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Schlußbetrachtung

Wer die Mühe nicht gescheut hat, die bunte Mannigfaltigkeit indischen Philosophierens durch die zehn Kapitel unserer allzu kurzen Darstellung zu verfolgen, dem wird es nicht entgangen sein, daß in all dem Verschiedenartigen und Divergenten doch gewisse Grundzüge immer wiederkehren, eine Reihe von Problemen immer wieder zur Diskussion gestellt wird. Diese inneren Zusammenhänge noch einmal kurz zu charakterisieren, das Verhältnis der einzelnen Systeme zu gewissen Hauptgedanken anzudeuten und so im engsten Rahmen doxographisch von der indischen Philosophie zu sprechen, soll die Aufgabe dieser Schlußbetrachtung sein.

Die weltanschaulichen Grundlagen aller indischen Philosophie, die in der Frühzeit indischen Denkens gelegt worden sind, können durch vier Schlagwörter bezeichnet werden: Karman oder die Wirkung der Werke über den Tod hinaus, Saṃsāra oder der ewige Kreislauf der durch Karman verursachten Wiedergeburten, Duikha oder der leidvolle Charakter des in den Wiedergeburten sich wiederholenden Lebens, Mokṣa oder die Erlösung von dem Leiden der Wiedergeburten durch Aufhebung des Karman.

Der Hymnenzeit sind diese Gedanken noch sämtlich fremd. In den Brāhmaṇatexten wird die Idee des Karman als rituelle Konzeption geschaffen, die Idee des Saṃsāra durch den Gedanken des Wiedertodes im Jenseits vorbereitet. In den ältesten Upaniṣaden erreicht die Karman-Idee die moralische Sphäre, aus dem Opferwerk erweitert sie sich zu der gesamten Lebensführung. Indem die Wiedergeburtslehre entwickelt wird, erhält das Karman-Gesetz seine ethische Fundierung durch die Bedeutung für die Gestaltung des eigenen künftigen Lebenslaufs. Gleichzeitig wird ein überirdisches Ziel von absolutem Wert im Brahman gefunden, dem gegenüber alles Irdische nur relativen Wert hat. Während aber der Blick der ältesten Upaniṣaden noch ganz von dem neuentdeckten Ziele gefesselt ist, legen Sāṃkhya und Buddhismus den Akzent auf den leidvollen Charakter des Irdischen. Damit ist die pessimistische Einstellung ( nirveda) festgelegt, die als letzte Grundlage dauernd festgehalten worden ist. In dem Maße aber, wie der Wert der Welt sinkt, fällt auch die Schätzung des guten Werkes. Werke erzeugen Wiedergeburt. Wer die Wiedergeburt unter dem Leidensaspekt ansieht, muß nach Erlösung vom Saṃsāra streben, also alles Werk überwinden.

Hier liegt die dauernde Antinomie der indischen Ethik. Die strenge Philosophie kennt nur ein absolutes Ziel, die durch Werke nicht erreichbare Erlösung, -- das praktische Leben aber verlangt Handeln, die Gesellschaft verlangt Pflichterfüllung vom einzelnen um ihres Bestandes willen. Zwei Lösungen sind hier versucht worden. Die eine ordnet das praktische und das asketische Ideal hintereinander als getrennte Stadien: erst Erfüllung der sozialen und rituellen Pflicht als Hausvater, dann Abwendung vom Praktischen, Hingabe an die Meditation und Ueberwindung der Werke fern vom Dorfe im Walde. Die andere verlangt Pflichterfüllung um der Pflicht willen ohne Lohnabsicht; solche Werkbetätigung trägt die Werküberwindung in sich. Ueberall, wo die religiöse Philosophie auf weitere Kreise Einfluß gewann, hat man solche Kompromisse in irgendeiner Schattierung versucht; überall, wo man sich nur an Erlesene wandte, hat das Werk als Erlösungshindernis gegolten.

Erlösung bedeutet nun immer Befreiung von Wiedergeburt, also zunächst eine Negation. Der positive Aspekt des Mokṣa hängt ab von der Stellung der betreffenden Lehre zu den drei großen Problemen: Seele, Gott, Materie. Diese drei Probleme aber sind verwoben mit einem weiteren, welches, für eine Reihe von Systemen von zentraler Bedeutung, für unsere Betrachtung den wichtigsten Maßstab zur Vergleichung der großen indischen Geistesrichtungen darbietet. Dieses Problem läßt sich doppelt formulieren: von einer Seite gesehen kann man es als das Problem von Einheit und Vielheit bezeichnen, von einer andern als das Problem von Sein und Werden.

