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An der Ecke des Kurfürstendamms, gegenüber den schreiend grellen Plakaten des »Kolokól«, erbettelte ein schäbig gekleideter, alter Herr mit weißbärtigem deutschen Gelehrtenkopf leise von den Vorübergehenden nur 'ne Kleinigkeit gegen den Hunger. Ein achtzehnjähriger Banklehrling flitzte, blasiert im Auto zurückgelehnt, über den Asphalt. Ein feldgrauer Zitterer schüttelte sich am Boden. Neben ihm begrüßten sich ein paar Russen mit Umarmung und Backenkuß. Mitten in diesem Mottentanz um das Flackerlicht der sterbenden Mark schlenderte der Student Vollbrecht geduldig und verbissen auf dem Bürgersteig hin und her und beobachtete, über den breiten, doppelten Fahrdamm weg, drüben den Ausgang des »Kolokól«. Die Türe war jetzt, am Spätnachmittag, geschlossen. Menschen aller Art trollten sich an dem Kabarett vorbei, in dem innen die Russen noch probten. Jetzt schlich da schlampig ein junger, bleicher Mensch – eine Pelzmütze auf dem hageren Krauskopf, deren schwarze Wolle an talergroßen Stellen von den Motten weißgenagt war . . .
Dem Studenten drüben auf der Bordschwelle kam diese Mütze bekannt vor. Nun tauchte sie wieder in dem Straßengewühl auf. Ihr Träger war umgekehrt und schlurfte wieder nachlässig und zerstreut, mit hängenden Schultern, vor dem »Kolokól« dahin. Bist du wieder da – du Schlemihl vom Königsplatz? Bernd Vollbrecht steuerte heißblütig quer über die Straße auf ihn zu. Schickt dich dein Hintermann Serge Ssilin wieder auf Lujas Spur? Na warte, oller Kronensohn! Wir reden jetzt einmal ein Wort deutsch miteinander . . .
Er hatte beim Überschreiten der Fahrdämme, mitten im Wettlauf der Autos, Straßenbahnwagen und Fahrräder, den Bürgersteig drüben aus dem Auge verloren. Als er jetzt dort landete und sich umsah, war Schmelke Machalles spurlos verschwunden . . . Der stud. Vollbrecht stand unschlüssig. Dann trat er seitwärts hinter eine Litfaßsäule, so daß er scheinbar an ihr die Theater- und Kinozettel studieren und zugleich unauffällig den ›Kolokól‹ beobachten konnte. Da öffnete sich dort der eine Torflügel. Die Orchestermitglieder – Russen und Russinnen – kamen heraus. Bernd erkannte sie alle: den schnurrbärtigen Leiter der Truppe. Die blasse, blonde Winogradowa. Neben ihr, kleiner als sie, ein dunkles Griechenköpfchen unter einer zerdrückten Reisemütze. Ein Händedruck Lujas und der Petersburger Senatorentochter. Dann trennte sich die kleine Deutsch-Russin von der blaublütigen Slawin. Sie schlüpfte allein, schnell wie eine Eidechse, durch das Gewühl. Der Student trat hastig hinter seiner Säule hervor. Er wollte Luja überraschend den Weg verlegen. Er glaubte, sie hätte ihn nicht gesehen. Aber da kam sie geradenwegs auf ihn zu. Ihr feines, kleines, weißes Gesicht war unwirsch und feindselig gespannt.
»Schöne Streiche machst du!« begann sie unvermittelt und drehte die eine schmale Schulter verächtlich nach dem ›Kolokól‹ zurück. »Man hat dich dort entlassen! Knall und Fall! Es ist das Tagesgespräch! Gehe nur nicht erst noch einmal hin: Man wird dir da nicht Salz und Brot anbieten!«
»Die ganze Lasterbude kann mir den Buckel lang rutschen!« sagte der Student und ging neben der Musikantin her. Er warf einen scheelen Blick rückwärts. Es war ihm, als hätte er dabei wieder, im Gewirr der Straße, zwanzig, dreißig Schritte hinter ihnen, die vermottete Pelzmütze gesehen . . .
