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Ich bewohne einsam ein ganzes Gewese in Versailles. Mein Landsmann X. hat mir ein in allen Teilen leer stehendes Haus von drei Stockwerken mit fünfzehn Zimmern und drei Küchen überlassen; und in ein Zimmer des ersten Stockwerkes hat man ein Bett und einen Tisch für mich hineingestellt.
Die Einsamkeit hat für einen Individualisten, wie ich es bin, etwas Erhabenes. Meine Wohnstätte ist ein Kloster modernsten Schlages, und ich richte mich aufs beste mit meinem Bett ein. Übrigens habe ich drei Viertel meines Lebens auf Betten liegend zugebracht: dadurch kommt das Blut besser dazu, mein Gehirn zu befeuchten, so daß es Knospen treibt, die ich dann mit Vergnügen auf fremde Wildstämme pfropfe.
Doch aus irgendeinem Anlaß, den ich nicht entdecken kann, versagt das Bett mir heute die Ruhe, die ich genießen will. Mißmutig stehe ich auf und nehme die Guitarre, um meinen Nervenakkord zu suchen. Ich habe die Gewohnheit, meine Seele und das Instrument nacheinander zu stimmen, und wenn ich mich niedergeschlagen fühle, erhöhe ich meine Seele Ton für Ton, indem ich die Wirbel der Guitarre anziehe.
Heute sind meine Nerven auf D-Moll gestimmt; ein übles Zeichen: ich bin traurig, betrübt bis zum Tode, düster wie ein Trauermarsch. Nach einigen Anstrengungen glückt es mir, mich auf F-Dur zu erhöhen, und im selben Augenblick vernehme ich innerlich einen kriegerischen Hymnus, voll von Triumph und Jubel.
Ich lege mich wieder aufs Bett. Sofort sinke ich um drei Töne, und aller Gram, alle Sorgen, die ich durchgemacht habe, werden von neuem in meinem Gehirn geboren, das sich vergebens bemüht, sie fortzujagen. Die ganze Nichtigkeit des Lebens, die Eitelkeit des Daseins, die Zwecklosigkeit der Arbeit drücken mich auf besondere Art, die ich wiedererkenne, nieder. Es ist derselbe Seelenzustand, der mich anficht, wenn ich rückwärts gegen die Fahrrichtung in einem Wagen sitze. Sollte ich vielleicht verkehrt im Bett liegen oder mein Bett verkehrt aufgestellt sein? Ich werfe einen Blick durch das Fenster und merke nach der Richtung des einfallenden Lichtes, daß ich mit dem Kopf gegen Osten liege, so daß ich im Zusammenhang mit der Bewegung der Erde rücklings Purzelbaum schieße, mit andern Worten auf der Fahrt durch den Weltenraum wirklich rückwärts sitze.
Eine Kindheiterinnerung kommt mir zu Hilfe. Ich besinne mich, daß meine Mutter zu sagen pflegte, man solle immer sein Bett von Norden nach Süden stellen, dann würde man nicht von Würmern geplagt. Ich lasse den Wert dieser Spulwürmerprophylaxe dahingestellt und rücke mein Bett in die Richtung des astronomischen Meridians; und wie so mein Körper in Übereinstimmung mit der Erdachse ausgestreckt ist, fühle ich mich ganz lieblich in die Unendlichkeit eingewiegt und durchlaufe meine Bahn mit einer Schnelligkeit von vier Meilen in der Sekunde. Stille herrscht nun in meinem Nervensystem, die beunruhigenden Gedanken verschwinden … und ein halb wollüstiges Gefühl, wie beim Herumschwenken in einem Karussell, betäubt den Kummer, der schlimmer plagt als alle Spulwürmer. Meine arme Mutter hatte vielleicht recht, obgleich sie selbst nicht recht an den Aberglauben glaubte.
Ich schlummere ein und schlafe eine Stunde. Beim Aufwachen merke ich, daß ich geweint habe. Ich habe wieder dieselbe Sache geträumt: zwischen weißen Birkenstämmen erblicke ich meine Kinder. Ich gehe ihnen entgegen, um sie zu umarmen: sie wenden mir den Rücken und wollen mich nicht kennen, weil ich arm bin.
Ich schlage die Augen auf, hefte den Blick auf den weißen Marmorkamin und sehe dort ein Netz von blutroten Fäden. Das ist meine eigene Augennetzhaut, die da vergrößert projiziert ist – eine Entdeckung also, die niemand vor mir gemacht haben sollte?
Von neuem nicke ich auf fünf Minuten ein, und wie ich die Augen wieder öffne: was sehe ich? Auf dem Kamin zeichnet sich eine Begonia mit weißen und roten Blüten ab, die zittern. Ich frage mich, warum die Blüten beben … im selben Augenblick verschwindet die Erscheinung …
Was war das? Ganz gewiß die Blutgefäße der Hornhaut nebst den weißen und roten Blutkörpern aus der Entfernung in ungeheurer Vergrößerung gesehen. Sollte mein Auge auf dem Wege sein, sich zu einem Sonnenmikroskop von unerhörter Stärke zu entwickeln?
