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Das ist die kurze, aber traurige bisherige Lebensgeschichte der kleinen Luja Büttner!« schloß am Abend des nächsten Tages in ihrem Zimmer in der Pension »Alpenrose« deren Kusine, die große, stramme Lisa Altschüler, mit ihrer tiefen Stimme, zu dem Studiosus Vollbrecht gewandt. »Ihren Bräutigam haben sie ihr hingerichtet. Und weil das Unglücksmädel ihren geliebten Mischa bei ihren Eltern verborgen gehalten hat, haben sie ihren Vater im Gefängnis verkommen lassen, und das hat wieder der Mutter das Herz gebrochen . . .«
»Furchtbar . . .«
»Ach . . . Herr Vollbrecht . . . das ist nur ein einzelnes russisches Schicksal unter vielen Hunderttausenden! Die ganze Pension hier steckt voll von aus Rußland vertriebenen und geächteten Menschen. Ihr hier – in Deutschland – ihr könnt euch das gar nicht vorstellen . . .«
»Ich einigermaßen doch!« sagte der junge Landwirt. »In allernächster Zeit wird mein Vater mit seiner Familie von den Polacken aus Westpreußen ausgewiesen – und landet zunächst hier in Berlin. Was dann weiter mit den Meinen wird, das wissen die Götter . . . Na – zum Glück kann ich ein bißchen helfen! Ich hab' da ein ganz nahrhaftes Pöstchen im ›Kolokól‹ erwischt . . .«
»Und die Luja auch!« Die Base zog streng die Augenbrauen hoch. »Gott segne euren Tingeltangel! Da können Sie sie jeden Abend mit aller Bequemlichkeit genießen und anhimmeln . . . ach – quatschen Sie doch bitte nicht, Herr Vollbrecht! Wir sind doch hier unter uns Pfarrerstöchtern . . . Wir machen uns doch nichts vor . . .! Ich bin ein energisches Frauenzimmer. Ich rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist . . .«
»Das merke ich, gnädiges Fräulein.«
». . . also natürlich sind Sie bis über beide Ohrwascheln in die Luja verknallt . . .«
»Sie drücken das etwas unzart aus . . .«
». . . aber eben deshalb müssen Sie – auf die Luja Rücksicht nehmen! Deswegen habe ich Ihnen nämlich ihr hartes Schicksal erzählt. Man darf gerade ein Mädchen, das so Schweres erlebt hat, nicht auch noch ins Gerede bringen! Besuche von jungen Herren wie Ihnen gibt es also künftig in diesen heiligen Hallen hier nicht mehr! Da stehe ich, in meiner ganzen respektablen Länge, als Wauwau an der Pforte. Ich möchte Ihnen das nur durch die Blume zu verstehen geben . . .«
»Ich meine es doch nicht böse . . . Ich wollte mich ja nur erkundigen, wie Fräulein Büttner der erste Abend gestern im ›Kolokól‹ bekommen ist . . .«, versetzte der junge Mann betreten.
»Wären Sie wenigstens am Vormittag auf der Bildfläche erschienen! Da war sie hier . . .«
»Da konnte ich doch nicht! Ich mußte einen Freund von mir dem Baron – dem Leiter vom ›Kolokól‹ – als seinen künftigen Nachtrat vorstellen – wissen Sie – so gleich am Eingang – als Geist des Hauses – mit 'nem Boxerhandschuhgewicht von sechs Unzen . . .«
»Als Dwornik – ja . . .«
»Gottlob . . . Der Herr Baron haben das Ungetüm gechartert! Mein guter Ribbentropp hat ihm beinahe die Hand zu Dreck zerquetscht!«
»Und inzwischen ist Luja hier weg!« sagte Fräulein Altschüler kurz angebunden. »Sie proben – im ›Kolokól‹ – für das neue Aprilprogramm – in den nächsten Tagen . . . Die Russen sind doch die geborenen Nachteulen: Vormittags sind sie schlafmützig und zu nichts zu brauchen. Erst von zwei, drei Uhr nachmittags ab werden sie munter. Nun über uns klimpern sie bis zur Erschlaffung – Stunde um Stunde – wie ich sie kenne . . .«
»Aber wann kommt dann Fräulein Büttner da endlich nach Hause?«
»Es ist ja schon halb acht Uhr abends. Wahrscheinlich bleibt sie jetzt gleich bis zur Vorstellung in eurer Musikbude . . . Besonders bei dem Wetter draußen! . . . Großartig – nicht?«
»Scheußlich ist es! Es gießt ja in Strömen . . .«
»Na eben! . . . Ich bin doch Galoschenverkäuferin in 'nem Warenhaus!« sagte Lisa Altschüler mit ihrem sonoren Art. »Ich freu' mich immer wie 'n Schneekönig, wenn wieder 'mal die Influenza 'n bißchen in Berlin 'rumspukt! Dann fleckt das Geschäft! Herrgott . . . die Luja ist natürlich auch ohne Regenschirm abmarschiert – das heißt: sie hat überhaupt keinen . . .«
»Sie wird sich den Tod holen . . . auf dem Heimweg . . .«, rief der junge Mann entsetzt.