»Und ich bin die Beschämte!« fuhr die Kleine erbittert und vorwurfsvoll in ihrer Strafpredigt fort . . . »Ich brachte dich durch meine Fürsprache auf diesen Posten! Ich war deine Wohltäterin! Deine Mutter! Wie stehe ich jetzt da . . .?«
»Warte nur ab . . .«
»Deine Ernährerin war ich! So dankst du mir! . . . Auf Befehl Ssilins wirst du weggejagt! Du darfst dich im ›Kolokól‹ nicht mehr zeigen.«
»Du erst recht nicht!«
»Bist du mein Vormund?« In Luja Büttners zartem, rundem Kindergesicht glühten die großen, grünlich-braunen Augen. Die weichen, vollen Lippen schürzten sich verächtlich zu ihm empor. »Ich bin von anderm Holz geschnitzt als du! Ich gehe in den ›Kolokól‹, weil ich überall dahin gehe, wo Ssilin ist – bis ich mein Ziel erreicht habe . . .«
»Gerade deswegen sollst du . . .«
»Du aber . . . mein Gott . . . schuf dich denn unser himmlischer Vater aus Milch und Watte? Bist du denn ein Mann?«
»Hör 'mal . . .«
»Läßt du dir denn von Ssilin alles bieten? Er wirft dich aus seinem Kontor die Treppe hinunter! Er setzt dich aus dem ›Kolokól‹ hinaus aufs Pflaster! Und du, statt darauf zu sinnen, ihn zu strafen – du verbeugst dich noch unterwürfig mit den Fingerspitzen bis zur Erde und dankst . . .«
»Halte doch 'mal eine Sekunde deinen Schnabel . . .«
». . . und nicht genug damit!« redete die kleine, schwarze Schönheit atemlos weiter. »Du willst, mit deinem matten Herzen, auch mich noch lähmen, mein Werk zu tun! Du siehst, daß ich am Werk bin! Auch du bist von Ssilin beleidigt und gekränkt! Gut! Statt, daß du nun sagst: Wir hassen beide diesen Teufel! Wir wollen gemeinsame Sache gegen ihn machen – das wäre doch das Natürliche . . .«
»Das ist es auch – zum Kuckuck!«
». . . statt dessen stellst du dich noch schützend wie sein Leibtscherkesse vor ihn . . .«
»Luja . . . Wenn du mich nur einmal zu Worte kommen ließest . . .«
»Befreie mich von deiner Gegenwart! Geh! . . . Geh zu Paul Gritsch! Ihr gehört zusammen! Ihr seid zwei Heilige, über die die Spatzen lachen!«
»Luja . . . Ich will dir ja helfen.«
»Du . . .?«
»Deswegen hab' ich dich ja jetzt hier erwartet . . .«
»Du willst . . .«
»Heute morgen, als du mir, hinter dem dicken Schupomann her, davonliefst, da ging alles so schnell! Es drehte sich mir alles noch im Kopf wie ein Mühlrad! Aber inzwischen habe ich es mir überlegt! Du hast ja ganz recht! Wir sind Verbündete, Luja . . .«
»Gegen Ssilin . . .«
». . . bis das Biest zur Strecke gebracht ist . . . Um Gottes willen . . . Was machst du denn da?«
»Ich küsse deine Hand, die mir helfen will!« sagte die Kleine und ließ Bernds Rechte, die sie unversehens und leidenschaftlich zu ihren Lippen emporgerissen, wieder sinken. Sie schritten jetzt in einer menschenleeren Nebenstraße. Durch ihren raschen Doppeltritt klang Bernds mühsam beherrschte, schwankende Stimme.