Ich fühle keine Lust mehr, zu schlafen. Der Schlaf bringt mir Leiden statt des Trostes, der den Armen und Unglücklichen verheißen ist. Der heilige Schlaf, der nächtliche Friede, die letzte Zuflucht, die ist also zunichte geworden – gleich allem andern! Doch warum beklage ich mich? Sind es nicht die Schlaflosigkeit und die Überanstrengungen, die meine Sinne und Nerven geschärft haben? Sind es nicht die Tränen mit ihrem fressenden Salz, die meine Hornhaut so bereitet haben, daß ich meine eignen Blutgefäße in der Projektion einer Laterna magica sehe? Ja, sicher! Ich werde also noch einmal weinen müssen, um meine neue Entdeckung studieren zu können.
Ich rufe alle unangenehmen Erinnerungen eines Lebens zu Hilfe, das an gehäuften Traurigkeiten so reich gewesen ist. Ich beschwöre den Schatten meiner Mutter herauf, ohne sie betrauern zu können, denn sie verabscheute mich von dem Tage an, da ich Latein und Griechisch zu lernen begann, das sie nicht begriff. Ich segne sie und vergesse sie wieder. Ich richte meine Gedanken auf das Unrecht, das man mir ständig getan hat; aber ich werde wütend, ohne daß es mir glückt, eine Träne hervor zu locken. Ich denke an meine Kinder, die ich für immer verloren habe … Da, plötzlich, aus einem unwillkürlichen Instinkt, reagieren meine Gefühle auf den Schmerz und wie eine Wunde, die der Arzt berührt, zuckt und zieht sich mein Herz mit geschlossenen Klappen zusammen.
Nicht gerade ein Richtweg, um meine Wahrnehmungen zu schärfen! Die gehen ihren Gang nach eignem Willen. Doch nun taucht die Erinnerung an begangene Dummheiten auf, gute Gelegenheiten, die ich verpaßt habe, Glück, das ich mir habe entgehen lassen; die Wangen werden mir heiß, die Augen brennen und ich sehe Rot, Blutrot und Feuersglut. Ja, nicht über unsre Schlechtigkeiten und Vergehen schämen wir uns, sondern über unsre Dummheiten! Und wie plötzlich sie auftauchen, ungebeten und unwillkommen!
Ich höre im Geist eine mißglückte Rede, die ich einmal auf einem Fest hielt; es war im Jahre 1867; ich sehe die verlegenen Gesichter der Gäste, die für mich erröten … ich will mich nicht daran erinnern … ich ersticke … ich springe vom Bett auf und stelle mich ans Fenster, das nach dem Walde von Meudon sieht. Ich suche einen Gegenstand, um meinen Blick daran festzuhaken, um den Lauf meiner ungesunden Gedanken abzuleiten. Ich durchspähe den Himmel, die Erde, den ganzen Horizont, um einen Punkt zu entdecken, jenen Punkt außer mir, den Stützpunkt, der mir helfen soll, mich aus dem Brunnen, in den ich gesunken, zu ziehen und zu heben: ein Vogel mit gestreckten Schwingen, eine Rauchsäule, den Widerschein einer Feuersbrunst. Ich sehne mich danach, ein Geräusch zu hören, den Ton einer Glocke, einer Trommel oder eines Büchsenschusses …
Da erhebt sich auf einmal ein grauer, runder Punkt über die Linie, die die Buchenwälder von Meudon bilden. Er steigt und wird größer. Er nähert sich, kommt auf mich zu, wie von einer unbekannten Macht gesandt, die mir augenblicklich günstig ist.
Es ist der Luftballon vom Luftschifferpark in Meudon! Er wandert von Ost nach West, also in einer Richtung, die der unsers Planeten entgegengesetzt ist. Als er still steht, frage ich mich, leise natürlich:
Warum sollen wir denn den Wind haben, große Götter, und die Bewegung und die himmlische und irdische Mechanik und Physik? Flieht nicht die Erde hinweg und läßt jene dünne und leichte Maschine weit hinter sich, die in der Luft schwebt und von der Schwerkraft befreit ist? Der Erdball legt ja in einer Sekunde 29 450 Meter zurück, die Drehung um seine Achse ungerechnet! … Warum? …
Warum? Ja, weil Kopernikus es gesagt, Galilei es behauptet und Newton es geglaubt hat! Doch Newton glaubte auch an das Buch der Offenbarung, der Ehrenmann! Und auch der Pater Secchi ist ein großer Astronom, obgleich seine Religion ihm ausdrücklich verboten hat, daran zu glauben, daß die Erde sich um die Sonne dreht. Die Assyrer, Hebräer, Ägypter, Griechen und Römer haben es verstanden, ihren Kalender zu machen und Sonnenfinsternisse vorauszusagen; Kolumbus konnte Amerika entdecken, ohne zu wissen, daß die Erde wie verrückt läuft und sich um einen Punkt dreht, den sie niemals erreicht!
Seit der Ballon meinen kindlichen Glauben an die Umwälzung, die mit dem Haus und meinem Bett vor sich gehen soll, erschüttert hat, brüte ich nicht mehr über meine Verdrießlichkeiten. Ich glaube den Luftzug nicht mehr zu fühlen, der von der rasenden Geschwindigkeit im Raum hervorgebracht wird. Ich betrachte die Wassertropfen, die in geraden Linien, ohne abzuweichen, fallen. Ich beobachte die wagerechte Wasserfläche in der Karaffe auf meinem Nachttisch. Diese Fläche ist unbeweglich. Die Lampe, die von der Decke herabhängt, rührt sich auch nicht. Wie vollkommen doch die Welt geschaffen ist! Man könnte vor Neid krank werden.