»Na – wenn's weiter so pladdert, bring' ich ihr meinen Parapluie 'rüber in den Kurfürstendamm und geb' ihn bei eurem neuen Portier ab! Ich bin nicht von Zucker . . . Mir macht die Nässe nichts . . . Wie? . . . Ich wäre ein guter Kerl? . . . Gott – wissen Sie: Ich bin immer dafür, daß 'was geschieht! Ich kann die Susemichelei nicht leiden! . . . Und das nächste, was sich ereignet, Herr Vollbrecht, das wird sein, daß Sie sich jetzt empfehlen und in Zukunft keine Stippvisiten mehr hier . . .«
Die Apothekertochter aus Cherson brach ab, ging rasch zur Türe und öffnete sie.
»Guten Abend, Herr Sebald!« versetzte sie laut und wenig verbindlich auf den dämmrigen Flur hinaus. Das verlegene Murmeln einer Männerstimme antwortete und verzog sich. »In so 'ner Pension haben nämlich die Wände Ohren!« Lisa Altschüler kam zurück. »Und die Ohren sind an den Schlüssellöchern! Dieser Iwan Sebald ist mit äußerster Vorsicht zu genießen. Ich möchte schwören, daß er die Luja ausspioniert – in wessen Auftrag – das allerdings . . .«
»Ich glaube – ich kenne seinen Hintermann«, der Student erhob sich, »und seh' ihn heute abend noch in Lebensgröße im ›Kolokól‹«
»Dann passen Sie um Gottes willen auf Luja auf . . . Die ist ja viel zu hübsch für euer Spiel und Tanz . . . viel zu apart . . . Unsereins braucht man nicht so in Watte zu wickeln . . . aber die Luja . . .«
»Gnädiges Fräulein: Da ich ja schon in die Luja verliebt bin, darf ich es Ihnen ja sagen: Sie wirken auch recht nett . . .«
»Gott . . . wem so derb geratene Weiblichkeit 'was sagt. – Jeder Mensch findet ja schließlich sein Publikum . . .« Die Galoschenverkäuferin begleitete den jungen Kellner bis zur Türe. »Also . . .«
»Hinauswurf . . . nach allen Regeln der Kunst.«
». . . aber darum keine Feindschaft nicht!«
»I wo! Donnerwetter – haben Sie 'nen Händedruck am Leib! . . . So ungefähr wie mein Freund Ribbentropp . . . unser neuer Nachtportier!«
»Gute Nacht . . . Sorgen Sie für die Luja . . .«
Luja . . . Die Regenfluten draußen rauschten: Luja. Die Gummiräder auf dem Asphalt sangen: Luja. Die Zeitungshändler auf dem Kurfürstendamm riefen es: Luja! . . . Luja! . . .
Arme Luja . . . Ein überströmendes Mitleid füllte die Brust des Studiosus Vollbrecht. Dies Mitleid kam aus der Liebe. Es war selber geläuterte Liebe. Feierstimmung. Andacht – vor ihr und vor sich selbst. Die Seele in festtäglichem Gewand. Der junge Bernd bummelte verklärt im Schnürlregen, den Kragen hochgeschlagen, die Hände in den Taschen – schlenderte unter Dachtraufen träumend seines Weges – ohne nachzudenken – ganz instinktiv – in der Richtung nach Berlins goldenem Westen, wo der »Kolokól« war und im »Kolokól« Luja.
Luja . . . Dort leuchteten schon im abendlichen Brausen des langen Amüsierkorsos über dem Nachtkabarett die buntfarbigen elektrischen Lämpchengirlanden seines Wappens – der großen Glocke. Arme Luja . . . Himmlische Luja . . . Ein verliebtes Lächeln – über die grell huschenden Automobil- und Hühneraugenreklamen an den Dachsimsen hinweg – zum schwarzen Nachtgewölk empor. Dann – mit den Augen wieder auf dieser Erde – ein ungläubig beseligter Blick geradeaus: da war sie ja selber . . . Da trippelte sie ja, in windfliegendem Mäntelchen: unschlüssig . . . irgendwo etwas suchend . . . das zerdrückte Mützchen gegen das schräge Regenpfeifen um die Straßenecke herum gesenkt . . .