»Aber nun heißt es vorsichtig und klug sein, Luja! . . . Vor allem nichts überstürzen!«
»Soll ich dir einen Unterrock borgen?« frug die Kleine höhnend, in gereizter Ungeduld. »Bist du ein Weib?«
»Ich kann mir, wenn ich will, ein Dutzend Kriegs- und Tapferkeitsorden an die Brust stecken, Luja! Also lasse die dummen Redensarten! Gerade weil ich drei Jahre lang gewohnt war, mein Leben aufs Spiel zu setzen, weiß ich, daß man nicht unüberlegt alles aufs Spiel setzen darf . . .«
»Du mußt mir nicht böse sein . . . nicht wahr? . . . Du bist ja mein lieber, kleiner Bernd . . .«
»Dir ist schon dein erster Anschlag – gleich, wie du nach Berlin kamst – mißglückt . . .«
»Es sei Gott geklagt!«
»Auch ich beging die Unbesonnenheit, Ssilin in seinem Kontor, mitten zwischen seinen Leuten, ohne Waffe in der Hand, nur mit dem großen Mundwerk, anzugreifen, und mußte einen wenig rühmlichen strategischen Rückzug antreten!«
»Auch das ist wahr . . .«
»Also soll uns dies zur Lehre dienen!« Bernd Vollbrecht redete unsicher und eifrig im Gehen auf seine Gefährtin ein. »Jetzt, beim dritten Anhieb, muß die Geschichte klappen. Da muß jeder blödsinnige Zufall ausgeschaltet sein! Auch übers Knie brechen läßt sich so was natürlich nicht . . .«
»Man braucht nur Glück!« sprach die kleine Balalaikaspielerin zwischen den Zähnen. »Es kommt ein günstiger Augenblick. Man benutzt ihn. Man . . .«
»Im ›Kolokól‹, mitten zwischen all den Menschen, wird dieser Augenblick nie dasein . . .«
»Siehst du – nun fängst du schon wieder an, die Kerze auszublasen, die ich brennend aus der Kirche heimtragen will!« Luja Büttner hob zornig die geballten kleinen Fäuste vor die Brust. »So bist du! So ist Gritsch! So seid ihr alle! Mit Liebesschwüren könnt ihr einen bis ins Wasser jagen, vor Langweile! Aber wenn es an das Handeln geht . . .«
»Das Gesetz des Handelns darf man im Krieg nicht dem Feind überlassen, Luja! Das ist ein alter Witz! Du bist im Krieg! Du darfst nicht dahin gehen, wo Ssilin dich zu sehen wünscht – im ›Kolokól‹ – du mußt im Gegenteil Ssilin dazu bringen, dahin zu gehen, wo du ihn haben willst, weil da die Gelegenheit günstig ist . . .«
»Meinst du . . .?«
»Du darfst nicht jeden Abend artig auf dem Präsentierteller vor ihm sitzen, im Orchester – und warten, was er tut – so fängst du ihn nie – du mußt dich zurückhalten – unsichtbar machen . . .«
». . . wie sonderbar du beim Sprechen schluckst . . .« Ein kurzer, mißtrauischer Seitenblick der dunklen Augen von unten herauf. »Was nimmt dir denn den Atem?«
»Kurz, der Kerl muß eine derart irrsinnige Sehnsucht nach dir kriegen – verstehst du? – daß er blind und toll wird . . . dann läßt er sich 'mal in einen Winkel locken, wo man ihn todsicher umlegen kann? . . . Luja . . . blinzele mich nicht so zweifelnd an . . . Ich will dir doch helfen . . .«
»Wirklich . . .?«
»Aber heute abend ist es für so wilde Sachen noch viel zu früh! Heute abend – das verspreche mir – bleibe daheim!«
». . . und morgen . . .? sage mir . . . und morgen? . . .«
». . . Morgen oder übermorgen . . .« Der Student blieb heftig atmend am Haustor der Pension ›Alpenrose‹ in der Tölzer Straße stehen. ». . . Da . . . ja . . . dann . . . Luja . . .«
»Du – kleiner Bernd – schau' mir doch 'mal ins Gesicht!«
»Da ist es dann natürlich eine andere Sache . . .«
»Warum schaust du mich denn nicht an . . . Du . . .?«
»Herrgott – ich tu's ja . . . da . . . bitte . . .«
»Aber wie?« Luja Büttner stand im Hausflur vor dem Studiosus Vollbrecht und legte ihm die Kinderhände auf die Schulter und verlor sich, spöttisch das Köpfchen schüttelnd, in das frische, verwirrte Antlitz über ihr. »Du bist doch so ein guter, blonder, deutscher Junge! Du bist ein kleiner Klosterschüler! Ränke sind deinem unschuldigen Herzen fremd . . .«
»Luja . . . sieh 'mal . . .« Er stieg neben ihr die Treppe hinauf.
