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4

Paul wollte eben erwidern, als ein Stimmengemurmel vor der Tür unseres Sonderzimmerchens, das schon vorher unser Unterbewußtsein behelligt hatte, mit einemmal zur Vernehmlichkeit anschwoll.

»Lassen Sie mich hinein«, hörten wir eine demütige und verzagte Stimme.

»Nein, wenn ich Ihnen sage!« entschied eine andere Stimme mit obrigkeitlicher Barschheit, als sei ihrem Besitzer die Polizeigewalt eines Engels mit stammendem Schwert vor den Toren des Paradieses gegeben. »Tut mir leid, Sie nicht zuvor schon gesehen zu haben ... Gäste belästigen! ... Der Manager duldet's nicht.«

»Karte drin gelassen«, bettelte der kleinlaute Einlaßwerber.

»Sieh mal nach, was es gibt!« sagte Brög.

Ich stand auf und öffnete die Tür. Draußen stand der Mann mit der Narbe, und der Kragen seines Havelocks war in der Hand des Kellners, der uns zugeteilt war, und die ganze Gruppe war in deutlicher Fortbewegung von der Tür begriffen.

»Lassen Sie doch den Mann herein!«

Der Kellner gab den Kragen des Havelocks frei und machte etwas, das man bei einiger Phantasie als eine Art Verbeugung auslegen konnte. »Ach bitte, Herr, wie sie wünschen!« Er zuckte die Achseln mit einem Ausdruck von Mißbilligung, wie ein richtiger Paradieswächter, dem eine unverantwortliche Instanz in den Arm mit dem flammenden Schwert gefallen ist.

»Kommen Sie herein, Mann!« lud ich den Befreiten ein.

Er trat hinter mir an den Tisch, seine Blicke suchten die Karte, und es ging ein Zucken von Gekränktheit über sein Gesicht, als er sah, was für ein schmähliches Schicksal ihr Richard bereitet hatte.

»Weltenbummler, was?« fragte Brög mit einer Nachlässigkeit, die mir den Verdacht nicht nehmen konnte, daß ihm dieser Weltenbummler sehr zurecht gekommen sei, um einer aufdringlichen Fragerei auszuweichen.

»Ja, Herr!« sagte der Mann, indem er zwei Augen von einem ausgeblaßten Himmelblau auf Brög richtete. Seine Stimme klang mühsam und zerstört, als sei mit seinem Rachen etwas nicht in Ordnung.

»Zu Fuß? Ist ein bissel weit! Ehe Sie da einmal herumkommen ...«

»Zeit nehmen.«

»Natürlich! Und ohne Namen! Wieso ohne Namen?«

»Habe natürlich Namen. Heinrich Schwarz. Aber das nicht mein richtiger Name.«

Sie hatten bisher miteinander englisch gesprochen, jetzt fuhr Richard aus deutsch fort: »Sind wohl ein Deutscher, was? Ja? Aber erlauben Sie – das geht mir nicht ein. Da laufen Sie also mit einem falschen Namen in der Welt herum? Was sagt denn die Polizei dazu?«

»Polizei ... mir ... Namen Heinrich Schwarz gegeben«, entgegnete der Mann seelenruhig, als sei ein Name irgend etwas, das man einfach bei der Polizei holen könne.

»Ja, zum Donnerwetter, wie soll ich denn das verstehen? Warum tragen Sie denn dann nicht Ihren richtigen Namen?«

»Weiß ich nicht! Vergessen!«

»Wollen Sie uns Rätsel aufgeben?« schrie ich den Mann an. »Oder uns zum Narren halten?«

Richard aber schien an dem Menschen mehr Anteil zu nehmen, als bei einem Verächter der Menschheit eigentlich zu vermuten war, und beschwichtigte mich mit einer Handbewegung; der Mann nahm seinen Blick von Brög fort und richtete ihn auf mich, und seine Augen waren gar nicht mehr blaßblau, sondern tiefdunkel und abgründig. »Herr«, sagte er mit zitternder Stimme, »… wäre gar nicht ... Weg zu Fuß um die Welt, wenn ... Namen wüßte. Säße irgendwo ... Geschäftsmann ... Beamter, oder sonst was ... wäre reicher Mann.«

»Ach was nicht gar!« sagte ich spöttisch.

»Laß ihn doch«, entschied Brög, »wollen Sie uns das nicht erzählen!«

Der Mann sah mich andauernd an, als liege ihm vor allem daran, meinen Widerstand zu überwinden, seine Augen wurden immer dunkler, und unter der Narbe begann es zu ziehen und zu wühlen. Man konnte glauben, sein Gehirn arbeiten zu sehen, und es sah ganz gefährlich aus, als müsse in einem nicht zu fernen Augenblick ein Durchbruch erfolgen.

»Herr«, sagte er, keuchend und mühsam um das Wort ringend, in England gewesen ... reicher Mann. Geld aus der Bank. Dann ... Krieg ... Gefangenenlager ... ausgebrochen, geflohen ... daheim an die Front ...«

»Das wissen Sie alles?« fragte ich mißtrauisch.