»Fräulein Büttner . . . Wohin?«
»Fix 'was essen!« Die kleine Schönheit gab ihm verfroren die nasse und kalte Hand.
»So mutterseelenallein?«
»Die andern sind jetzt nach der Probe zur Winogradowa, hier in der Nähe. Da kochen sie sich Tee und futtern Ölsardinen . . . Sie kennen sich alle. Sie sind alles richtige Russen. Ich bin doch eigentlich eine Deutsche. Ich wollte nicht stören! Es soll gleich hier in der Querstraße ein kleines, russisches Traktir sein . . .«
Er ging mit ihr. Neben ihr. Ganz dicht an ihrer Seite, wie um sie dadurch vor dem triefenden Regen zu schützen. Er fühlte mit Herzklopfen ihr junges Leben, ihren warmen Atem zu seiner Rechten, so als berge sich ein verflogener kleiner Vogel scheu in seiner Hand. Er wagte vor stillem Glück kaum, Luft zu holen. Er blieb stehen. Er sagte:
»Da ist so 'ne russische Aufschrift! ›Zar‹! Das wird schon das Restaurant sein!«
Der »Zar« hatte mit dem großen, leichtsinnigen Palmenglashaus in eisiger Schneenacht vor den Mauern Moskaus nur den Namen und die Erinnerung an schöne Zeiten mit Kaviar und Zigeunerinnen gemein. Es war ein kleines Berliner Lokal wie hundert andere. Aber die Speisekarte bestand zum größten Teil aus russischen Lettern. An den Tischen saßen stille, russische Gestalten. Hier jubilierte man nicht wie um die Ecke am Kurfürstendamm. Hier lebten ganze geflohene Familien wochen- und monatelang vom Verkauf eines geretteten Diamantringes. Es waren da noch Offiziere der alten Zaren- und Kerenski-Armee in ihren hechtgrauen Friedensmänteln, von denen sie nur die Achselstücke und Metallknöpfe abgetrennt hatten. Junge Leute in russischer Gymnasiastenuniform. Kinder. Graubärtige Herren, die den nassen Pelz nicht ablegten, weil der einstige elegante Petersburger Anzug darunter zu speckig und fadenscheinig war. Die Sorge speiste stumm und unsichtbar mit an jedem Tisch. Die Preise waren billig. Man konnte schon für drei-, viertausend Mark ein Gericht erhalten. Aber in der kleinen Büttner erwachte der Osten. Sie legte erbittert die Karte hin.
»Ich werde nur gleich wieder gehen!« sprach sie feindselig auf russisch zu dem Kellner. »Ich werde mir irgendwo Brot kaufen, um meinen Hunger zu stillen! . . . Wie vermag man denn eure Preise zu zahlen? Denkt ihr denn nicht an Gott?«
»Nun – wieviel können Sie geben?« frug der Kellner. Er wunderte sich nicht.
»Wahrlich nur fünfzehnhundert!« schwor die kleine Deutsch-Russin. »Ich besitze nicht mehr!«
»Gut! Man wird es einrichten! . . . Man wird Ihnen Pilze reichen . . . Und Tee . . .«
»Da säßen Sie nun ganz einsam und verlassen, wenn ich nicht gekommen wäre!« sagte Bernd Vollbrecht, als der Kellner gegangen, und sah seiner Nachbarin innig in das zarte, blasse, von tiefschwarzem Haarglanz umrahmte Gesichtchen. Sie biß mit ihren scharfen, weißen, kleinen Zähnen die Kante einer trockenen Schrippe ab.