»Du kannst dich nicht verstellen! Du sprichst anders als du denkst . . .«
»Ich bitte dich ja nur . . . nur heute . . . diesen einzigen Abend . . .«
»Du hast ein Geheimnis vor mir . . . und es leuchtet dir doch aus allen Poren . . .« Luja öffnete oben ihr Zimmer. Es war leer. Die Gräfin Borissowski, mit der sie es teilte, nicht daheim. »Still! Ich fühle es! . . .«
»Herrgott Donnerwetter . . . Luja . . . Ich . . .«
»Du fluchst nur aus Verwirrung, weil du merkst, daß ich dich durchschaue . . . Ja – stampfe nur mit dem Fuß . . . Gehe lieber! . . .«
»Ich bleibe, bis du . . .«
»Zum Glück scheint Gritsch nicht daheim! Und Madame Mickott auch nicht. Und Lisa noch im Warenhaus. Wenn die drei kommen, setzen sie dich auf die Treppe. Überall setzt man dich an die Luft, mein Junge! Du aber denkst, das muß so sein!«
»Luja . . . liebe Luja . . . Ich liebe dich doch so . . . Ich will doch wirklich nur dein Bestes . . . Aus reinem Herzen . . .«
»Ring nicht so verzweifelt die Hände! Davon stirbt Ssilin nicht! Willst du mir helfen, daß er stirbt?«
»Morgen – ja . . .«
»Morgen – morgen – nur nicht heute . . .« Luja Büttner lachte auf. Dann zuckte sie zusammen. Ihre feinen Züge erstarrten in Spannung. Sie neigte lauschend das kleine Ohr gegen die Türe. »Hör 'mal: Da, auf dem Flur, nennt jemand meinen Namen!«
»Jach soll das Brieflich dem Frayle Büttner in de Hand geben!« sagte draußen eine Stimme. »Ich geh' nicks vorher weg! Nü – da is se!«
»Und das ist ja wieder der Lausewenzel mit der Pelzmütze!« schrie der Student. Er wollte sich an Luja vorbei über die Schwelle drängen. Aber sie stieß ihn mit spitzen Ellbogen zurück. Sie schubste das Mädchen für alles draußen beiseite. Sie riß das Schreiben aus den Fingern des jungen Schmelke Machalles, der verschmitzt vor der Tür dienerte.
»Bleiben Se mir gesünd!« grinste er höhnisch zu Bernd Vollbrecht innen im Zimmer. »Was geht das Brieflich Ihne on! Güte Nacht!«
Schlodderige Sprünge, in ausgetretenen Stiefeln, auf krummen Absätzen über den Flur, die Treppe hinab. Der Student sandte einen unterdrückten Fluch hinterher. Er schloß die Türe. Er drehte den erhitzten Blondkopf zu Luja. Sie stand mitten im Gemach – die Arme in leidenschaftlichem Triumph zur Decke erhoben. In der Rechten schwenkte sie das wildzerknitterte Schreiben. Ihre grünlichen Augensterne funkelten wie die einer Katze. Ihre Lippen frohlockten:
»Oh – du bist klug, Bernd! Alles kommt, wie du es gesagt hast! Er kommt uns entgegen! Wir brauchen uns keine Mühe mehr mit ihm zu geben! Er ist schon von selber so weit!«
»Ist der Brief von Ssilin?«
»Da! Da!« Das Blatt mit Serge Ssilins eckigen, kolbenartigen Schriftzügen wehte in der nervösen und mageren Mädchenhand durch die abendgraue Luft. »Oh – wie hattest du recht, du gescheiter, kleiner Bernd: Er ist schon blind und toll! Er bietet mir goldene Berge! Er ist mein Sklave und Freund! Er geht zugrunde, wenn er mich nicht heute noch spricht! Ich soll ihm nur befehlen, wo . . .«
»Das schreibt er dir in dem Wisch da?«
»Das alles! Alles! . . . Nun aber – ganz wie du gesagt hast – nun heißt es klug sein wie die Schlange – überlegen, was man ihm antwortet . . .«
»Nichts – heute – Nichts, Luja!«
»Das sieht dir ähnlich . . . Das wußt' ich von dir . . .«
»Fahre nicht so auf mich los . . .«
»Das wußt' ich schon die ganze Zeit, daß du mich verrätst! Du treibst ein falsches Spiel . . .«
»Vertrau' mir doch! Ich hab' dich doch so lieb . . .«
»Was liegt mir daran, ob du mich lieb hast! Mein Mischa war so gut! Mein Mischa war so lieb! Du geliebter Mischa . . . du schaust jetzt auf mich herunter . . .«
»Lästere nicht . . .«
». . . und ich lieg' auf den Knien – mein Mischa – mein Mischa! – und schau' zu dir hinauf . . . Mein Mischa . . . Jetzt ist der große Abend da . . .«
»Luja . . . Luja . . . Komm doch zu dir . . .«
»Lasse mich! Du bist lästig! Du bist ein Mann ohne Mut! Ich habe Mut für dich und mich! Das wird Ssilin heute noch erfahren! . . . Wohin bestelle ich ihn nur? . . . Wohin – mein Gott?«
»Gottlob – du erreichst ihn nicht mehr am Königsplatz! Da ist er längst weg!« sagte der Student.