Zwei volle Tage weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll. Ich bleibe auf meinem Bett liegen, immer in der Richtung des Meridians. Ist es nicht die Natur, die uns diese Lage auf dem Rücken angewiesen hat, der uns mit seinem prächtigen Brett die größte Anzahl Stützpunkte bietet und dabei so gut gepolstert ist!
Drei Tage habe ich zwei große, mäßig gemalte Bilder in soliden Rahmen beobachtet, die an der Wand vor mir hängen. An Schnüren aufgehängt, die horizontal hinter den Rahmen befestigt sind, haben diese Gemälde nur einen Stützpunkt, so daß sie für die geringste Bewegung empfindlich sind. Die Wand erstreckt sich von Osten nach Westen oder umgekehrt, was die Sache nicht verändert. Nun: diese Kunstwerke finde ich jeden Morgen, wenn ich erwache, schräg gerutscht, die linke Ecke nach unten geneigt, die rechte nach oben zeigend!
Was soll man da glauben? Nichts! Mein Haus ist solid gebaut, auf einem Boden, der sich von der Tertiärformation herschreibt, und es liegt nicht an der Straße, so daß Erschütterungen durch Fuhrwerk ausgeschlossen sind. Ich begnüge mich damit, Nutzen aus dieser Entdeckung zu ziehen; meine nächtliche Sonnenuhr zeigt mir gleichzeitig die Stunde an und die Bewegung meiner Wohnung um die Achse der Erde. Vielleicht bewegt sie sich doch!
Ich komme von den Bergen und Tälern dort unten, von den Ufern der blauen Donau. Hinter mir habe ich die Hütte am Wege gelassen, die ansetzenden Trauben, ich habe die Tomaten, die Melonen, die auf ihre Reife warten, zurückgelassen, und die Rosen, die knospen. Zum hundertstenmal habe ich mein Ränzel geschnürt und bin ausgewandert, um Arbeit in der großen Stadt zu suchen, auf dem Markt und der Werkstätte der kämpfenden Gehirne, in Paris!
Während voller achtundvierzig Stunden habe ich wie ein Gefangener in einem Eisenbahnwagen gesessen und wider Willen die Kohlensäure und den Stickstoff von Menschen eingeatmet, die ich nicht kannte. Anfangs verabscheute ich sie nur, denn sie störten mich, diese Wesen, die mich zwangen, die Linien ihrer Gesichtszüge festzuhalten und ihre Unterhaltung anzuhören, die mein Gehirn in Bewegung setzte. Ich war schutzlos gegen dieses Attentat auf meine geistige Selbstbestimmung, und es half nicht, daß meine Seele sich empörte; sie wurde in die Alltäglichkeit hineingezogen, während sie auf diesen dürftigen Gedankenaustausch lauschte. Und ich verfluchte von Herzen meine Kameraden, die mit mir in dieselbe Schachtel eingeschlossen waren.
Als aber die Müdigkeit über sie Macht bekam, so daß sie schwiegen, legte sich ein so sorgenvoller Ausdruck auf ihre Gesichter, daß ich sie schließlich beklagte. Ihrer gewohnten Lebenssphäre entrückt, denen die sie liebten entrissen, flößten sie mir Bedauern ein. Ein allgemeines Unbehagen liegt über diesem beschwerlichen und unsauberen Zusammensein im Eisenbahncoupé, wo man Steinkohlenstaub und Schwefel in Rauchform einatmet, wo Sand und unsichtbare Feilspäne das Augenlid mit seinen Wimpern knistern lassen. Als die Nacht hereingebrochen war und diese armen Menschen schliefen, die ungewaschenen Hände über dem Magen gefaltet und die bleichen, schweißigen Gesichter auf die Brust niedergebeugt, erinnerte unser Coupé an ein Schlachtfeld mit Leichen und verstreuten Gliedmaßen. Der Schlaf bringt keine Gefühle von Glück; und in unserm Kerker hallen Seufzer wider, Seufzer von Wesen die nach Millionen Jahren aus der Zivilisation in den Zustand des Tiers oder des Wilden zurückgefallen sind und von grünen Weiden, einer sensationellen Notzucht oder vielleicht auch von einem braven Mord träumen.
Ich erwache in dem heiligen Versailles, nachdem ich sechzehn Stunden ununterbrochen in einem richtigen Bett geschlafen habe. Die Müdigkeit ist fort und mit ihr auch die schwarzen Dämonen der Einbildung. Die Verdrießlichkeiten sind ihrer Wege gegangen, der Kummer wie fortgeblasen, selbst die Erinnerungen sind verdunstet. Die Gefühle der Zuneigung, auch die am tiefsten wurzeln, haben ihren Griff losgelassen; eine Gleichgültigkeit, die wie eine Befreiung wirkt, hat ihren Platz eingenommen. Doch die Stöße des Eisenbahnwagens haben meine Gehirnsubstanz so gründlich umgeschüttelt, daß ich die Fähigkeit verloren habe, meine Gedanken zu beherrschen. Die Leitungsdrähte scheinen zerbrochen zu sein, mein Kopf leer; es gelingt mir nicht, mich der Dinge zu erinnern, die ich in mein Gedächtnis zu rufen versuche.