Das Suchen nach Einheit oder, anders ausgedrückt, das Streben, die Vielheit zu überwinden, zeigt sich schon in den philosophischen Hymnen des Ṛgveda. Die Vielheit, über die hinaus man dort zur Einheit zu kommen suchte, ist die Vielheit der Götter, hinter oder über welcher der eine Gott, das eine Prinzip gesucht wird. Die Lösung des Problems besteht dann darin, daß der Eine oder das Eine Götter wie Welt schafft. In der Brāhmaṇaperiode spaltet sich dem fortgeschritteneren Denken das Problem. Man sucht die Einheit in der Mannigfaltigkeit des menschlichen Mikrokosmos und findet sie nach langem Tasten im Ātman, d. h. im »Selbst« des Menschen; man sucht sie, der alten Götter müde, im Makrokosmos und findet sie im Brahman. Die beiden Einheiten werden in den Upaniṣaden vereinigt: das Brahman ist der Welt-Ātman, und jeder Ātman ist ihm wesensgleich. Die Einheit Brahman-Ātman besteht als das Höchste, die Vielheit der Welt ist ihr untergeordnet. Man erinnere sich des Ausdrucks der Texte: die Welt ist Wahrheit oder Realität ( satyam), das Brahman ist die Wahrheit der Wahrheit, die Realität der Realität ( satyasya satyam). Man sieht dieser Lösung noch den Zusammenhang mit den alten Schöpfungsgedanken an, Brahman und Welt verhalten sich wie zwei aufeinanderfolgende Stufen der Wahrheit, aber wahr sind sie beide. Der Blick der großen Seher der Upaniṣaden ist dabei ganz wesentlich auf die obere Stufe gerichtet, die Einheit des Brahman ist das Erlösungsziel und darauf kommt alles an, denn das Brahman ist unvergängliches Sein, die Welt aber Unbeständigkeit, Werden. Im Vergleich mit jenem ist dieses leidvoll.

Auf diesem fruchtbaren Boden, voll gärender Fragen, verschwimmender Unklarheiten und metaphysischer Leidenschaftlichkeit, erwachsen die drei großen metaphysischen Richtungen des indischen Denkens: Sāṃkhya, älterer und späterer Buddhismus, Vedānta.

Im Sāṃkhya erkennt der sich schärfende Blick die Verschiedenheit von Geist und Materie in voller Klarheit: Prakṛti ist Aktivität, Puruṣa ist Stille. Aktivität ist Wandel, Wandel ist leidvoll. Stille ist das unbewegte und leidlose Sein. Die Einheit der Upaniṣaden mit ihrer für sie nebensächlichen Abstufung ist im Sāṃkhya zum strengen Dualismus geworden, so streng freilich, daß die lebendig gegebene, so folgenreiche Verbindung von Geist und Materie zu wesenlosem Irrtum verflüchtigt ist.

Im älteren Buddhismus hat Werden und Leiden alles Wißbare erfaßt, das Sein ist ins Unnennbare als das »Nichtgewordene« zurückgedrängt. Das Brahman der Upaniṣaden wird zum Nirvāṇa, -- die Welt, Geistiges und Materielles unterschiedslos, ist nichts als Entstehen und Vergehen, Zusammenkommen und Sichtrennen nach dem unerbittlichen Kausalgesetz. Diese Gedanken über die Welt sind im späteren Buddhismus weiter ausgestaltet durch die Momentanheit, durch die Vereinzelung ( pṛthaktva) aller Gegebenheiten. Aber im Mahāyāna rückt das Nichtgewordene wieder in gedanklich greifbare Nähe. Die altbrahmanische Idee der Einheit im Geistigen drängt sich von neuem durch. Das ālayavijñāna die Vorratskammer aller Ideen -- und nur Ideen sind ja Realitäten -- wird zum Einheitspunkt, und noch tiefer die Soheit ( tathatā), die Essenz ( quidditas) von allem. Vielheit ist Schein, praktische Wahrheit, nur die letzte Einheit des Alls ist real, höchste Wahrheit. Der Buddhismus ist zurückgekehrt zum Mutterboden der Upaniṣadeneinheit.

