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Das Alpenveilchen

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Ich streifte an der Donau umher, wo so viele Volksstämme vor mir herumgestreift waren und wo meine Stammväter auch Spuren hinterlassen hatten. Neben dem großen Gewässer, das in Schwaben beginnt und im Morgenlande endigt, das also nicht allein der Bewegung der Sonne, sondern auch der der Erde entgegenfließt – was sonderbar ist, nicht wahr – wuchsen Blumen am Wege.

An die ewige Wiederholung der Dinge in dieser Welt gewöhnt, empfand ich eine große Freude, als ich eine Pflanze fand, die ich noch nicht gesehen hatte, nämlich das Alpenveilchen, Cyclamen Europeum, von dem eine kultivierte Art, Persicum, seit zehn Jahren bei allen Blumenhändlern zu finden ist.

Eine alte Begier, zu klassifizieren, einzuordnen, ergriff mich, und ich riß die Pflanze aus, schnitt die Blüte auf und zählte fünf Staubfäden und einen Stempel. Das brachte mich nicht weit, denn in diese Klasse, in diese Ordnung gehören auch so verschiedene Arten, wie Winde, Nachtschatten, Braunwurz, Speerkraut. Der erste Eindruck war der eines Veilchens gewesen. Blätter, Blüten, Duft, die Art aus der Erde emporzusteigen, alles sprach für ein Veilchen, aber es war keins, obgleich man es Alpenveilchen nennt. Die Wurzel mit ihrer runden Scheibe erinnerte so frappant an eine Aristolochia rotunda, aber die war es nicht. Einen Augenblick wollte ich sie zu den Orchideen zählen, mit ihrem leckern Habitus und ihrer graziösen, an Schmetterlinge erinnernden Blüte. Sah ich unter den Haselsträuchern nebenbei das Asarum, war ich überzeugt, daß mein Cyclamen eine Haselwurz sei, um so mehr, als diese mit Aristolochia in eine Familie gehört und außerdem die gleichen medizinischen Eigenschaften besitzt wie das Cyclamen, da die Wurzeln von beiden abführend wirken und ein Brechmittel sind. Es war auch etwas von dem dicken Blütenblatt einer Lilie vorhanden, die Einfachheit in der Anordnung und die Pracht der Farbe; außerdem glich die Wurzelscheibe, von der die Blätter ausgehen, einer Zwiebel. Nach Hause gekommen, legte ich die Pflanze in eine Schale, und ich glaubte das Blatt der Seerose auf der Wasserfläche schwimmen zu sehen.

Ging es mir denn wie Polonius, der in den Wolken alles sah, was Hamlet wollte? Ich stand nicht unter dem Einfluß eines Willens, hatte nur ein großes Material von Pflanzenbildern zum Vergleichen im Kopf, und ich war wirklich jedesmal auf der rechten Spur, wenn ich eine Ähnlichkeit sah. Ich weiß sehr wohl, daß Psychologen ein häßliches griechisches Wort erfunden haben für die Sucht, überall Analogien zu sehen, aber das schreckt mich nicht ab, denn ich weiß, daß es Ähnlichkeiten überall gibt, weil alles in allem ist, überall!

Daß das Cyclamen der Aristolochia, dem Asarum, der Viola glich, mochte noch hingehen, obwohl die, welche Äußeres und Inneres, wesentliche und unwesentliche Eigenschaften unterscheiden, meine Ähnlichkeiten unwesentlich genannt hätten; daß sie aber einer Lilie oder Orchidee gleichen sollte, würde ein Botaniker schwerlich zugeben. Und doch, das Cyclamen hat die Wesentlichkeit mit Orchideen und Lilien gemein, daß sie mit einem Keimblatt ausschlägt, daß sie einkeimblättrig ist, ungeachtet man sie zu den Primulaceen zählt, die zweikeimblättrig sind.

Hätte ich zur Zeit Tourneforts gelebt und nur sein System gehabt, wäre ich nicht weit gekommen. Ich hätte entweder mein Alpenveilchen den Trichterförmigen eingereiht, mit einblättriger, regelmäßiger, trichterartiger Krone; was stimmt; aber auch den Anomalen mit vielblättriger, nicht schmetterlingsartiger Krone; was auch stimmt, aber nicht ganz, da das Cyclamen sowohl Trichter wie freie Kronblätter hat, aber regelmäßig ist Hätte ich Jussieus System benutzt, wäre ich sofort auf Abwege geführt, denn da hätte ich das Cyclamen bei den Dikotyledonen gesucht Ebenso irre hätte mich Candolle geführt.