Um die Beine zu bewegen, gehe ich aus, um mir das Schloß anzusehen, eine alte, liebe Bekanntschaft von meinem ersten Aufenthalt in Paris im Jahre 1876.
– Geradeaus, und dann links!
Ich biege nach links ab. Vor mir erstreckt sich die Avenue Saint-Cloud, steif und endlos, und der Hintergrund wird ganz ausgefüllt von dem Pavillon Ludwigs des Dreizehnten in ziegelrot und gelbgrau.
Ich gehe weiter. Nach einer Viertelstunde fühle ich mich müde. Ich habe eine von den Seitenalleen mit Linden gewählt, deren Zweige zu Kreuzgewölben gezogen sind, und ich gehe immer zu, ohne daß mir das Gebäude größer zu werden scheint. Es bewegt sich mit mir vorwärts und entfernt sich in demselben Maße, wie ich mich nähere. Noch eine Viertelstunde halte ich aus, dann kehre ich denselben Weg zurück, unsicher und nur davon überzeugt, daß ich die Länge des Weges falsch beurteilt habe.
Auf dem Heimwege sagte ich mir: »Diese Störung meiner Gesichtswahrnehmung ist eine natürliche Folge der anstrengenden Reise.«
Noch am selben Abend aber mache ich einen Spaziergang in der Richtung nach Viroflay, ohne eine Spur von Müdigkeit zu bemerken.
Am Morgen darauf beschließe ich, das Schloß mit Sturm zu nehmen. Ohne vorgefaßte Meinung gehe ich aufs neue die Avenue Saint-Cloud hinauf und fasse von weitem den von Grün umrahmten Pavillon Ludwigs des Dreizehnten ins Auge. Die übermäßig breite Avenue kommt mir sofort langweilig vor; unbewußt laufe ich in die Seitenallee wie in einen Hafen ein; bald beengen mich die Baumstämme wie Klammern und die Kreuzgewölbe zwicken mich wie mit Zangen. Halben Weges sinke ich auf eine Bank nieder.
Vernichtet und untröstlich sehe ich auf meine Uhr und vergewissere mich, daß der Spaziergang nicht länger als zehn Minuten gedauert hat. Den Blick von Wut geschärft, messe ich die Entfernung und glaube, auf der Mittelpartie des Gebäudes Büsten zu unterscheiden … von vorn gesehen …
Ich nehme die Karte von Versailles vor, berechne noch einmal die Entfernung und finde, daß höchstens fünfhundert Meter von meinem Platz bis zum Schloß zurückzulegen sind, da ja die ganze Länge der Allee tausend Meter nicht überschreitet.
Über diese einfache Tatsache verwundert, erkläre ich mir die Sache so: die Perspektivlinien wechseln, während ich vorschreite; zur selben Zeit wird der Gesichtswinkel größer, und dies infernalische Spiel unsichtbarer Linien verwirrt mein Gehirn, in dem sich die Irradiationsstreifen des verzauberten Schlosses abzeichnen.
Nachdem die Lösung des Problems so gefunden ist, werde ich wieder ruhig, schlage einen Querweg ein und trete nach zwei Minuten auf die weite Place d'Armes hinaus.
Dort steht mir eine neue Überraschung bevor: das Schloß gleicht durchaus nicht meinem alten Versailler von 1876. Zuerst und vor allem ist das hier kleiner, und dann ist sein Stil moderner. Kleiner, denn ich habe in der Erinnerung sein traditionelles Bild getragen, das die Größe des Jahrhunderts Ludwigs des Vierzehnten symbolisiert. Moderner, denn der Versailler Stil, Ziegel in Verbindung mit natürlichem Stein, ist in den letzten zwanzig Jahren etwas sehr Gewöhnliches geworden.
Nun muß ich über die Place d'Armes gehen. Dieses ausgedehnte Halbrund kommt mir wie ein Meer vor, und als ich darauf hinausgekommen bin, fühle ich mich von einer unerklärlichen Furcht ergriffen. Das große Gebäude zieht mich an, wie ein großer Körper den kleinern anzieht; und der offene Platz erschreckt mich wie der leere Weltraum. Vergebens suche ich einen Stützpunkt. Ein Mietwagen kommt auf mich zugefahren: ich folge ihm ein Stück, aber er überholt mich, trotzdem ich meine Schritte beschleunige. Ein Polizist nähert sich; allmählich erreiche ich ihn; ich schließe mich ihm an: seine Gegenwart schützt mich. Ich bin dessen gewiß, denn ein Gefühl von Wohlbefinden kommt über mich mit der animalischen Wärme, die unmerklich und unsichtbar von ihm ausströmt. Er steht still und guckt den Himmel an, so wie nur ein Wächter des Gassenfriedens ihn angucken kann, und ich stehe auch eine Minute still. Der Mann bekommt Witterung von mir, er fixiert mich; ich fühle seinen Blick, wie man fühlt, wenn eine Person hinter einem auf dem Trottoir geht und einen betrachtet. Instinktiv mache ich Kehrt, in der Furcht, für Gott weiß was gehalten zu werden, und finde eine Zuflucht bei einem Ungeheuern Laternenpfahl, der sich erhebt wie der Leuchtturm auf einer Klippe im Meer. Ich klammere mich an diesen Eisenpfahl fest; die Sonnenstrahlen haben ihn erwärmt und ich glaube zu fühlen, wie er von der Temperaturerhöhung aufgeweicht ist. Das ist Einbildung, da diese Aufweichung unmöglich mit dem Gefühl zu unterscheiden ist, und dennoch richtig, da ja das erwärmte Metall wirklich weicher wird.