Der Vedānta zieht die Konsequenz. Brahman als Geist, Sein und Wonne ist die einzige Realität. Alles ist Brahman. Die Verschiedenheit, die Vielheit ist Schein, wenn auch praktisch wahr. Die doppelte Wahrheit ist die letzte Lösung des Weltproblems von Einheit und Vielheit, von Sein und Werden. Dem Schauenden enthüllt sich das Geheimnis: die praktisch geltende Vielheit ist in Wahrheit Einheit, das lebendig bezeugte Werden in Wahrheit das absolute Sein.

Abseits von all dem stehen Nyāya-Vaiśeṣika und Mīmāṃsā, denen unser Problem kein Problem ist. Hier begnügt man sich, die Vielheit in Kategorien zu ordnen, eine Reihe selbständiger Substanzen aufzustellen usw.

Wir greifen nun zurück auf die oben erwähnte Problemdreiheit: Seele, Gott, Materie. Die Seele angehend sind zunächst jene Lehren abzusondern, welche den Seelenbegriff ablehnen. Die Materialisten leugnen eine Seele entweder vollkommen, indem sie die seelischen Funktionen dem Körper zuweisen, oder sie räumen das Vorhandensein einer Seele ein, bestreiten aber ihre Fortdauer über den Leib hinaus. Für die Buddhisten zerlegt sich das Seelische in eine Reihe von Fähigkeiten, welche, beständig wechselnd, eines besonderen Substrates entbehren. Alle orthodoxen Systeme aber, die eine Seele lehren, stimmen überein in ihrer Ewigkeit, worunter Anfang- und Endlosigkeit zu verstehen ist, sowie in der Unveränderlichkeit ihrer absoluten Natur, welche aber durch die werkerzeugte Verbindung mit immer neuen Körpern dauernd verdunkelt ist. Letzter Grund dieser Bindung ist ein sehr verschieden ausgelegter, aber mit einem Schlagwort allgemein bezeichneter Faktor: das Nichtwissen ( avidyā). So ist das Mittel zur Befreiung das Wissen ( vidyā), die Realisierung des wahren Sachverhalts, welche bald mehr im Durchschauen des Charakters alles Empirischen, bald mehr in der Erkenntnis der eigentlichen Natur der Seele besteht. Der Erkenntnis als Hilfsmittel zugeordnet oder selbständig wirkt Befreiung der Yoga, in welchem nicht nur die Lösung vom Materiellen, sondern auch vom Intellektuellen durch eine aufs feinste ausgearbeitete, körperliche und seelische Technik erreicht wird. Diese Zielsetzung des von allen Systemen anerkannten und vielfach genutzten Yoga wird dem Mißverständnis vorbeugen, daß der »Erkenntnispfad« ( jñānamārga) ein im gewöhnlichen Sinne des Wortes intellektueller sei.

Das Verhältnis von Geist und Seele wird verschieden aufgefaßt: Im Sāṃkhya ist die Seele Geist im absoluten Sinne, das Denken, Wollen usw. ist mechanisch, der Puruṣa ist nur Licht. Im Vedānta ist die Einzelseele identisch mit der Allseele und teilt mit ihr ihr Wesen, das in Sein, Geist und Wonne besteht. Im Nyāya-Vaiśeṣika ist die Seele das Substrat nicht nur für Erkenntnis, sondern auch für Lust, Leid usw., das Geistige ist hier also nur eine Qualität der Seele neben andern Eigenschaften. Solche Divergenz der Anschauungen über das Verhältnis von Seele und Geist macht es verständlich, daß auch die Frage, ob die Seele handle oder nicht handle, verschiedene Antworten erhält. Die Lehre vom Handeln bzw. Nichthandeln der Seele ( kriyā- bzw. akriyāvāda) ist bei der Bedeutung, die das Handeln im Karman-Gesetz erhält, von leicht begreiflicher Wichtigkeit. Nyāya-Vaiśeṣika und Jinismus haben das Tätersein der Seele gelehrt; Sāṃkhya im Gegensatz dazu absolutes Nichttätersein der Seele, die nur durch einen verhängnisvollen Irrtum selbst zu handeln wähnt; Śaṃkaras Vedānta gemäß seiner doppelten Wahrheit Handeln der Seele vom praktischen, Untätigkeit vom höchsten Standpunkt.