»Es war zu weit heute nach Hause . . .«, erwiderte sie mit umwölkter Stirn. »Und dann ist da Herr Gritsch . . .«
»Lassen Sie doch den ollen Betbruder!«
»Wie kann ich? Er kennt mich schon lange! Er steht da und predigt und langweilt!«
»Machen Sie sich denn etwas aus ihm?«
Gottlob: Ein langsames Schütteln des dunklen Köpfchens drüben. Ein müdes:
»Ich mache mir aus niemandem 'was . . . Verzeihen Sie . . . Es ist unhöflich . . . Beziehen Sie das nicht auf sich . . . Ich rede so . . . Ich bin so für mich . . . Es ist ja unrecht . . . natürlich . . .«
Und dann halb wie in einem versonnenen Selbstgespräch, in einem schleppenden Ton, vor sich hin: ». . . wenn ich anders wäre . . . Ich könnte mit Gritsch als Farmersfrau in Amerika leben – er geht in nächster Zeit hinüber – die Kinder erziehen . . . Alles wäre gut! Aber ich muß in Berlin bleiben . . . Ich muß . . .«
»Mir aus der Seele gesprochen!« versetzte der blonde Student begeistert. Drüben, unter den dunklen Wimpern her, wieder das rätselhafte, sanfte und unheimliche Lächeln von gestern. Dann sagte Luja Büttner mit einem leisen, fast mitleidigen Seufzer:
»Sie wissen ja nicht, warum ich nicht von hier weg darf . . . Sie würden es auch nicht begreifen . . .«
»Ich weiß jetzt vieles von Ihnen, liebes Fräulein Büttner!« sprach der Jungmann herzlich und einfach. »Sie sind mir jetzt nicht mehr fremd . . . Ihre Kusine hat mir vorhin erzählt, was Sie alles schon in Rußland erlebt haben . . . an furchtbarem Leiden.«
»Nun – jetzt führte mich Gott glücklich nach Berlin . . .«
»Aber hier stehen Sie doch auch von Gott verlassen da . . . als Waise . . . als Ausländerin . . . ohne Schutz und Hilfe . . . Ach . . . Reden Sie mir bloß jetzt nicht von Ihrem Halleluja-Fritzen dort in der ›Alpenrose‹! Ich kann die Kirchenheiligen nicht verknusen . . .! Da werd' ich wild . . .«
»Ich habe meine Base Lisa . . .«
»Die ist doch selber froh, wenn sie's Leben hat – wenn sie auch Haare auf den Zähnen hat . . . Davon hat sie mir nämlich vorhin ein Beispiel von 'nem Exempel gegeben . . .«
»Ja . . . Von Knigge hält sie nicht viel . . .« Die kleine Luja lachte ganz leise. Nur einen Augenblick. Sie sah reizend aus. Ihre Heiterkeit gab dem Studenten Mut. Er beugte sich kameradschaftlich zu ihr vor. Er legte bittend die Hände auf den Knien zusammen. Er versetzte gedämpft und herzlich:
»Nein – Fräulein Luja . . . Ziehen Sie nur die Augenbrauen hoch . . . Ich sage von jetzt ab ganz einfach: Fräulein Luja . . .«
»Habe ich Ihnen das erlaubt . . .?«
». . . und Sie nennen mich kurzweg ›Bernd!‹«
». . . und wie komme ich dazu?«
». . . weil Sie unbedingt hier in Berlin einen Mann brauchen, der Sie beschützt – und der dabei ein tadellos anständiger Kerl ist, so daß Sie ihm blind vertrauen können! Schon gefunden! Da sitzt er! Gebrauchsfertig! Zu allem bereit . . .«
Die kleine Büttner sah ihren Nachbar schweigend aus ihren großen, grünbraunen Augen an. Sie war nicht erzürnt. Es regte sich nichts auf ihrem weißen Gesichtchen.
»Erlauben Sie mir, Fräulein Luja, Ihr Freund zu sein! . . . Ja . . .?«
»Unter Freund . . . kann man vieles verstehen . . .«
»Ich nur das Reinste und Beste! Sehen Sie mich doch nur an!«
Luja Büttner schwieg. Es war, als grübelte sie über etwas nach. Er nahm behutsam, unter dem Tisch, ihre Hand in die seine. Er fühlte einen leisen Widerstand.
»Oder noch besser!« sprach er lebhaft. »Denken Sie sich, ich sei Ihr Bruder! Fassen Sie es so auf. Ich auch! Ich schwöre es Ihnen . . . Sie werden es nicht zu bereuen haben . . .«
Nun konnte er ihre Rechte ruhig halten. Die lag auf einmal still. Sie entzog sich ihm nicht mehr. Er atmete aus tiefster Seele auf. »Kommen Sie – wir trinken Bruderschaft . . .,« sagte er schnell und glückselig, ». . . wenn es auch nur in Tee ist . . .«
»Wenn Sie sich wirklich meiner annehmen wollen . . .« Sie nippte von ihrem Glas und schaute ihn dabei über dessen Rand hin fest ins Antlitz. Sie blieb bei dem leise betonten »Sie«. Er auch.
»Na – und ob!« versetzte er kampflustig und zufrieden. »Nun brauchen Sie sich vor nichts mehr in Berlin zu fürchten, Luja! Nun bin ich da!«
Immer noch der starre, verhaltene Blick von drüben. Die sanfte Mädchenstimme in halblautem, fremdartigem Russisch-Deutsch, aus dem es wie ein Hauch von Steppe, Salzsee, Wolgawind wehte.