»Einerlei . . .« Luja Büttner überflog mit aufgerissenen Augen das Papier. »Hier seinem Freunde soll ich telephonisch Bescheid sagen – einem ukrainischen Edelmann . . .«
»Wie heißt er . . .?«
»Igor von Laskarew – in der Pension ›Luna‹ am Yorkplatz!«
»Aber das ist er ja selber!«
Es fuhr dem Studenten heraus. Gleich darauf bereute er es. Aber es war zu spät. Er spürte zehn Finger, die sich vorn, in seinen Rockaufschlag, verkrampften. Er fühlte einen heißen Atem in seinem Gesicht.
»Er selber . . . sagst du?«
»Ja! Das Gewächs tritt auch in dieser Spielart, als Laskarew, auf . . .«
»Das weißt du genau?«
»Schon seit ein paar Tagen – von anderen Russen – und – wenn dir das nicht genügt – also: Ich habe ihn vorhin mit meinen eigenen Augen in der Pension ›Luna‹ am Fenster gesehen!«
»Gott sei Dank! Mischa – mein Mischa – nun sollst du mit mir zufrieden sein!«
Der Student Vollbrecht umfaßte die, wie zu einem Stoßgebet in letzter Stunde gefalteten Hände drüben. Er beugte sich zu dem seidenschwarzen Scheitel unter ihm nieder.
»Luja – Schon, daß er dir nicht seinen Namen nennt – daß er sich dir gegenüber für seinen Freund ausgibt – begreifst du denn nicht? – das ist wieder so eine verfluchte Falle und Finte! . . . Er hat eine neue Teufelei gegen dich vor . . .«
»Oh – ich werde ihm dienen . . .«
»Er ist stärker als du . . .«
»Heute noch, vor Mitternacht, wird man es wissen, wer der Stärkere war . . .«
»Luja . . .«
»Höre mein letztes Wort – und dann verlasse mich bitte – ebenso wie der Schäfer Gritsch: Ich werde es einrichten, daß ich heute mit Ssilin zusammen bin – möglichst spät . . .«
». . . möglichst spät . . .?«
»Ja. Und ich lasse ihn noch außerdem recht lange warten! Dann trinkt er aus Ungeduld. Sein Kopf wird benebelt – wie neulich . . .«
». . . möglichst spät – sagst du?«
»Aber gewiß doch! Es muß doch Nacht werden! Wo sollte man sich denn vor neun oder zehn Uhr abends treffen – hier bei euch in Berlin? Alles fängt ja dann erst an!«
»Und jetzt ist es sechs Uhr . . .«
»Ja – Eile dich! Es ist Zeit für Kinder, nach Hause zu gehen, kleiner Bernd! Komm! Du darfst mir einen Kuß auf die Stirne geben – als Bruder – zum Abschied! Du willst nicht?«
»Nein! Auf deiner Stirne ist das ›Kainszeichen‹ . . .« sagte der Student leise. »Aber ich werde es löschen! . . . Warte nur . . . Ich werde es löschen, ehe andere Menschen es noch sehen können . . .«
»Ich hab' dein Ehrenwort – aus der Diele neulich – aus ›Onkel Toms Hütte‹ – daß du schweigst . . .«
»Ja – ich muß schweigen! . . . Und ich muß trotzdem handeln . . . Leb' wohl, Luja . . .«
»Was hast du vor? Mache keine Dummheiten! Störe mich nicht!«
»Leb' wohl! . . . Ich muß weg! . . . Ich bin in höchster Eile . . .«
»Nun dann – mit Gott!« Die Kleine zuckte geringschätzig die Achseln. Sie lauschte, in der offenen Türe auf der Schwelle lehnend, bis unten das Haustor hinter dem Studenten zuschlug. Dann trat sie auf den Flur hinaus. Dort war das Telephon. Aber ein Mann stand vor dem Apparat und redete hinein. Ein Mann in Mantel und Hut, eben heimgekommen, mittelgroß und kräftig. Seine Sprache hatte den harten, deutsch-russischen Tonfall, mit dem Anklang an das Schwäbisch der Kolonisten zwischen Dnjepr und Wolga.