Das Schloß zieht mich an sich unwiderstehlich, und dennoch kann ich mich nicht entschließen, meine Schäre zu verlassen – ein Schiffbrüchiger zwischen diesen Straßensteinklippen.
Eine wirkliche Angst befällt mich. Um sie zu bekämpfen, beginne ich wieder zu philosophieren und in Gedanken ähnliche Erscheinungen aufzurufen, die sich so oft wiederholen, ohne daß man sie verstehen lernt.
Man geht seinen Weg geradeaus auf dem Trottoir: man wendet den Kopf, um nach jemand oder nach etwas seitwärts zu sehen; sofort stößt man auf einen Körper: bautz! Da pralle ich auch schon auf einen Baum in der Avenue. Ist es wirklich die allgemeine Attraktion, die eben auf meinen Körper eine Anziehung ausgeübt hat, da das, was ihn steuert, für den Augenblick im Großgehirn seine Wirksamkeit ausgesetzt hatte?
Ein Beispiel! Sie gehen den Boulevard entlang: ein Betrunkener, dessen Gehirnfunktionen paralysiert sind, kommt Ihnen entgegen. Aus Erfahrung wissen Sie, daß es zu einem Zusammenstoß kommen kann, aber Sie wollen nicht aus Ihrem Kurs fallen und unter dem Einfluß dieses Vorsatzes fassen Sie Hoffnung, dem Betrunkenen auszuweichen. Vergebens! Er segelt gerade auf Sie zu; die Hoffnung, die Sie eben noch hegten, schwindet und damit Ihre Geistesgegenwart … Bautz! Sie werden von dem Zusammenstoß erschüttert, der eintreffen mußte, weil hier eine zwingende Notwendigkeit vorhanden war, ganz wie es mit der Attraktion der Erde der Fall ist.
Wirkt da eine unbekannte Kraft? Gibt es mehr als eine Kraft? Die Gelehrten sagen nein und erklären die Energie für einzig.
Ich befinde mich also unter dem Einfluß der anziehenden Kraft. Ich lehne mich gegen diese blinde, brutale Macht auf; und, um sie besser bekämpfen zu können, personifiziere ich sie und mache sie zu einem Gott. Allerdings will ich vorwärts kommen, zu meinem Ziel: dem Palast, doch ich will zur selben Zeit jener überlegenen Kraft trotzen. Mein Gehirn teilt sich und bekämpft sich selbst; und ich erwarte beinahe, meinen halben Körper auf der Place d'Armes spazieren gehen und die andre Hälfte am Laternenpfahl stehen zu sehen. Vergebens suche ich die beiden Maschinenteile zusammenzukoppeln: ich bemühe mich, ein Ich aufzufinden, das über mir selbst steht – als plötzlich, durch einen unfreiwilligen, doch unfehlbar notwendigen Zufall, meine Hände, die noch immer den Eisenpfeiler umklammern, sich begegnen: die psychischen Ströme werden vom Eisen vereinigt, die Kette schließt sich und ein Psychomagnet ist vorhanden. Sein Einfluß wirkt auf mein Nervensystem, und es gerät sofort wieder unter meine Herrschaft.
Leider kann ich das stärkende Berührungmedium nicht mitnehmen! Unruhig blicke ich um mich, um das Fahrzeug zu finden, das mich von dieser öden Schäre retten kann, und aus alter Gewohnheit hebe ich das Auge gegen diese blaue Gasbildung, die die Strahlen der Wärme und des Lichtes durchsiebt und von den Gläubigen mit Recht der Himmel genannt wird, denn dort wohnen die Urkräfte. Eben schwimmen weiße Wolken über die Sonnenscheibe und werfen ihre großen, beweglichen Schatten auf das Steinpflaster der Place d'Armes. Sonne, Himmel, Gott – es macht wenig aus, unter welchen Namen wir dich anrufen –: ich danke dir, denn du hast ein ganzes Geschwader von Kanoes mir zur Verfügung gestellt! Was verschlägt es, daß sie, wenn alles zusammenkommt, nur Schatten sind wie alles andere! Jetzt bin ich Dichter und Zauberer in einer Person. Ich wähle mir den festesten von diesen Dampfern, steige vorsichtig an Bord … Vorwärts … Schön, die Überfahrt ist gelungen!
Ich ziehe Vorteil aus dem Wiedergewinn meiner Kräfte und kreuze den Schloßhof unter dem Schutz Richelieus, Bayards, Colberts und der andern schweigenden Marmorstatuen, deren Gegenwart in dieser Wüste mich belebt; und ich erreiche den Eingang zum Museum.
