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Zu den Begriffen, deren Umfang und Inhalt nach Zeiten und Persönlichkeiten sehr verschieden aufgefaßt worden sind, gehört der Begriff der Philosophie. Die Geschichte der europäischen Philosophie von Thales bis auf den heutigen Tag ist in gewissem Sinne die Geschichte der Auffassungen von dem, was Philosophie sei, welche Aufgaben sie habe und welche Mittel zu deren Lösung. In diesem Sinne wird man beim Titel dieses Buches »Indische Philosophie« zu fragen berechtigt sein: Was ist indische Philosophie, d. h. was ist Philosophie im indischen Sinne? Diese Frage sachlich auf Grund der Dokumente der indischen Geistesgeschichte zu beantworten ist die Aufgabe der ganzen vorliegenden Arbeit. Vorher aber scheint es angebracht, eine allgemeine Vorstellung von dem Gesamtbegriff jener Tatsachen zu geben, damit der Leser sogleich wisse, was er hier unter dem vieldeutigen Wort »Philosophie« zu verstehen habe.
Zu diesem Ende wird die Frage, was Philosophie im indischen Sinne sei, eine doppelte Antwort fordern. Wir werden zunächst zu zeigen haben, ob und wie der allgemeine Begriff der Philosophie bei den indischen Denkern selbst vorhanden gewesen ist. Sache einer weiteren Feststellung wird es dann sein müssen, das Gebiet zu umgrenzen und zu charakterisieren, auf welches der Name »Indische Philosophie« angewendet wird.
Zur Aufklärung über den ersten Punkt besitzen wir eine wichtige Stelle in einem alten Lehrbuch der Staatskunst ( arthaśāstra), welches die indische Tradition einem berühmten Staatsmann, dem Minister des den größten Teil Indiens beherrschenden Kaisers Candragupta, namens Kauṭilya (um 300 v. Chr.) zuschreibt [R1].
Hier werden nun vier Arten des Wissens ( vidyā) unterschieden: die forschende oder nachprüfende ( ānvīkṣikī), die auf den geoffenbarten Veda gegründete ( trayī), die Erwerbskunde ( vārtā) und die Staatskunst ( daṇḍanīti). Die erste dieser Wissenschaften, die Forschung, charakterisiert unser Staatsmann folgendermaßen: »Indem die Forschung auf dem Gebiet der vedischen Offenbarung Verdienst und Schuld in religiöser Hinsicht mit Gründen untersucht, auf dem Gebiet der Erwerbskunde Gewinn und Verlust, in der Politik richtige und falsche Maßnahmen, sowie das relative Gewicht dieser drei Wissenschaften, nützt sie der Menschheit, festigt die Vernunft in Glück und Unglück und verleiht Scharfsinn, Redegewandtheit und Geschäftstüchtigkeit. Immer gilt die Forschung als eine Leuchte für alle Wissenschaften, als ein Hilfsmittel für alle Geschäfte und als eine Stütze bei allen Pflichten« [R2]. Daß diese Schilderung der nachprüfenden Forschung die Uebersetzung »Philosophie« für ānvīkṣikī nahelegt, wird kaum bestritten werden können, besonders da unter dem Begriff drei uns bekannte philosophische Richtungen [R3] subsumiert werden. Handelt es sich aber in diesen Philosophien um Weltanschauungen, so läßt doch die zitierte Schilderung das folgerichtige Denken als ihre wesentliche Funktion hervortreten. Kein Wunder daher, daß ein früher Lehrer der Dialektik und Logik um 400 n. Chr., der Nyāya-Autor Vātsyāyana [R4] (vgl. Kap. 7) diese Wissenschaft unter demselben Namen für seine Schule in Anspruch genommen hat. Und so ist der Terminus »nachprüfende Forschung« ( ānvīkṣikī) im Mittelalter zu einem Namen der Nyāyalehre geworden und hat in der Blütezeit der mittelalterlichen Philosophenschulen nicht zur Bezeichnung des zusammenfassenden Begriffs Philosophie dienen können. Ersatz dafür hat man nicht gesucht, man hat vielmehr darauf verzichtet, die einzelnen Systeme ( darśana) unter einem Begriff zusammenzufassen [R4a]. Das zeigt sich in den Titeln der Werke, die wir als Darstellungen der indischen Philosophie bezeichnen würden: so haben wir aus dem 9. Jahrhundert ein Werk des Haribhadra unter dem Namen »Zusammenstellung von sechs Systemen« ( ṣaḍ-ḍarśana-samuccaya), aus derselben Zeit oder später ein von der Tradition dem großen Śaṃkara (vgl. Kap. 10) zugeschriebenes Werk »Zusammenfassung aller Lehrmeinungen« (sarva-siddhānta-saṃgraha) [R5], aus dem 14. Jahrhundert das Werk des Mādhava »Zusammenfassung aller Systeme« (sarva-darśana-saṃgraha) [R6], in welchem die Systeme nach ihrem Wert in den Augen des Verfassers so hintereinander geordnet sind, daß das folgende bessere immer das vorangehende schlechtere widerlegt, anfangend mit dem Materialismus (vgl. Kap. 5) als schlechtestem und endend mit Vedānta (vgl. Kap. 10) als bestem.