»Wie?« frug er in das Schallrohr. »Es ist doch dort das Reisebüro? . . . Ja? . . . Hier der russische Emigrant Paul Gritsch! Ich bezog von Ihnen eine Fahrkarte nach New York für Mitte nächster Woche. Nun denn: Ich weiß noch nicht, ob ich zu diesem Zeitpunkt schon in der Lage bin, Berlin zu verlassen . . .«
Es antwortete eine Stimme aus der Leitung. Der Mennonit bewegte beipflichtend das schnurrbärtige dunkelborstige Haupt:
»Ganz richtig! Ich spreche in den nächsten Tagen wegen Umschreibung der Schiffskarte auf einen späteren Zeitpunkt bei Ihnen vor, sowie ich klar sehe! Danke, Schluß!«
Der Schafzüchter hängte das Hörrohr an. Er sah vor sich Luja. Die Kleine stand mit gerungenen Händen. Sie musterte ihn nervös aus ihren großen, dunklen Augen. Sie schüttelte verzweifelt den Madonnenscheitel.
»Was ist das nun wieder mit Ihnen, Gritsch!« sagte sie. »Man hört, Sie wollen abreisen! Man lobt Gott! Man atmet auf! Da – auf einmal – schwindet die Hoffnung! Sie besinnen sich eines Schlechteren und bleiben . . .«
»Vorläufig: ja . . .«
»Sie sind doch ein frommer Mann! Gott ist doch bei Ihnen! Warum fürchten Sie sich vor dem Wasser?«
»Ich fürchte nicht für meinen Leib, Luja, sondern für Ihre Seele . . .«
»Gab ich Ihnen meine Seele zum Pfand? Liehen Sie mir hundert Rubel auf meine Seele? Haben Sie ein Recht auf meine Seele? Nichts!«
»Ihre Seele ist in Gefahr . . . Ich weiß nicht, wie tief sie schon in Sünde und Schuld hineingewatet ist – hoffentlich nur erst in Gedankensünde, Luja . . .«
»Gehen Sie nach Amerika, Gritsch! Stiften Sie dort eine neue Sekte! Sie werden dort noch ein Heiliger der jüngsten Tage . . .«
»Mich täuschen Sie nicht, Luja! Ich sehe es Ihnen an – und jeden Tag mit Schrecken mehr, wie der Böse über Sie Macht gewinnt! Er schaut aus Ihren Augen. Er spricht aus Ihrem Mund. Noch ist es hoffentlich nur der Versucher im Geist . . .«
»Beschwören Sie Ihre Geister in Amerika, Gritsch! Was geht mein Geist Sie an . . .?«
»Noch kann ich Sie retten . . .«
»Mein Gott. Will ich denn gerettet sein?« Die zarte Gestalt vor dem Kolonisten aus der Nogaischen Steppe hob sich erbittert auf den Fußspitzen. »Jeder von euch kommt und will mich retten! Vor was denn? Sie wissen es nicht! Das sagen Sie selber! Rief ich Sie, Gritsch? Rief ich den kleinen Deutschen? Nein! Also warum drängt ihr euch mir auf?«
»Luja! Hören Sie: Als Sie vorgestern nacht sich und mich in jenen Tempel des Bösen verschleppten . . .«
». . . und Sie davonliefen und den Teufel bei der Polizei anzeigten!« ergänzte die Kleine spöttisch.