»Wissen Sie auch, was Sie mir eben versprochen haben? . . .«
»Ihr frommer Knecht Fridolin zu sein, Luja! . . . Mit Leib und Seele . . .«
»Werden Sie alles für mich tun?« Die Frage klang leise.
»Mit tausend Freuden!«
». . . was ich auch von Ihnen verlange . . .?«
». . . das wird gewiß nichts Unrechtes sein . . .«
»Sie lassen mich nie im Stich . . . Bernd . . .?«
»Ich gelobe es Ihnen, Luja: Niemals . . .«
»Nun – ich werde Sie seinerzeit an Ihren Schwur erinnern . . . Bernd . . .«
Das »Bernd« kam noch mühsam über die vollen, weichen Lippen. Luja Büttner verstummte und sah eine Weile vor sich hin. Dann fuhr sie sich mit der Rechten über die Stirne, als wollte sie etwas dahinter verscheuchen, und klatschte leise nach russischer Art in die Hände, um den Aufwärter zu rufen.
»Wir müssen zahlen!« sagte sie ganz im alltäglichen Ton zu ihrem Gefährten. »Es ist höchste Zeit, daß wir uns wieder in Kellner und Musikantin verwandeln!«
Sie gingen durch das Lokal. Stumme, geistesabwesende Blicke folgten ihnen von den Tischen. Stumme, versonnene Gedanken suchten an diesen Tischen, in Träumerei, durch Zigarettenrauch die verlorene Heimat. Jeder Tisch war ein Stück Rußland. Über jedem Tisch schwebte irgend ein Erinnerungsbild aus Rußland. Die liebe, kleine Datsche bei Kasan – in einer Wildnis von grünen Haselnußstauden vergraben, das rotgestrichene Blockhaus – würziger Kieferngeruch – silbern zwischen den Stämmen die fast uferlose Breite der Wolga . . .
Weißflimmernd, unter blaßblauem Himmel, draußen in Krasnoje-Selo – zwischen den Duderhofschen Seen und der kaiserlichen Meierei die Zeltstadt der Petersburger Garden. Die grüne Ebene tausendfach übersät von den weißen Sommerröcken der Preobraschenzen. Hornstoß. Windverwehter Gewehrknall. Jagende Adjutantengäule . . . Zittere, Berlin – wenn erst Rußland, der Riese, erwacht . . . Seine Faust reißt dir die Viktoria vom Brandenburger Tor . . .
Vor wenigen Jahren noch . . . abends . . . Im Sommergarten . . . am Kreml von Tula . . . Man promeniert . . . Man soupiert . . . Man plaudert . . . Die Fabrikantenfrauen zeigen ihre neuesten Pariser Toiletten . . . Parfümwolken wehen . . . Die Regimentskapelle spielt . . . Unten spiegelt sich der aufgehende Mond im kleinen Stausee des Flusses.
Nur einmal noch . . . ein Johannistagmorgen auf dem Gutshof im Pskowschen Gouvernement . . . Die ganze taghelle weiße Nacht hindurch sangen im weißstämmigen Birkenwald durch Froschgequak die Sprosser, die nordischen Nachtigallen. Im Westen, über dem schwermütigen Peipussee, und im Osten zugleich lohte das Blutmeer der Sonne . . . Nun ist es hell. Es dampft weißer Nebel auf den Wiesen . . . Das Dengeln der Sensen klingt durch die Stille . . . Mädchenlachen vom Dorf . . . Es wird heute ein schöner, heißer Tag . . .
Draußen, auf der dunklen Berliner Seitenstraße, fegte windgepeitschter, kalter Sprühregen über den naßglänzenden Asphalt. Luja Büttner mummte sich in ihr Mäntelchen. Sie sagte:
»Ach – wenn man all die Russen wieder sieht und an Rußland denken muß . . . bei uns da draußen – da ist jetzt der herrlichste Frühling . . .«
»In der Krim . . .?«
»Ja. In meiner Vaterstadt Sebastopol noch nicht. Die Hochebene ist rauh. Aber wenn man ein paar Stunden mit dem Auto fährt . . . plötzlich – bei Baidar Thor . . . da liegt tief unten vor einem direkt das Paradies . . .«
»Palmen. Im Mai reife Orangen an den Bäumen«, erzählte sie eifrig im Weitergehen, wie um dem neuen Freund ihr Zutrauen zu beweisen. »Die Tataren haben lächerlich kleine Moscheen, mit kleinwinzigen Türmchen. Zu komisch sieht das aus . . . Vom Zarenpalast zieht sich eine Marmortreppe mit lauter Löwen bis hinunter ans Meer. Vorn am Eingang von Livadia – das Wäldchen von blühendem Goldregen und blauem Flieder durcheinander –, das ist ein Traum . . . Ach – und der Blick aufs Meer vom Felsen: ›hurrah‹ . . .« Sie verstummte jäh und begann dann leise, in verändertem Ton: »Sehen Sie – drüben auf der andern Straßenseite, den Menschen in der patschnassen, vermotteten Pelzmütze? Er hält mit uns gleichen Schritt . . .«
»Da ist ja der verfluchte Schlemihl von gestern wieder . . .«
»Ja. Mein Aufpasser! . . . Der hat mir jetzt sicher wieder von draußen durchs Fenster die Bissen in den Mund gezählt.«
»Ich werde mir das Gewächs 'mal kaufen.« Der Student wollte zornig stehen bleiben. Aber die kleine Deutsch-Russin setzte, spöttisch vor sich hinlächelnd, ihren Weg fort.