Damit ergibt sich uns das Resultat, daß zur Blütezeit der philosophischen Systeme keine sie alle umfassende Bezeichnung bei den indischen Denkern im Gebrauch war. Was aber haben wir nun unter dem abendländischen Begriff »Philosophie« in seiner Anwendung auf Indien zu verstehen?
In den Anfängen bewegt sich das, was wir Philosophie nennen möchten, noch ganz in der Sphäre der frühzeitlichen Religion. Wir sehen die ersten Denker innerhalb der von der mythenbildenden Phantasie geschaffenen Götterwelt nach Einheit suchen und in engster Verbindung damit nach der Entstehung der Welt fragen. Es ist das Bedürfnis, dem Weltbild eine denkbefriedigendere Ordnung zu geben, aber den Hauptzweck dieses Suchens muß man doch wohl in dem Streben nach Erkenntnis des wahren und daher mächtigsten Gottes sehen, denn wer den kennt, hat Zugang zum größten Helfer und Spender.
Ein zweiter Vorstoß des Denkens erfolgt innerhalb der rituell-magischen Sphäre der Religion: man sucht nach phantastisch-gesetzlichen Zusammenhängen zwischen dem Geschehen auf dem Opferplatze und dem dort wirkenden Priester einerseits und dem kosmischen Geschehen andererseits, denn die Kenntnis solcher Beziehungen verleiht die Fähigkeit, sich hier und im Jenseits ein gutes Los zu sichern.
Aus solchen Spekulationen entwickelt sich dann die große Antithese des Relativen und Absoluten und die Sehnsucht nach letzterem. Damit ist das richtunggebende Motiv des indischen Denkens für alle Zeiten gefunden; seine beiden Aspekte heißen: Werden zum Absoluten und Erlösung vom Relativen. Mag das Absolute als die allem einwohnende Einheit, als der reine Geist gegenüber dem Materiellen oder als die allem Denken entrückte Sphäre der Negation des Werdens gedacht werden, -- immer ist von diesem Ziele her alle Forschung über Mensch, Welt und Gott orientiert. In gewissen Systemen freilich ist diese Orientierung mehr äußerlich, man sieht ihnen an, daß ihnen das Verständnis der gegebenen Dinge durch die Einordnung unter Kategorien oder der Gebrauch bzw. die Untersuchung der logischen Funktionen in Wahrheit wesentlich ist, aber trotz alledem haben auch sie sich dem allgemeinen Zuge nach dem Heil nicht versagt.
So will Philosophie im indischen Sinne bei aller ihrer Vielseitigkeit und Eindringlichkeit gegenüber den der Forschung aufgegebenen Problemen, von denen die folgenden Seiten eine kurze Darstellung zu geben versuchen, niemals nur eine Befriedigung des Forschungstriebes sein, sondern immer auch und meist vor allem eine Bereitung des Weges zum Heil.
Zum Schluß noch einige Worte über die folgende Darstellung selbst. Sie ist gedacht für allgemein philosophisch Interessierte, die ihren Horizont über das Abendland hinaus auszudehnen wünschen. Diese soll sie in aller Kürze in Wesen und Entwicklung der Hauptprobleme indischer Philosophie einführen. Daher ist überall auf Uebersetzungen Bezug genommen, jedoch beruhen alle Angaben mit wenigen in den Anmerkungen gekennzeichneten Ausnahmen auf den Originaltexten. Der vorgeschriebene beschränkte Raum zwang zur Auswahl des Wichtigsten. Für den Weiterstrebenden gibt der bibliographische Wegweiser geeignete Uebersetzungen und Darstellungen, während die Anmerkungen die speziellere Literatur bringen. Insbesondere macht die in den Kapitelanfängen gegebene Skizze der indischen Quellen keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da der zur Verfügung stehende Raum für die Gedanken benötigt wurde und Winternitz' Indische Literaturgeschichte oder Farquhars Outlines (vgl. Bibl. Wegw.) alles Wünschbare bequem darbieten. Trotzdem ich nirgends Kenntnis indischer Sprachen voraussetze, hielt ich doch den dauernden Hinweis und den vielfachen Gebrauch indischer Ausdrücke für notwendig. Die so vielfach belasteten Termini der europäischen Philosophie sollten nach Möglichkeit bei der Darstellung indischer Probleme vermieden werden, da sie erfahrungsgemäß beim Leser unangebrachte Assoziationen hervorbringen. Das Verzeichnis der indischen Fachausdrücke wird das Buch auch für den angehenden Sanskritisten nützlich machen.
Die Darstellung versucht, soweit es der heutige Stand der Forschung gestattet, historisch zu sein. Das war für die Kapitelfolge des ersten Teils einigermaßen durchführbar. Im zweiten Teil aber handelt es sich um Schulen, die durch das ganze Mittelalter nebeneinander herlaufen, so daß die Aufeinanderfolge der Kapitel hier nicht mehr zeitlich zu verstehen ist.
Allen zitierten modernen Forschern bin ich in dieser oder jener Weise verpflichtet, Dank für persönliche Beratung schulde ich den Herren F. O. Schrader (Kiel), H. Jacobi (Bonn), Th. Stcherbatsky (Petersburg) und Mrs. C. A. F. Rhys Davids (London).