Was die Natur des Alpenveilchens, mit einem Keimblatt auszuschlagen, angeht, so ist es damit auch nicht so exakt bestellt, weil nichts in der Natur exakt ist. Wenn ich ein Samenkorn von Cyclamen mikroskopiere, sehe ich in einem dicken Samenweiß einen kleinen geraden Embryo, der dem einer Conifere gleicht. Lasse ich das Samenkorn keimen, schwillt es an und ein der Pflanze selbst gleichendes Blatt schießt in die Höhe; ist also durchaus kein Keimblatt, nicht einmal ein Primordialblatt. Das Cyclamen schlägt also ohne Keimblatt aus, aber das tut die Wallnuß auch, die sofort zwei voll ausgebildete, den des Baumes gleichende Blätter aufschießen läßt. Die Ursache ist wohl die, daß bei beiden das Samenweiß bereits infolge seiner bedeutenden Größe als Amme oder Keimblatt dient.

Aber das Cyclamen hat noch mehr Geheimnisse, und hier ist eins. Wenn ich durch eine unreife Samenkapsel einen Querschnitt mache, gleicht der Schnitt dem einer einjährigen Wurzelscheibe derselben Pflanze. Ist denn die Samenkapsel nur eine Nachahmung, und sind die Samenkörner nur als Brutzwiebel zu betrachten?

Die Frage ist berechtigt, denn nur gewaltsam hat man entschieden, daß die Phanerogamen sich immer mittelst einer Brütung fortpflanzen, und die Größen des achtzehnten Jahrhunderts, darunter Spallanzani, meinten, die Sache sei zweifelhaft, wenigstens in den Einzelheiten, wenn nicht im ganzen.

Ich war auf die abenteuerliche Idee gekommen, es gebe etwas Gemeinsames zwischen einem Alpenveilchen und einer Seerose, und ich war bloß einem äußeren Eindruck gefolgt. Als ich aber das Verhältnis zu untersuchen anfing, erwies es sich als durchaus nicht so ungereimt. Die Seerose hat lange nach der Ansicht der Botaniker mit einem Fuß bei den Monocotyledonen gestanden, trotzdem sie dicotyledonisch ist. Der Stiel hat nämlich keinen Zentralzylinder und die Wurzelhaube hat dieselbe Anordnung wie Lilien und Orchideen. Aber davon abgesehen gibt es eine ganz entschiedene Übereinstimmung zwischen Cyclamen und Nymphaea. Die Seerose streckt ihren Blütenstiel aus dem Wasser heraus, und nach der Befruchtung zieht sie ihn auf den Schlamm des Bodens hinunter. Das Cyclamen macht es ebenso, indem es den Blütenstiel in einer Spirale dreht, welche die Frucht hinunter unter die Erde bringt.

Warum das Cyclamen diese Handlung ausführt, die bei der Alpenpflanze den Zweck haben könnte, die Frucht vor Kälte zu schützen, ist nicht leicht herauszufinden, wenn nicht das Mystische in der ganzen Fortpflanzung der Pflanze das Motiv verbergen sollte. Ein reiner sogenannter mechanischer Akt ist es nicht, denn ich habe befruchtete Blütenstiele der Einwirkung einer Kältemischung ausgesetzt, aber keine Tendenz, sich spiralförmig zu winden, beim Stengel gesehen.

 

Ich ging eines Tages im Walde über der blauen Donau spazieren und gab auf alles acht. Und ich bemerkte eine Matte aus Efeublättern von der niedriggewachsenen Waldart. Die Blätter hatten sich gegen die Sonne gestellt, die nur mit Mühe durch das Laubwerk des Baumes dringen konnte. Als ich den Efeu eine Weile betrachtet hatte, bemerkte ich ein Cyclamen mitten darin. Und dann bemerkte ich noch einige, und sah schließlich ebenso viele Cyclamenblätter wie Efeublätter. Warum ich nicht gleich das Cyclamen entdeckte, kam daher, daß diese Art, Europeum, eine dunkelgrüne Zeichnung mitten auf dem Blatte hat, die außen von einem Weißgrau begrenzt wird, so daß das Dunkelgrüne inwendig ein Efeublatt bildet. Meine Gedanken verfielen sofort auf Mimetismus, den ich ein Recht habe zu verwerfen, solange die Botaniker den Pflanzen Nervensystem und Intelligenz verweigern, aber ich wurde sofort nach einer anderen Richtung gezogen, wo ich mich freier fühlte.

Ich hatte oft in der Pflanzenwelt bemerkt, daß die Natur eine Skizze entwirft, ehe sie sie ausführt, und ich sah hier beim Cyclamen, daß die rote Farbe der Blüte bereits im Blattschaft bereitet und auf die Palette des Blattes gelegt wurde. Und ich fragte mich: sollte nicht die weiße Guillochierung auf der oberen Seite des Blattes die Skizze zu einer neuen Form sein?