»Lassen Sie ihn doch!« sprach sie. »Es ist sein Brot. Er wird dafür bezahlt!«
Es kam keine Antwort. Aber beide dachten das gleiche. Bernd wandte finster den blonden Kopf seitlings zurück, in der Richtung, wo Schmelke Machalles sich geräuschlos in Nacht und Schatten aufgelöst hatte.
»Wie sich so'n Biest gleich verkrümelt!« sagte er. »Luja . . . wissen Sie, wer – nach meiner festen Überzeugung – den Kerl hinter Ihnen herschickt?«
Luja Büttner zuckte als Antwort gleichmütig die Achseln.
»Das ist euer Sektonkel von gestern Abend – dieser Zeitgenosse mit dem rothaarigen Zuchthausschädel – dieser Gospodin Sfilin . . .«
»Kann sein . . .«
»Und das läßt Sie ganz kalt?«
»Was soll man machen? . . . Mag er meinen Lebenswandel ausforschen! Ich habe nichts zu verbergen! Mir ist es gleich!«
»Luja . . .« Der junge Mann dämpfte seine unruhige Stimme noch mehr. »Wie erklärt sich das, daß Sie gestern Abend auf einmal aus heiler Haut kaltblütig von mir verlangten, ich sollte dem Herrn Sfilin mein Tranchiermesser in den Bauch pflanzen? . . . Und jetzt wieder ist er Ihnen total piepe! . . . Ja – und dazu lachen Sie noch?«
»Über Sie – daß Sie imstande waren und das gestern wahrhaftig ernst genommen haben . . .«
»Ganz ja nicht . . . Aber immerhin . . . Luja . . . Ihr Gesichtsausdruck dabei . . .«
»Gott . . . Ich ärgerte mich, weil mich dieser Muschik ununterbrochen so plump anstierte . . . und ich auch noch seinen Sekt trinken mußte, um dem Baron das Geschäft nicht zu verderben!«
»Und da stieg Ihnen am Ende der Sekt ein bißchen zu Kopf . . .«
»Na eben! Ich bin ihn doch nicht gewöhnt! Da schwatzt man dann als Frauenzimmer das Blaue vom Himmel 'runter! Da müssen Sie doch ein bißchen Spaß verstehen . . . Bernd . . .«
Er war beruhigt. Er war schon glücklich, daß sie ihn wieder einmal »Bernd« nannte. Er wanderte getreulich neben ihr her, wie ein großer Neufundländer neben seinem Herrn. Ihre Erzählung von den Wundern der Krim klang in seinem Ohr. Ihm schien sie selbst – dies zerbrechlich-zarte, brünette Spielzeug – wie ein Traum des Südens – wie eine Tanagra-Nippfigur vom Griechenmeer – vom Land der Myrthe und des Lorbeers – eine kleine Göttin – inkognito auf der Durchreise in Berlin, in der Verkleidung einer Balalaikaspielerin im »Kolokól«. . .
Unter der großen, farbigen Wappenglocke des Kabaretts überragte ein noch viel riesigerer Portier das Menschengewühl, in silberbetreßtem Mantel, den silbernen Knaufstock wie eine Herkuleskeule in der Faust. Sein gutmütiges Gesicht schmunzelte unter dem Dreispitz den beiden entgegen. Sein blondes Schnurrbärtchen war unternehmend hochgewirbelt. Darunter flammte das breite, rote Narbendreieck eines Granatsplitters.