Vor der Tür steht eine Schar Menschen und wartet darauf, daß das Heiligtum geöffnet werde, und ich nehme Platz unter dem Haufen. Kaum bin ich in diesen Trupp eingeschrieben, da verwandelt mich der Zufall in eine Ziffer; vergeblich richtet mein Ich sich dagegen auf, von der Furcht bedroht, durch die Menge oder die Berührung mit den andern sich ausgetilgt zu sehen. Die hinten Stehenden verabscheuen mich und ich fühle, wie sie mich hassen, während ich selbst denen fluche, die vor mir stehen und mich mit ihren Kleidern streifen … Ich breche aus der Reihe aus und flüchte in den Park.
Ein unendliches Lichtmeer umfängt mich wie ein Stoff, der dichter ist als die Luft und mir die Empfindung gibt, als ob ich fliege, wenn ich den Boden leicht mit den Füßen berühre. Ich bin froh, daß ich das Innere des Schlosses nicht gesehen habe; es bleibt mir unbekannt, gleichsam mystisch und verzaubert. Und der Duft von Millionen Blumen in den Gärten berauscht mich, und der starke Wind vom Felde her ernüchtert mich wieder. Ich schreite auf der Terrasse dahin, glücklich wie ein Gott, und da merke ich, daß der Boden unter meinen Füßen schaukelt; doch sehr gelind; es ist, wie wenn man über eine Hängebrücke geht. Ich weiß, daß die gewölbten Decken der Orangerien unter mir liegen, und ich beruhige mich damit, daß die Gewölbebogen, die einen Gegendruck nach oben ausüben, einen Überschuß von Stärke bieten müssen, gegen den meine Fußsohlen reagieren; und der Eindruck überträgt sich in mein Nervensystem, dessen Empfindlichkeit durch körperliche oder seelische Leiden geschärft ist.
Ich steige die Marmortreppe hinab und komme in den Hof der Schweizer – und glaube mir, da ich es dir sage, geneigter Leser, glaube mir: ich sah die im Orangeriegewölbe gefangenen Spannkräfte über die Arkaden gleich einem Nordlicht ausstrahlen … Du lächelst … Warum? Wenn das elektrische Licht nichts anders ist als verwandelte Kraft: warum willst du dem Nervengeflecht meines Auges die Fähigkeit absprechen, einen Eindruck von Energie in einen Eindruck von Licht umzusetzen? … Zweifle weiter, meinethalben! Soll ich dir erst nach den Regeln der Kunst einen Faustschlag ins Auge versetzen, damit du die Verwandlung meiner physischen Kraft in Form von leuchtenden gelben und roten Blitzen bemerkst? …
Ich will fort von dem verzauberten Schloß. Ich will die Blumen in den Gärten ansehen, doch die Steinmasse hält mich zurück, zieht mich an … ununterbrochen, im direkten Verhältnis zu ihrem Umfang und im umgekehrten Verhältnis zum Quadrat der Entfernung. Mein Haß gegen den Riesen hat sich in Liebe verwandelt, und ich lasse meine Hand über den Steinfuß gleiten, ich streichle ihn, wie man einen großen Hund tätschelt.
Ich streife an den Mauern entlang und gelange wieder auf den Marmorhof hinaus, wo ich mich ausruhe und Pläne schmiede, wie ich allen diesen unsichtbaren Feinden, die mir zusetzen, entkommen soll.
Während ich so dastehe und mich gegen die Mauer neige, sehe ich plötzlich, daß der Marmorhof den Gehörgang zu einem großen Ohr bildet, dessen Muscheln von den Flügeln der Gebäude gebildet werden. Ergriffen von dieser neuen Phantasie und froh darüber, auf diese bizarre Entdeckung gekommen zu sein, die ich wie ein Floh im Ohr eines Riesen gemacht habe, lausche ich dicht an der Wand … Welche Überraschung! … Ich lausche genau … Ich höre ein donnerndes Meer, Volkshaufen, die stöhnen, verlassene Herzen, deren Schläge ein mattes Blut aufpumpen, Nerven, die mit einem kurzen, klanglosen Knall platzen, Schluchzen, Gelächter und Seufzer! …
Ich muß mich selber fragen … Ist das nicht subjektive Sinnestäuschung? … Bin ich's nicht nur, ich selbst, der zu hören glaubt? Nein, ich kenne die Nücken meiner Sinne von Grund aus.
Kommt dieses Gemurmel von den Pulsen der Versailler? Unmöglich … Die kleine Stadt liegt dort so still, als ob sie schlummerte, und überdies macht es die Hörlinie unmöglich, daß die Laute von dem Seitenviertel kommen.
Was ist es denn? … Eine unbestimmte Jugenderinnerung taucht in mir auf: der Bericht von dem Seemann, der von Lissabon abgesegelt war und nach zweitägiger Fahrt das Glockengeläut weit draußen auf dem Meere hörte – doch nur auf der Seite, wo das Segel konkav ausgespannt war und dadurch wie ein Brennspiegel wirkte. Nach einer Fahrt von zwei vollen Tagen! …
Was höre ich jetzt? … Flüsternde Menschenstimmen … Gerade über meinem Kopf befindet sich das Fenster des großen Königs Ludwig … Der Schelm! Er hatte es sicher vor mir entdeckt, daß hier ein Dionysiusohr ist! Hier stand er auf der Lauer und spionierte aus, was man in Paris sagte! Denn Paris ist es, das ich hier murmeln höre, von dieser Hügelkette her, die sich von Courbevoie bis nach Sceaux erstreckt und sich in einem Halbkreis ausbreitet, dessen Brennpunkt Versailles und dessen Gehörgang das Sèvres-Tal ist.