»Weiß ich«, nickte er eifrig, »dann Rußland irgendwo ... bum, verschüttet, das da«, und er tupfte mit den zitternden Fingern auf den weißlichen Rand der Narbe ... »ganz finster ... lange ... lange ... dann wieder hell ... alles fort ... Name ... wo ich in England gewesen bin ... Bank, wo Geld liegt ... alles ...«

»Sie wissen nicht mehr, auf welcher Bank ...?«

»Weiß nicht«, sagte der Mann traurig, »reich ... sehr reich ... weiß ich ... liegt Geld irgendwo, weiß nicht, wo ... wächst, wächst ... ich das da!« Er faßte seinen schäbigen Havelock und zog ihn ein Stück vom Körper ab, »arm ... sehr arm.«

»Drücken sich aber sonst beinahe zusammenhängend aus«, wandte ich kühl ein.

Die Narbe war ruhig geworden, aus den Augen des Namenlosen wich die Tiefe, er schüttelte den Kopf, als wolle er sagen, das habe wenig demgegenüber zu bedeuten, was er verloren habe.

Brög hatte seine Brieftasche hervorgeholt: »Hier, nehmen Sie einen Betrag für Ihre Weltreise!« sagte er, indem er eine Hundertpfundnote auf den Tisch legte, »ich würde Ihnen mehr geben, aber ich nehme an, daß ich über einen gewissen Betrag nicht hinausgehen darf, wenn Sie Ihre Wette nicht verlieren wollen.«

Über den Mann schien eine trübe Stumpfheit gekommen zu sein, er nahm die Note, ohne sich sonderlich zu verwundern, und schob sich demütig zur Tür hinaus, geradeswegs in die Klauen des Kellners, der ihn nach einem kurzen Wortwechsel abführte.

»Schwindel!« sagte ich, denn ich wollte um keinen Preis vor Richard so dastehen, als faßte ich die Welt mit der Butterseite des Gefühls auf.

»Muß kein Schwindel sein«, äußerte Brög nachdenklich, »ich erinnere mich ... da war so eine Geschichte bei Wilna oder sonstwo in Polen. Da ist im Krieg ein Soldat in einem Keller verschüttet worden, in dem ungeheure Mengen Lebensmittel aufgespeichert waren. Acht Jahre hat er dort unten gelebt, acht Jahre, und hat sich von den Vorräten ernährt. Endlich hat man ihn gefunden. Er hatte die Sehkraft und die Sprache und das Gedächtnis verloren, war zu einem Tier geworden, biß um sich und kroch aus allen vieren. Nach drei Tagen ist er gestorben, das Tageslicht hat ihn umgebracht. Dieser – Heinrich Schwarz kann noch von Glück sagen.«

»Es ist wohl so«, ließ sich Thea hören, »daß eine gewisse Partie des Gehirns zerstört worden ist, wo der Name sitzt!«

»Und das Bankkonto!« ergänzte ich.

Thea gab mir durch einen Blick zu verstehen, meine Roheit sei empörend, und dann schwiegen wir alle vier eine Weile.

Ich weiß nicht, welche besondere Art von Gedankenverschlingungen über das Wesen des Reichtums Richard beschäftigt haben mögen, jedenfalls sagte er jetzt ganz unvermittelt zu Paul: »Und was würdest du tun, wenn du so reich wärst wie ich!«

»Ich!« fragte Paul, aus dem Gleichgewicht gebracht.

»Ja, du!«

Da sich Paul solchermaßen vergewissert sah, daß wirklich er gemeint sei, wurde er sehr rot, antwortete aber, ohne einen Augenblick zu zögern: »Ich würde mit allen Mitteln den Nachweis zu erbringen suchen, daß wirklich die aztekische Kultur ureuropäisch-arischer Herkunft ist.«

»Ja, ich weiß, habe so etwas von dir gelesen. Ja! Hast da in Rußland ganz merkwürdige Funde gemacht.«

»Und die schwedischen Felsbilder!« fügte ich hinzu, um zu zeigen, daß mir Nosters Arbeitsgebiet nicht ganz unbekannt sei. Und das seiner Assistentin natürlich, bei der ich durch meine Hartherzigkeit gegen den Mann ohne Namen offenbar an Boden verloren hatte.

»Ja, die schwedischen Felsbilder!« gab Brög zu, und es war ihm anzusehen, daß er von dieser Seite von Pauls ausgedehnter Tätigkeit keine Ahnung hatte. »Und ihr werdet euch gefragt haben, warum ich mein Geld dazu verwende, um Revolutionen und Dauertänze und derlei Volksbelustigungen zu finanzieren. Man kann ja sein Geld auch der Wissenschaft zur Verfügung stellen, wenn einem schon die Wohltätigkeit zum Hals hinauswächst. Aber es weiß kein Mensch, welcher Schwindel dabei mit unterläuft. Ach habe so meine Ansichten und Erfahrungen in dieser Hinsicht.«

»Die Wissenschaft ...«, wollte sich Paul entrüsten.

Aber Richard winkte ab: »Nicht jeder hat so reine Hände wie du«, sagte er, und dann nahm sein Gesicht einen undeutbaren Ausdruck an, Hohn und Grausamkeit und Genugtuung in einem, Gott weiß, wie das alles miteinander auf diesem Jungengesicht Platz hatte. Und dann setzte er hinzu: »Wir sprechen noch darüber. Ihr werdet mich besuchen ... du und Bernhard, übermorgen, wenn's recht ist! Abgemacht? Und nun nichts mehr davon. Es ist zwölf, gerade Zeit, in die Alhambra zu gehen. Dort treten jetzt die indischen Fakire auf, unglaublich, was die alles leisten ...«

Und dann war wirklich an diesem Abend nicht weiter von der Wissenschaft die Rede.


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