»Das ist Ribbentropp, mein zweiter Freund, Luja!« erläuterte der junge Landwirt. »Niedliches Kerlchen – nicht? Seine Künftige kann 'mal sagen: ›Klein aber mein!‹ Er sieht wie ein Menschenfresser aus – aber das ist bei ihm nur äußerlich . . . Geben Sie ihm nur ruhig Ihr Händchen . . . so . . . Na – Paule – wie fühlst du dich denn als vereidigter Rausschmeißer?«
»Kinder . . . Morgen früh sitz' ich endlich wieder im Polytechnikum im Kolleg,« sprach der Riese hoffnungsvoll, »statt den ganzen Tag Säcke zu schleppen! Jetzt wird wieder feste gebüffelt und das Versäumte nachgeholt. Dafür markiere ich hier mit Wonne abends ein paar Stunden den starken Mann! Wißt ihr – die Unmoral ist doch das Moralischste, was es gibt! Der ›Kolokól‹ verdient direkt einen Tugendpreis . . .«
»Das habe ich gestern abend allerdings nicht bemerkt!« sagte die kleine, schwarze Schönheit.
»Bitte, Fräulein Büttner: Ohne die Drohnen in Berlin bei Nacht – was machten denn dann wir Arbeitsbienen in Berlin bei Tag . . .?« frug der phlegmatische Philosoph in Silberlivree. »Wenn die Ausländer und die Portokassenjünglinge mit ihren Verhältnissen und die Raffkes samt Familie sich hier nicht die Nacht um die Ohren schlügen – dann könnten wir fleißige Leutchen nicht wie Sie als Musikgirl und ich als Portier und du da als Pikkolo und der Alfred als Wurstmaxe leben und uns fürs Leben weiterbilden! Sobald ich einmal Professor an der Hochschule bin, werde ich allen Bummlern von Berlin öffentlich danken! . . . Na . . . Mahlzeit, Kinders! . . . 'rin mit euch in die Schatulle . . . He . . . Wollt ihr wohl, ihr Steppkes . . .« Er schritt dräuend aus dem Schutz des Glasdaches in den strömenden Regen hinaus und scheuchte ein paar Straßenbengel weg und kehrte auf seinen Posten zurück und stand da, majestätisch auf den Stab gestützt, und hielt ihn zehn Minuten später abwehrend quer vor den Eingang. »Halt! . . . Rennen Sie nicht so, Fräulein! Wohin denn? Zu Fräulein Büttner? . . . Ausgeschlossen! Die Dame hat jetzt Dienst! Was wollen Sie denn von ihr?«
»Ich bin ihre Kusine . . . Bitte – sagen Sie ihr doch: Lisa Altschüler sei dagewesen und hätte einen Regenschirm für sie abgegeben . . . Sie schicken ihn ihr hinein – nicht wahr? . . . Die Luja wird ja sonst naß bis auf die Knochen . . .«
»Ja – und Sie selber?« forschte der Riese. Er brauchte den Kopf nicht so tief zu senken wie bei anderen Leuten. Fräulein Altschüler reichte ihm bis zu der Kriegsnarbe am Mundwinkel, wie sie da frisch und straff vor ihm stand.
»Na – ich bin doch nicht so ein Prinzeßchen Erbse wie die Luja! Das sehen Sie doch, Herr Portier!«
Der Polytechniker lachte und schaute ihr wohlgefällig in das gesunde, windgerötete, resolute, junge Gesicht.
»Wenn Sie mich so feierlich ›Herr Portier‹ anreden . . .,« sagte er, »wie darf man Sie denn dann titulieren?«
»Sie können mich ja Fräulein Galoschenverkäuferin nennen! Warenhaus! Ich könnte gleich ein Paar Gummischuhe gratis kriegen und trag' keine! . . . Da: Bitte – so abgehärtet bin ich . . .«
Paul Ribbentropp schaute seinem Gegenüber auf den nicht eben kleinen Fuß und dann aufwärts zu dem billigen Hut auf dem braunen Haarknoten.
»Gardemaß!« versetzte er anerkennend. »Was den Wuchs betrifft, Fräulein Altschüler – da paßten wir beide zusammen . . .«
»Also Sie geben den Schirm ab . . .«
»Na ja doch . . . Laufen Sie doch nicht gleich weg . . . Es ist ja noch stilll . . . Die Kasse ist ja noch nicht einmal auf . . . Man kann schon noch 'was reden!«
»Worüber denn?« Die Apothekerstochter aus Cherson hatte getan, als ob sie gehen wollte, und kam wieder die paar Schritte zurück.
