geschmeidige Schlankheit als Brillantfeuerwerk sprühen ließ. »Wenn ich Freunde zum Tee bei mir sehe, dann dulde ich keine fremde Hand«, sagte sie und lachte silbern wie die silberne Teekanne aus Alpaka, die sie vor uns auf den Tisch setzte. Dann summte der Samowar, und Martha Mirar ordnete mit zierlich gespitzten Fingern Tassen und Teller und Sandwichs und Bäckereien und Obst.
Die Frage lag nahe, wie Martha Mirar von meinem Londoner Aufenthalt erfahren habe.
»Sie Schäker!« drohte die Sängerin, »glauben Sie, es konnte verborgen bleiben, wenn Sie in London sind! Wollten Sie den Vogel Strauß spielen? Da hätten Sie für Ihre Zeitungen keine Londoner Briefe schreiben dürfen. Obzwar bei euch Journalisten ... man muß das nicht immer wirklich gesehen haben, worüber man schreibt, nicht wahr?«
»Nein!« sagte ich mit Überzeugung.
»Nun, aber bei Ihnen ... es hatte so den Stempel der Unmittelbarkeit, was ich von Ihnen gelesen habe.«
»Besten Dank.«
»Es war mir klar, daß Sie wirklich in London sind. Und das übrige ist nichts weiter als etwas Kombinationsvermögen und Detektivinstinkt.«
Wir tranken Tee, Martha Mirar und ich in enger Nachbarschaft, Señor Herrera etwas weiter ab auf dem rotplüschenen Sofa. Er sagte nichts, aber er duftete dafür um so eindringlicher.
»Ihre Talente!« sagte sie zwischen zwei Brötchen, »Sie haben noch weit mehr Talente, als ich seit jeher wußte.«
»Weil Sie übrigens vorher vom Strauß gesprochen haben ... Ihre Salome! Ihr Rosenkavalier! Welche Erfolge! Die Kritik hat ja Kopf gestanden.«
Ich hatte richtig getippt, Martha Mirar funkelte hell auf. »Ja, nicht wahr? Und nun bereite ich mich für eine Tournee nach Lateinisch-Amerika vor ... Buenos Aires, Rio de Janeiro, Mexiko ... eine ganz große Sache ...«
Ich merkte, Martha Mirars Stern war immer noch im Aufgehen.
»Ich habe es mir lange überlegt ... aber meine Freunde sind unnachgiebig. Sie wollen mich durchaus drüben haben. Unter Bedingungen, sage ich Ihnen ... ich muß meinen Freunden den Willen tun, um sie nicht ganz unglücklich zu machen.«
Und sie erläuterte ihre Beziehungen zu Lateinisch-Amerika durch einen strahlenden Blick auf den Mann mit dem schwarzen Schnurrbärtchen. Señor Herrera verneigte sich, und die Duftwolke um ihn kam in eine schwüle Bewegung.
»Señor Herrera ist Mexikaner«, wandte sie sich wieder zu mir.
Ich hatte keinen Augenblick daran gezweifelt.
»Er kann nur sehr schlecht Englisch und gar nicht Deutsch. Und Sie?« fuhr Martha Mirar lebhaft fort, »erzählen Sie von sich ... was treiben Sie in London?«
»Arbeit ist auch in London des Bürgers Zierde ...«
»Sie werden doch nicht unaufhörlich bei der Schreibmaschine sitzen. Nein ... liebster Freund, ich weiß mehr von Ihnen, als Sie glauben. Man hat Sie gesehen ... in der Olympia Hall ... in Ritz Hotel ...«
»Ihre Detektivtalente sind überraschend. Übrigens die Olympia Hall ... das war Dienst.«
»Und sie haben überaus interessante Bekanntschaften wieder aufgefrischt. Dieser Richard Brög ... alle Welt spricht von ihm, man ereifert sich über diesen Dauertanz und seine Opfer.«
Es war erstaunlich, was Martha Mirar alles wußte, und irgendwie regte sich im tiefsten Unterbewußtsein eine warnende Stimme vor so viel beflissener Nachforschung auf meinen Wegen. »Ein alter Schulkamerad«, sagte ich so gleichmütig als möglich, indem ich aufpaßte wie ein Haftelmacher.
»Das sind die dauerhaftesten Freundschaften«, sagte Martha in einer schwärmerischen Tonlage. »Wissen Sie, daß ich diesen Menschen, diesen Brög, glühend gern kennenlernen möchte. Er muß ein sonderbarer Mensch sein ... dieser Nabob. Und ich sammle doch bedeutende und schon recht sonderbare Menschen. Können Sie mich nicht irgendwie mit ihm zusammenbringen?«
Ich atmete auf, daß dieser Fischzug nicht mir galt. Aber es war mir klar, daß ich Richard vor nichts eifriger behüten mußte, als daß er Martha Mirar in den Weg lief. Nicht vielleicht, weil ich fürchtete, sie könnte in seinem Herzen Unheil stiften. Aber sie war imstande, unter den einfachsten Dingen von der Welt unbeschreibliche Verwirrung anzurichten.
»Nun, können Sie mir diesen Gefallen tun?« drängte die Sängerin und legte ihre heiße kleine Hand mit betörendem Nachdruck aus meine Pfote.