Mit dem Begriff der Seele ist der Begriff Gottes eng verknüpft. Gemeint ist hier natürlich der Begriff des absoluten Gottes ( īśvara), wie er seit der Brahman-Konzeption der Upaniṣaden den alten mythischen Göttern ( deva) gegenübertritt. Die mannigfachsten Götterbildungen haben selbstverständlich in Indien nie aufgehört und sind von den philosophischen Systemen, soweit sie praktische Religion treiben, auch immer in irgendeiner Form anerkannt und eingeschlossen oder angegliedert worden. Von diesen religionsgeschichtlich bedeutsamen Tatsachen -- ein weites und sehr ergiebiges Forschungsgebiet -- soll hier nicht die Rede sein. Was aber den Begriff eines absoluten Gottes betrifft, so dürfen wir einen die Welt aus dem Nichts schaffenden und den Seelen gemäß ihrer Führung Lohn oder Strafe austeilenden Gott nicht in Systemen erwarten, für welche Materie wie Seelen ewig und das Schicksal der letzteren durch das automatisch wirkende Karman-Gesetz bestimmt ist. In diesem Sinne haben Buddhismus und Jinismus, Sāṃkhya und Mīmāṃsā den Gottesbegriff konsequent abgelehnt. Aber nicht überall hat systematische Konsequenz dem lebendigen Bedürfnis nach einem persönlichen Verhältnis zum Höchsten standgehalten. Im Sāṃkhya steht neben der strengen Form die populäre, welche über Prakṛti und Puruṣa den Īśvara stellt, steht der Yoga, der den Gottesbegriff praktisch brauchte. Auch Nyāya und Vaiśeṣika, welche in ihrer Frühzeit Gott nicht lehren, haben sich im Laufe ihrer Entwicklung dem Bedürfnis nach einem absoluten Gott nicht verschlossen und den Gottesbegriff, so gut es eben gehen wollte, dem System eingefügt. Der Vedānta Śaṃkaras kann zwar den persönlichen Gott nicht im Bereiche der höchsten Wahrheit anerkennen, aber auf der praktischen Ebene spielt Īśvara seine Rolle, während in den verschiedenen theistischen Formen des Vedānta die Gottesidee mehr oder minder geschickt mit der Idee vom Brahman und den anderen Lehren der Upaniṣaden verschmolzen wird.

Neben Seele und Gott stellen wir die Materie, deren Problem einen doppelten Aspekt zeigt. Einmal wird nach dem Ursprung der Dinge, nach den letzten Bestandteilen, aus denen sich die materielle Welt aufbaut, gefragt, später dann auch, wieweit diese Dinge tatsächliche Wirklichkeit sind. So ist also das Materieproblem einerseits kosmogonisch, andererseits erkenntnistheoretisch-metaphysisch. Hierbei ist bemerkenswert, daß die kosmogonische Seite der Frage auch dort nicht vernachlässigt wird, wo die erkenntnistheoretische Frage eine negative Antwort findet; fast alle Systeme, welche die Realität der Außenwelt bestreiten, gehen doch auf ihre Zusammensetzung ein. Die kosmogonische Frage nun -- wir sehen von der Beantwortung durch naive Schöpfungsvorstellungen in der Frühzeit und in populären Kreisen der späteren Zeit ab -- wird in zwei verschiedenen Richtungen beantwortet: Entweder wird die materielle Welt auf die Mischung von Elementen zurückgeführt, die durch eine Reihe immer feiner werdender Evolutionsglieder auf eine letzte ewige einheitliche Potenz ( prakṛti) zurückgehen. Diese letzte Potenz darf man Urmaterie nennen, wenn man das Wesen der Materie nur im Gegensatz zum Geist sieht, also nicht etwa an einen irgendwie wahrnehmbaren Stoff denkt, sondern an etwas, das dem allerneuesten Materiebegriff der modernen Naturwissenschaft nicht unähnlich sein dürfte. Die andere Richtung baut die materielle Welt aus unzähligen, kleinsten, nicht mehr teilbaren, ewigen Einheiten auf, die wir mit gutem Recht Atome nennen. Diese letzten ewigen Grundlagen, die Urmaterie oder die Atome, dienen als Rezeptakulum alles Materiellen, wenn die Welt in regelmäßigen Abständen sich auflöst, um dann wieder neu zu entstehen, wie alle Systeme, offenbar in Analogie zu dem ewigen Geburtenkreislauf aller beseelten Wesen, lehren. Daß in der Verschiedenheit der letzten Grundlagen -- hier die Einheit der Prakṛti, dort die Vielheit der Atome -- das oben behandelte Problem der Einheit und Vielheit wiederkehrt, ist deutlich. Zur Atomlehre bekennen sich der Jinismus (dieser am frühesten), Nyāya und Vaiśeṣika sowie die Systeme des späteren Buddhismus, zur Prakṛti-Lehre Sāṃkhya und Yoga sowie der Vedānta Rāmānujas u. a. m., während Sāṃkaras Vedānta sich im Bereich der praktischen Wahrheit der primitiven Schöpfungsideen der ältesten Upaniṣaden bedient.