Ist's möglich, frage ich noch einmal, bin ich nicht wirr?
Geboren in der guten alten Zeit, da man mit Öllaternen, Postkutschen, Ruderbooten und sechsbändigen Romanen vorlieb nahm, habe ich mit einer unfreiwilligen Schnelligkeit die Periode des Dampfes und der Elektrizität miterlebt – vielleicht mit dem Resultat, daß ich den Atem verloren und schwache Nerven bekommen habe. Oder sollten meine Nerven in einer Entwicklung zur Überfeinerung begriffen sein und meine Sinne allzu subtil werden? Wechsle ich die Haut? Bin ich im Begriff, ein moderner Mensch zu werden? … Ich bin nervös wie ein Krebs, der seine Rückenschale abwirft; reizbar wie ein Seidenwurm, der sich verwandelt. Will der Schmetterling aus der Puppe fliegen, ehe noch die Kokonseide aufgehaspelt ist? Wird er totfrieren?
Wie es auch sein mag: ich bleibe hier an meinem Dionysiusohr stehen und lausche mit gespannter Aufmerksamkeit. Ich lausche, was man in der großen Werkstatt der Intelligenzen, in Paris, flüstert.
Ich habe neulich die Wälder zwischen Viroflay und Ville d'Avray entdeckt. Von meinem Fenster in Versailles gesehen, ist der Horizont im Nordosten von einem Walde begrenzt, über dem ständig Wolken von einer rosenroten Farbe ruhn, mag der Himmel klar und blau wie eine Fayence von Nevers sein oder nicht. Diese Wolken, die übrigens eine ausgesuchte Form haben (sie gleichen ausgefädelter Seide), machen mir seit einiger Zeit Kopfzerbrechen, und diese Rotbuchen, Hainbuchen und Eichen, die ein Geheimnis verbergen, locken mich wie alles Geheimnisvolle.
Eine schöne Morgenstunde vor Sonnenaufgang betrete ich jenen Wald. Das Milieu wirkt auf mich ein und ich sträube mich dagegen nicht; ich fühle mich der Tracht des zivilisierten Menschen entkleidet. Ich werfe meine Maske als Mitbürger ab, habe ich doch niemals den sogenannten gesellschaftlichen Vertrag anerkannt; ich lasse meine aufrührerischen Gedanken Holterdiepolter laufen, und ich denke, ich denke … ohne Feigheit, ohne Hintergedanken. Da sehe ich mit der Scharfsichtigkeit des Wilden, ich lausche und wittre wie eine Rothaut!
Und ich sage zu mir:
Die Gelehrten behaupten, die Pflanzen atmen ihre Kohlensäure während der Nacht und die ganze Nacht hindurch aus. Da dieses Gas schwerer ist als die Luft, so schwer, daß man es aus einem Glasgefäß in ein anderes zapfen kann, ehe es sich dem Diffusionsgesetze unterwirft, so muß an der Erdoberfläche Kohlensäure sein, wie sie sich im Brauereikeller oder in der Hundsgrotte bei Neapel findet. Eine nächtliche Promenade im Walde würde also todbringend sein! Frage die Landstreicher, die die ganze Nacht auf dem Grase, unter den Büschen, im Boulogner Wäldchen schlafen …
Anmerkung des Übersetzers. Strindbergs im »Antibarbarus« von 1894 entwickelte Lehre, daß die Pflanzen ihre Kohlensäure nicht aus der Luft, sondern aus dem Boden nehmen, hat Willy Pastor in seiner »Lebensgeschichte der Erde« (Leipzig 1903) akzeptiert: »Das ist das Resultat der Strindbergischen Untersuchungen, zu dem sich die Wissenschaft über kurz oder lang wird bekennen müssen: nicht die Kohlensäure der Luft hat die Blätter der Pflanzen gesättigt, sondern die Blätter sind das Gebende. Die Wurzel der Pflanze enthält im allgemeinen nur wenige Salze, der Stengel Kieselsäure, die Blätter kohlensauren Kalk. Wie die Verwandlung der Tonerde in Kiesel und des Kiesels in Kohlenstoff vor sich geht, hat noch kein Mikroskop verraten. Daß sie aber vor sich geht, und daß die Pflanzen, indem sie an den Endpunkten dann namentlich den Sauerstoff ausströmen, luftbildend, atmosphärebildend wirken, das ist nicht länger zu bezweifeln.«
Warum seine Zuflucht nehmen zu Autoritäten hier unten oder dort oben? Bist du vielleicht feige? Ich lege mich auf den Boden und atme die schöne Luft ein, die erquickender ist als mitten am Tage, wo die Pflanzen gezwungen sind – wenn man den Gelehrten glauben darf – den berauschenden Sauerstoff auszuatmen. Ich sterbe nicht bei dem Versuche. Ich lache über die übermenschliche Dummheit, die an so vieles glauben kann, das durch Suggestion von Mann zu Mann beigebracht wird. Und ich lächle bei dem Gedanken, daß es erwachsene Menschen im grünen Frack gibt, die öffentlich lehren, daß die Pflanzen ihre Kohle aus der Kohlensäure der Luft nehmen und zugleich nächtlich ein Kohlengas von sich geben. Sich so viel Mühe machen, um plus minus null zu erreichen!