»De omnibus rebus et quibusdam aliis!« versetzte der Türsteher am Kurfürstendamm. »Das ist nämlich Latein und heißt . . .«
»Sind Sie denn klassisch gebildet?«
»Das merken Sie doch schon daran, daß ich Nachtportier bin!«
»Und bei Tag?«
»Kandidat der Ingenieurkunst am Polytechnikum!«
»Mein Vater gehörte in Cherson auch zur örtlichen Intelligenz!« versetzte die große, rüstige Altschüler, um nicht hinter dem andern zurückzubleiben. »Ich besuchte dort das Mädchenlyzeum! Wir hatten eine Apotheke. Ein schönes Haus. Nun sind wir aus Rußland flüchtig!«
»Ich höre es an Ihrem Deutsch!« sagte der Portier des »Kolokól« mitleidig. Beide schwiegen kurze Zeit. Sie waren ein wenig verlegen. Dann hub er wieder an: »Na – das ist ja nun nett, daß wir durch Ihre Kusine einen gemeinsamen Bekannten haben! Ich habe das Fräulein Büttner auch gerade vorhin kennengelernt. Ein Freund von mir brachte sie hierher und stellte mich ihr vor . . .«
»Der Hübsche . . . Blonde . . .?« frug die Galoschenverkäuferin in ihrem sonoren Alt. »Ist der Schlingel schon wieder hinter ihr her?«
». . . wenn Sie den Bernd Vollbrecht meinen? . . . Ja? . . . Den kennen Sie auch? . . . Na – sehen Sie 'mal, Fräulein Altschüler –, da kommen wir uns ja immer näher . . .«
Beide lachten und schauten sich mit stillem Wohlgefallen an. Ein salopper Mensch drängte sich vom Bürgersteig her neben den Portier und raunte:
»Herr Betriebsdirektor . . . Wie ist's mit 'm Koks bei Ihren Kunden da drinnen? Wenn einer schnupfen möchte . . .«
»Sie haben wohl schwache Augen, Männeken, daß Sie den Schupo drüben nicht sehen?« frug Paul Ribbentropp gemütlich. »Aha – da zieht er Leine! Das ist heute Abend schon der dritte Kokainhändler, Fräulein Altschüler, den ich auf den Trab bring'! . . .«
»Es scheint eine unheimliche Gegend hier . . .«
»Liefern Sie Ihr Kusinchen nur der Sicherheit halber möglichst höchst eigenhändig ab!« Der Polytechniker zwinkerte dem großen, frischen Mädchen vor ihm väterlich und vielsagend zu. Ein solider, schnurrbärtiger Bürgersmann meldete ihm, wie beiläufig stehenbleibend, vertraulich, den zerkauten Zigarrenstummel im Mund:
»Wenn Ihre Herrschaften sich nach der Polizeistunde noch 'n bisken amesieren wollen – jediegenes Lokal . . . zwei Minuten von hier . . . dort – jleich um die Ecke steht unser Spanner . . .«
»So? Na – euch Brüder seh' ich schon im Grünen Wagen.«
»Reelle Preise, Herr Wachhabender . . . Nackttanz . . . Prozente für Sie . . . Nu fuchtelt det lange Laster einem jleich mit seinem Spazierstock vor der Neese 'rum . . . Oller Stiesel . . .«
Der Dunkelmann war weg. Paul Ribbentropp begann:
». . . und nach Hause bringen sollten Sie Fräulein Büttner auch wenigstens ab und zu! Für gewöhnlich unterzieht sich ja mein Freund Vollbrecht aus reiner Menschenliebe dieser harten Mühe!«
»Ach – dieser Windhund!« sagte Lisa Altschüler ungeduldig mit ihrer tiefen, starken Stimme.
»Nee – pardon – Fräulein! Das ist mein Freund Bernd nicht! Der ist, im Gegenteil, noch weitaus einer von den besseren . . .«
»Verzeihen Sie! Ich will dem Herrn gewiß nicht zu nahe treten . . .«, sagte Fräulein Altschüler sehr entschieden. »Trotzdem . . . Ich glaube, es ist meine Pflicht, die kleine Luja hier persönlich zu bemuttern . . .«
»Da stimme ich Ihnen unbedingt bei . . .«
»Je mehr ich den Umtrieb hier sehe . . . Ich muß da durchaus selber nach dem Rechten schauen . . .«
»Es bleibt Ihnen absolut nichts anderes übrig!«
»Sind Sie denn immer da?«
»Jeden Abend auf Posten, Fräulein Altschüler!«
»Nun . . . Dann . . . also . . . Auf Wiedersehen . . .«
». . . aber recht bald . . . nicht wahr?«
»Ja . . . ich denke: Ich werde es wohl schon morgen einrichten können! . . . Oder vielleicht hol' ich die Kleine lieber heut Nacht schon ab . . .«
»Ach ja – tun Sie das doch ja! Das würde mich ganz kolossal freuen! Auf Wiedersehen!«