Damit sind wir bei der erkenntnistheoretischen Seite des Materieproblems angelangt. In der Frühzeit wird dieses Problem noch nicht gesehen, bereitet sich aber in den ältesten Upaniṣaden dadurch vor, daß man die Welt minderwertig im Verhältnis zum Brahman findet und ihr demgemäß eine geringere Wahrheit als dem Brahman zuspricht. Aehnlich stellt sich der älteste Buddhismus. Die in ihm enthaltenen Anlagen werden dann in der Mahāyāna-Philosophie dahin ausgebaut, daß die Mādhyamika-Schule die Realität von allem leugnet, der Vijñānavāda diese Leugnung auf die materielle Außenwelt beschränkt, die Realität des Geistigen aber behauptet. Diesem Vorgehen folgt der monistisch-illusionistische Vedānta mit seiner Ausdeutung der Upaniṣadlehre durch die Theorie der doppelten Wahrheit. Real dagegen ist die Außenwelt für Nyāya, Vaiśeṣika, Mimāṃsā, Sāṃkhya-Yoga und die theistischen Schulen des Vedānta.

In der Stellungnahme zum Außenweltproblem hat die Erkenntnistheorie ihr metaphysisches Problem gelöst; ihr praktisches Problem gipfelt in der Frage nach dem Wesen der richtigen Erkenntnis ( pramā). Die Quellen dieser Erkenntnis oder die Mittel für sie ( pramāṇa) werden in den verschiedenen Schulen in verschiedener Zahl angenommen. Die Materialisten erkennen nur die sinnliche Wahrnehmung ( pratyakṣa) an, die alten Vaiśeṣikas fügen die Schlußfolgerung ( anumāna) hinzu und ebenso denken die Buddhisten und Jinisten. Sāṃkhya und Yoga lehren Wahrnehmung, Schlußfolgerung und sprachliche Mitteilung ( āptavacana), wozu im Nyāya noch der Analogieschluß ( upamāna) als besonderes Erkenntnismittel hinzutritt. Weiter geht die Mīmāṃsā, deren eines Haupt Prabhākara ein fünftes Pramāṇa, die selbstverständliche Annahme ( arthāpatti), lehrt, während Kumārila und mit ihm gewisse Vedāntisten das Nichtbemerken ( anupalabdhi) als sechstes gebrauchen. Diese Reihe, die damit zwar noch nicht abgeschlossen ist, soll für unsere Zwecke nicht weiter verfolgt werden. Wir greifen die drei wichtigsten Pramāṇas heraus, um über sie einige zusammenfassende Bemerkungen allgemeinen Charakters zu machen.