». . . da frugen Sie dort nach einem gewissen Ssilin . . .«
»Ja. Das ist mein Freund . . .«
»Als Sie am nächsten Morgen verstrubbelt und verwildert von der Polizeiwache heimkehrten, erklärten Sie hier Ihrer Kusine Lisa, Sie würden auch weiter abends mit diesem Ssilin verkehren!«
»Ja. So bin ich, Gritsch!«
»Luja . . . In mir ist ein Vorgefühl . . . Ich kenne zwar diesen Mann nicht . . .«
»Schade!«
». . . aber ich merke es Ihnen an: Er übt eine furchtbare und unheimliche Macht über Sie aus!«
». . . oder ich über ihn . . .«
»Ich fürchte: Er ist Ihr böser Geist . . .«
»Vielleicht ist es ein böser Geist! Für derlei haben Kinder Gottes wie Sie ja eine Witterung . . .«
»Von dem Bösen aber soll man sich fernhalten! Luja . . . in Werken, Worten und Gedanken.«
»Das ist ein ganz harmloser Mensch, von dem Sie da reden, Gritsch! Ein Altgläubiger aus Charkow. Ich kenne ihn noch von Sebastopol her. Da habe ich schon als Kind auf seinen Knien gesessen. Ich nenne ihn ›Onkelchen‹ . . .«
»Kein Wort davon ist wahr, Luja – Luja . . . Sie lügen!«
»Nein. Ich mache mich nur über Sie lustig, Gritsch!«
»Ihre Augen flackern! Ihr Körper bebt! Ihr Atem fliegt! Irgend etwas Schreckliches ist in Ihnen . . .«
»Nun lassen wir es, Gritsch! Es ist wahr: Man soll in dieser Stunde nicht spotten! Sie ist zu ernst.«
»Luja . . . Kommen Sie da – mit mir hinein . . .«
»In Ihr Zimmer . . .? Mit Ihnen allein? Heiliger Menno – was fällt Ihnen ein?«
»Wir sind nicht allein! Es ist noch ein Dritter drin! Hören Sie nicht? Er ruft . . .«
»Ich höre keinen Ton . . .«
»Er ruft nach Ihnen?«
»Wer denn – hier in der Pension?«
»Christus ruft nach Ihnen! Sehen Sie denn nicht: Da steht er ja mitten in dem Zimmer! Er wartet auf Sie, um Sie zurückzuführen – dahin, wo die Gerechten sind! . . . Kommen Sie! Wir wollen zusammen niederknien und beten!«
»Beten Sie, Gritsch!« sagte die kleine Büttner in weicherem Ton und drückte dem Taufgesinnten die Hand. »Beten Sie da drinnen für meine arme Seele! Sie haben recht: Es tut vielleicht not . . .«
»Wir beide, Luja, wollen . . .«
»Nein! Beten Sie in Ihrem Kämmerlein! Aber mich lassen Sie bitte inzwischen hier draußen telephonieren! Es eilt!
»Mit diesem Ssilin . . .?«
»Ach nein!« sagte Luja Büttner. »Sie bilden sich immer ein, Gritsch, Sie wären mein einziger Freund und Beschützer! Ich habe aber viele Freunde, die Sie nicht kennen! Jetzt zum Beispiel werde ich mit einem Herrn von Laskarew reden . . . aus Kiew!«
»Luja . . .«
»Stören Sie mich jetzt nicht am Apparat, Gritsch! Die Verabredung ist wichtig!«
Paul Gritsch stieß einen dumpfen Laut aus. Er ging langsam, den energischen, von Wind und Sonne der Steppe gebräunten Kopf gesenkt, in sein Zimmer. Durch das Sprachrohr erkundigte sich Luja:
»Ist dort Pension ›Luna‹ am Yorkplatz? Bitte, sagen Sie Herrn von Laskarew, eine Dame müsse ihn dringend sprechen . . . wie? . . . Fräulein Büttner müsse ihn sprechen. Er weiß schon . . . Wie? Herr von Laskarew ist eben weggegangen? . . . Mein Gott: Wohin denn?«
Luja Büttner stellte sich auf die Fußspitzen. Das Hörrohr zitterte in ihrer Hand. Ihr Atem flackerte in den Schalltrichter.
»Herr von Laskarew steht im Begriff, in das Ausland zu fahren . . .? Schon in den nächsten Stunden?
Großer Gott im Himmel . . . Was? . . . Seine Koffer stehen noch im Zimmer? Er kommt vor der Abreise noch einmal dorthin zurück? . . . Hat er denn nichts für mich hinterlassen? Gott sei Dank! . . . Bitte – recht deutlich – Es ist furchtbar wichtig . . . Ja . . . Ja . . . Also ich werde es der Sicherheit halber wiederholen: Ich soll angeben, wo Herr Ssilin, der Freund des Herrn von Laskarew, mich heute abend noch treffen kann? – Ja – am einfachsten . . . bei Herrn von Laskarew selber – ehe der abreist – in der Pension . . . Ich warte dort, bis er kommt! Oder vielmehr, bis Herr Ssilin kommt! Einer von den beiden Herren wird ja kommen! Wie? Herr von Laskarew bestimmt – wegen der Koffer? . . . Also gut! Danke schön, liebes Fräulein! Ich mache mich jetzt fix fertig und komme gleich hinunter in die Pension ›Luna‹ . . .«