Als ich nach Hause kam, schlug ich Cyclamen in allen Floren Europas auf, und da fand ich in der italienischen Flora folgendes: Im unteren und mittleren Italien wächst ein Cyclamen, Repandum genannt, das eckige, ausgeschnittene Blätter hat. Und in der französischen Flora stieß ich auf ein Cyclamen Hederaefolium mit efeuähnlichen Blättern.

Gibt es denn einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Efeublatt auf dem Boden und der Zeichnung auf dem Cyclamenblatt? Sehen wir zu! Das Efeublatt ist eine mathematische Figur, die Cissoide heißt und von Diocles entdeckt wurde. Sie wird so in der neueren Geometrie charakterisiert: eine Kurve, die beständig den Lotrechten folgt, die man vom Brennpunkt einer Parabel auf deren Tangenten fällt; oder: eine Linie, welche die Kontur des Efeublattes nachahmt, indem sie sich ihrer Asymptote nähert. Das Cyclamenblatt wieder bildet eine kaustische Figur, die bekanntlich durch Brechung von Strahlen in einem konkaven Spiegel entsteht, oder durch Fallen von Strahlen durch eine durchsichtige Halbkugel, einen Kegel oder einen Zylinder. Wenn man auf einer Veranda sitzt, wo die Sonnenstrahlen durch dichtes Laubwerk hereinbrechen, sieht man eine Menge Ellipsen sich auf dem Boden abzeichnen. Diese entstehen dadurch, daß der Lichtkegel, der durch die Löcher im Laubwerk dringt, vom Boden geschnitten wird; es sind also Kegelschnitte. Was wird denn im Walde unter dem dichten Laubwerk geschehen? Das wird man wohl schwerlich ausrechnen können, aber das hindert den Gedanken nicht, sich im voraus eine Vorstellung von dem Linienspiel zu bilden, das bei allen Kegelschnitten entsteht, zu denen die Parabel und Hyperbel auch gehören und die ja in einem intimen Zusammenhang mit der Cissoide und den kaustischen Linien stehen. (Vergleiche: Biot, Les surfaces catacaustiques, Paris 1841; oder Hauy, Physique, Paris 1806.)

Exoterisch und vereinfacht: hat das Efeublatt dadurch, daß es das so lichtempfindliche Chlorophyll im Cyclamenblatt deckt, ein Positivbild genommen? Das ist eine Frage, die zu stellen der Anhänger der mechanischen Theorie ein Recht hat (mit Bernardin de Saint-Pierre und Elias Fries würde man ebenso berechtigt fragen können: hat das Cyclamen sich am Efeu versehen?). Daß die Sonne ein Photograph ist, ist entschieden. Man sehe in die Rose, die mit ihren konkaven Spiegeln die gelben Strahlen in kaustischen Figuren auf die Staubbeutel wirft. Man betrachte die Zeichnungen auf den Blättern des Wiesenklees und sehe, ob die nicht von der Ellipse konstruiert werden können. Man denke an den Rücken der Makrele, wo die seegrünen Wellen auf Silber photographiert sind. Aber man bleibe voll Erstaunen vor der Winde stehen, deren Blütenknospen die des Getreides, besonders die Deckblätter des Hafers, auf eine so verwirrende Weise nachahmen, daß, zeichnet man die beiden, ein Unterschied nicht vorhanden ist. Tausend Jahre lang zusammen gesäet, gewachsen, gemäht, könnten sie sehr wohl einen Eindruck voneinander empfangen haben.

Francis Bacon sagt: Basilica verwandelt sich in Thymus Serpyllum, wenn sie allzu lebhafter Sonne ausgesetzt wird: »herbis licet illis nullum naturae confinium agnoscentibus.« Und ferner: Man mische Samen von Portulak und Lattich und sehe, ob sie nicht Geruch und Geschmack nacheinander ändern. De Candolle bemerkt: eine Rose riecht stärker, wenn eine Zwiebel daneben wächst; und das glaubt man, weil es durch die organische Chemie erklärt werden kann: das Propin der Zwiebel C 3H 4, das auf das Äthyl der Rose C 2H 4 hinuntergeht. Wenn man aber mit Bernardin de Saint-Pierre glaublich machen will, daß die Sonnenblume den höchsten Stand in der Pflanzenskala erreicht hat und das Bild der Sonne mit Scheibe, Strahlen und Flecken wiederzugeben vermag, was noch nicht durch Physik erklärt werden kann, so ist das Mystik.

Das kleine Cyclamen hat also seine kleinen Geheimnisse; wie große wird da nicht das unendliche Universum noch bergen?

1895.

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