»Gewiß!« sagte ich. »Nichts ist leichter. Warten Sie ... Heute haben wir Montag. Morgen ist Richard, soviel ich weiß, vergeben. Aber Mittwoch ... Mittwoch dürfte er frei sein. Ich rufe Sie Mittwoch an, wann und wo.«
»Sie sind ein Engel!« dankte sie mir mit himmlisch verheißungsvollem Augenglänzen.
Dann dachte ich, daß ich hier nun wohl nicht weiter benötigt werde, zog die Uhr, bedauerte, daß ich noch eine dringende Besorgung zu machen hätte, und ging einige Minuten später durch die Mitte ab.
»Also auf Mittwoch!« rief Martha Mirar noch einmal, und Señor Herrera fächelte mir etwas von seiner Duftwolke nach.
Ich suchte Richard und Paul auf und fand sie in dem Magazin am Regents Canal, das Richard gemietet hatte, und in dem sie jetzt ihre Tage verbrachten unter einer Menge von Kisten und zwischen zwei Ameisenzügen von Lastträgern, die alles beiseitestießen, was ihnen vor die Füße kam. Richard thronte hoch oben auf einem Turm von Fässern und schrie wilde Befehle in das Getümmel, und Paul hielt eine Schablone und einen Pinsel in der Hand und malte mit schwarzer Farbe rätselhafte Buchstaben auf kleine Blechtonnen, die so aussahen, als enthielten sie einen fürchterlichen Sprengstoff. Nahe der Tür stand Thea und verglich eine Liste mit irgend etwas, das da an ihr vorübergetragen wurde.
Ich merkte, daß keine Möglichkeit war, bis zu Richard oder Paul vorzudringen, und wandte mich an Thea. »Morgen fahre ich also«, sagte ich.
Sie nickte mit dem Kopf, und dabei baumelte ein Schmuck, den ich bisher an ihr noch niemals gesehen hatte, an ihrem Hals hin und her. »Siebenunddreißig – achtunddreißig«, murmelte sie und machte Bleistiftstriche in ihre Liste.
Irgendwie fesselte mich dieser unbekannte Schmuck um Theas Nacken, und ich sah ihn mir genauer an. Er bestand aus einem seinen Goldkettchen, dessen Glieder winzig kleine Krebse oder Skorpione darstellten, die einander mit den Scheren an den Schwänzen hielten, und vorne hing eine Kugel aus einem Metall oder einem Stein daran, auf der das Bild einer Art Eidechse nur eben angedeutet war. Das Ganze machte einen durchaus fremdartigen Eindruck, wie ein Stück aus einer weitentlegenen Welt, und nahm sich seltsam an dem braunen Hals des Mädchens aus.
»Mexikanisch? Was?« fragte ich.
»Einundvierzig – zweiundvierzig«, murmelte Thea und machte Bleistiftstriche. »Denken Sie«, unterbrach sie sich, »die Indianerin damals in der Olympia Hall, die den Blutsturz bekam, Sie erinnern sich ... dreiundvierzig – vierundvierzig ... die ist nun doch gestorben. Gestern haben es die Blätter gebracht. Mit Ausfällen auf Brög. Und gestern kommt ... fünfundvierzig – sechsundvierzig ... gestern kommt so ein kleiner, schmutziger Junge, ein Indianerjunge, meint Herr Brög, und bringt mir in einem Kästchen ... siebenundvierzig – achtundvierzig – bringt mir dieses Halsband ...«
»Von der Indianerin?«
»Von der Indianerin«, bestätigte Thea, »und ich soll es, soweit man ihn verstehen konnte ... neunundvierzig – achtundvierzig – nein, fünfzig ... er sprach ein scheußliches Englisch, der Junge, wissen Sie – als ein Andenken tragen.«
Ich habe damals gleich gesehen, daß Sie das arme Ding ins Herz geschlossen hat. Eine plötzlich entstandene Zuneigung ... aber man sollte solchen fremden Schmuck nicht ohne weiteres tragen«, sagte ich kopfschüttelnd, denn aus einmal erschien es mir bedenklich, daß Thea dieses Halsband einer Frau trug, von der man sagte, daß sie Richards Geliebte gewesen sei. Und gleich daraus bemerkte ich, daß ein solches Bedenken eigentlich mit Richard Brögschen Gedankengängen eine verdammte Ähnlichkeit hatte.
»Ich glaube nicht«, entgegnete Thea, ihre Liste umwendend, »daß mir das arme kleine Mädel damit etwas Schlimmes zugedacht hat. Einundfünfzig ... zweiundfünfzig ...«
Es war mir versagt, weitere Einwendungen zu machen, denn der Lastträger, der da eben kam, groß und breit wie ein Schubladenkasten, wollte unentwegt durch mich hindurch, und ehe ich mich dessen versah, war ich mit beinahe zerquetschten Füßen und verbeulten Rippen vor der Tür. Ich konnte mich nur noch eben mit einer Hand an den Türstock klammern und zurückrufen: »Sagen Sie Richard und Paul, sie sollen sich zu unserem nächsten Wiedersehen mehr Zeit nehmen als jetzt zum Abschied.«
»Dreiundfünfzig – vierundfünfzig!« murmelte Thea und machte Bleistiftstriche.
Und dann war ich gänzlich draußen.
Am nächsten Morgen fuhr ich nach Wien zurück.