Die Wahrnehmung geht nach allgemeiner Auffassung so vor sich, daß die Sinnesvermögen, die ihren Sitz in den Sinnesorganen haben, zu dem Gegenstand hingehen, nur der Laut geht zum Gehör im Ohr. In den realistischen Systemen wird auf diese Weise durch das Denken ein Bild des Gegenstandes hervorgebracht, das dem draußen befindlichen Objekt entspricht. Wird die Realität der Außenwelt nicht anerkannt, so muß naturgemäß alles Wesentliche vom Denken selbständig geschaffen werden, wenn auch in einem besonderen Falle (Dharmakīrti) ein nicht weiter erklärbares Realitätsmoment der sinnlichen Auffassung zugrundeliegt. Dieses Realitätsmoment ist im Vedānta das Brahman, dessen unmittelbare Schau als Wahrnehmung verstanden wird. Die unbeschränkte Wahrnehmung der Yogins wird allgemein anerkannt. Ein besonderes Problem bei der Wahrnehmung ist die verschieden beantwortete Frage, ob ihre Richtigkeit ohne weiteres bis zur Feststellung des Gegenteils anzunehmen sei oder ob sie in jedem Falle durch die Erfüllung gewisser Bedingungen garantiert werden müsse. Dieses Problem bezieht sich entsprechend auch auf den Irrtum, dessen Wesen die meisten Schulen besonders beschäftigt hat.

Die Schlußfolgerung ( anumāna) ist vornehmlich von Nyāya-Vaiśeṣika und der Mahāyāna-Philosophie bearbeitet worden. Als Essenz des Schließens gilt allgemein die Umfassung des Grundes durch die Folge und die Zuteilung des so umfaßten Grundes an das Schlußsubjekt. Die Richtigkeit des Schlusses hängt davon ab, daß der Grund gewisse Bedingungen erfüllt, andernfalls ist er ein Scheingrund. Alle falschen Schlüsse werden auf einen Fehler des Grundes zurückgeführt. Bedingte Schlüsse gelten als falsch.

Die sprachliche Mitteilung spielt eine große Rolle und hat den Anlaß zu weitgehenden sprachphilosophischen Erörterungen gegeben. Von besonderer Bedeutung ist dieses Erkenntnismittel auch dadurch, daß hier die Natur der ewigen Vedaworte in Betracht kommt, mit deren Autorität jedes System zu rechnen hat, um als rechtgläubig zu gelten. Die Richtigkeit der durch Worte gewonnenen Erkenntnis hängt von der Zuverlässigkeit des Sprechers ab, ist also beim Veda über allen Zweifel erhaben, sei es, daß er als absolut ewig oder als von Gott in jeder Weltperiode in identischer Form den Sehern bereitgestellt gilt.

Dies etwa sind die Fragen, die das indische Denken in erster Linie beschäftigt haben, die Hauptprobleme der indischen Philosophie. Von ihnen historisch und sachlich eine Vorstellung zu geben, soweit das innerhalb der vorgeschriebenen Grenzen dieses Buches möglich war, ist das Bemühen des Verfassers gewesen. Auf Wertungen wurde dabei durchgehends verzichtet. Es sei zum Schlusse gestattet, einige wenige Worte in dieser Richtung hinzuzufügen.

Daß die Gedankengänge des indischen Geistes im Laufe seiner langen Aktivität von hohem geschichtlichem Interesse sind, wird kein historisch Empfindender abzustreiten gewillt sein. Wie aber steht es mit der Bedeutung für die Gegenwart? Indien ist dabei, sich mit Europa auseinanderzusetzen. Weite Kreise nehmen willig auf, ahmen nach, kopieren; andere klammern sich ans Alte. Wird eine einfache Uebernahme oder eine neue Synthese das Resultat sein? Wir verzichten auf den Versuch, eine solche Frage zu beantworten. Aber vielleicht ist das, was die Kunstgeschichte uns lehrt, nicht ohne Vorbedeutung. In der Berliner Gandhāra-Sammlung der sog. graeco-buddhistischen Skulpturen kann man eine Anschauung davon gewinnen, wie die Inder einst mit hellenistischem Kunstimport verfahren sind. So ist das Wissen um das, was frühere Jahrhunderte in Indien getan und gedacht haben, die Basis für die Vorschau künftiger Entwicklung. Was von dem Alten heute noch lebendig oder zeugungskräftig ist, in welcher Form und in welcher Richtung, wäre die Aufgabe einer besonderen Untersuchung. Und wieder eine andere Aufgabe wäre die Frage, was Indien etwa für das heutige Europa zu leisten imstande sei.

Unter diesen drei Aspekten wird man die Beschäftigung mit indischer Philosophie anzusehen haben. Nur der erste konnte im Rahmen dieses Buches in Betracht gezogen werden; ihn als selbstgenug zu nehmen oder nur als Vorbereitung für die beiden andern, ist persönliche Angelegenheit des Lesers.


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