Ich betrachte eine riesenhafte Kiefer vor mir. Ich frage mich selbst, ob die wirklich ihr kräftiges Gerippe mit Hilfe der 4/ 10 000 Kohlensäure, die in der Luft enthalten sind und wovon nur 28 Prozent auf Kohle kommen, aufgezimmert hat? Genug davon!
Gleich einem Tier, das durch Kreuzung eines Polypen, eines Insekts, einer Schlange und eines Fisches entstanden ist, erhebt sich die Kiefer in die Höhe. Ihr langgestreckter Körper, der mit Schuppen bedeckt ist, enthält das Zirkulations – und Lymphsystem, dessen Gefäße bis in die Blätter mit den grünen Nadelspitzen hinaufsteigen, die den kammförmigen Kiemen eines Hechtes gleichen.
Bei der Akazie nebenan erinnern die Kiemen an das Atmungsorgan der Kaulquappe, ja sie bilden es genau nach und haben eben solche Lappen.
Die Kiefer senkt ihren offnen Bauch in die Erde hinunter, ihre umgewendeten Därme, die Verdauungssäfte über die Nahrung absondern, ehe sie die aufsaugt, wie die Fliege zu Wege geht. Die Holzzellen leiten den aufwärtssteigenden Saft zu den Blättern, wo er sich mit Sauerstoff verbindet, und die Rinde führt das fertige Blut abwärts.
Meine Kiefer ist ein lebendes Wesen, ein großes Tier, das ißt, verdaut, wächst und liebt!
Und sie lieben sich, die Blumen in Monogamie, in Polygamie, wie Androgynen!
Und meine Kiefer auch, sie liebt! Dann muß sie Nerven haben!
Wo? …
Mir ganz nahe, auf einem Haufen welker Blätter und an einer recht schattigen Stelle wächst eine Gruppe von Impatiens noli tangere. Aber ich rühre sie an, ich. Mit meinem Messer schneide ich die Stengel von zwei Exemplaren ab, den einen in dem angeschwollenen Gelenk, den andern mitten in einem Zwischenglied. Nach fünf Minuten ist der eine, der im Gelenk verletzt ist, verwelkt; der andre lebt noch.
Bedeutet dies, daß ein Ganglion, ein Nervenzentrum im Gelenk ist, wo die Blätter und Knospen erzeugt werden? – Ja! – Und anderswo? – In gleicher Weise! – Im Samen, einer Art Puppe, wo die Lebenskraft aufgespeichert wird? – Ja! – Und im Wurzelhals? – Ja! – Und die Nerven? – Die finden sich überall! Besonders in den Röhren, die Eiweiß enthalten und Bewegungen machen, wenn die Blätter der Mimosen sich zusammenziehn, um zu schlafen.
Aber genug nun auch davon!
Sie nimmt wahr, meine große Kiefer. Also leidet sie; und die Dryade, die unter der Axt des Holzhauers schluchzt, wird sich vielleicht eines Tages vor den mit verfeinertem Wahrnehmungsvermögen ausgerüsteten Geistern entschleiern, um sie um Gnade zu bitten und ihren Schutz gegen die grausame Behandlung, die Hiebe und Wunden anzurufen, die man mit Überlegung dem Baume zufügt.
Die Sonne geht auf. Ich stehe auch auf und gehe gen Osten der Sonne entgegen, nach der Richtung, wo der Wald lichter wird. Bereits bemerke ich durch die dicht sitzenden Blätter der jungen Buchen eine unermeßliche Klarheit; am Waldrand angelangt, sehe ich nichts weiter als eine unermeßliche graublauende Weite, und ich bleibe stehn vor einem großen Nichts!
Ist das das Meer, das Ende der Welt, das Chaos? Eine Ebene ohne Ende, ohne Form oder Farbe, mit einem ganzen Bogengewölbe darüber.
Das Gewölbe, das ist der Himmel! … aber die Fläche darunter? Vielleicht eine Ebene? Hunderttausend Rauchsäulen erheben sich … Eine Einöde, wo sonnenverehrende Pilgrime ihre Feuer anzünden, um den Sonnenaufgang zu begrüßen? …
Es ist keine Stadt, denn es sind keine Häuser da … Doch sie sind da, aber es sind lauter Monumente, Tempel, Kirchen, Türme, Triumphbögen! Das ist ja ein Heliopolis für Götter, Helden, Kaiser, Propheten, Heilige und Märtyrer! Und gerade so ist es wohl, wie ich mir die Stadt geträumt habe, die Großstadt, die größte der Welt, in einen weißen und keuschen Nebel gehüllt, der die schmutzigen Häuschen der Käufer und Verkäufer verbirgt; Paris!! …
Es ist wirklich Paris … das ich hier grüße!
1895.