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Schon von Bergheim aus hatte sich Valeska, die wußte, wie schwer einzelne Damen in großen Städten Unterkunft finden, ein Quartier in nächster Nähe des Theaters gesichert.
Eigene Möbel besaß sie nicht – so leidenschaftlich sie sich auch eine hübsche kleine Einrichtung ersehnte und erträumte –, im Hotel zu wohnen, war zu kostspielig; so war sie auf Grund eines Inserats in der »Vossischen Zeitung« mit Frau von Haidenschild, einer angeblichen Offizierswitwe, in Verbindung getreten, die in der Lützowstraße Zimmer mit und ohne Pension auf Tage, Wochen und Monate an respektable Herrschaften beiderlei Geschlechts vermietete.
Es dämmerte schon sehr stark, als Valeska, nachdem sie ihre Rechnung im Hotel bezahlt und die Koffer verschlossen, vor der Flurtür des Hauses in der Lützowstraße stand.
Das Haus selbst hatte ihr, die in der Provinz nichts von der aufdringlichen Eleganz Berliner Mietkasernen kennengelernt hatte, mit seinem verschlossenen Eingang, seinem Treppenläufer, dem geschnitzten Geländer und den bunten Fenstern sehr imponiert.
Neben der Flurtür, hinter der Klaviergehämmer und das Kläffen eines kleinen Hündchens erscholl, klebte eine ganze Menge schiefgenagelter Visitenkarten und das emaillierte Täfelchen, das »Frau von Haidenschilds Pensionat für In- und Ausländer« anzeigte.
Eine daneben befindliche Doppeltür, die offenbar zu separaten Zimmern führte, trug eine große Karte mit einer Grafenkrone darüber.
Albert Graf zu Vach
Königl. Kammerjunker und Reg.-Assessor
Potsdam Langestall Nr. 7, part.
Valeska las das mit Erstaunen. Wie kam so ein vornehmer Mann in diese Pension? Und wenn er in Potsdam wohnte, was brauchte er dann ein Zimmer in Berlin?
Sie trat wieder an die Flurtür und musterte im Dämmerlicht die dort angehefteten Karten.
Auf der obersten stand:
Lenze
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur der
Europäischen Korrespondenz.
Sprechstunden nur im Bureau,
W, Lützowstr. 303 III, von 5½–7½ Uhr.
Schräg darunter hing ein Kärtchen, das nur die Worte enthielt:
Le vicomte d'Asagata.
Floriano de Curera y Guzman.
Attaché de l´Amb.de de la Rep.que de Nicaragua.
Ganz unten endlich ein Blatt:
Franz Bergmann
Königl. Reg.-Bauführer und Leutn. d. Res.
Eine merkwürdige Gesellschaft, dachte die Elten beklommen und zog die Klingel.
Vielleicht lag da ein Mißverständnis vor. Das alles machte einen so unheimlichen und feinen Eindruck.
Aber es war kein Mißverständnis. Frau von Haidenschild öffnete eigenhändig die Tür, freute sich sehr, das Fräulein zu begrüßen, und führte sie unter einem endlosen Wortschwall durch den halbdunklen Korridor, zu dessen beiden Seiten sich in unbestimmten Umrissen Zylinder, Damenhüte, Mäntel und Jäckchen abhoben, in ein freundliches zweifenstriges Zimmer.
Es sei alles schon in Ordnung, meinte sie, während Valeska sich in dem Raume umsah. Es hätten schon wiederholt Damen vom Theater bei ihr gewohnt. Für die Toilettenkoffer sei auf dem Boden ein sehr schöner, heller und luftiger Verschlag. Müsse darin gekramt werden, so sei das Dienstmädchen zur Verfügung, auch die Portierfrau, die mit fünfzig Pfennigen die Stunde zufrieden sei. Ein großer Waschkorb, um des Nachmittags Toiletten nach dem Theater und zurück zu schaffen, stehe für gewöhnlich auf dem Hängeboden, sei aber jederzeit disponibel. Der große Stehspiegel könne genau so gerückt werden, wie es das Fräulein für das Rollenlernen wünsche. Eine gute Hilfsschneiderin für Reparaturen und kleine Änderungen wohne im Hause, komme auch, wenn das Fräulein die Toiletten nicht aus den Augen lassen wolle, aufs Zimmer, in welchem Falle sie, Frau von Haidenschild, nur um eine Placierung der Nähmaschine auf eine Gummidecke bäte, da sonst erfahrungsgemäß die unterhalb wohnende Partei Lärm zu schlagen pflege.
Wünsche das Fräulein, abends aus dem Theater abgeholt zu werden, so sei obbemeldete Portierfrau gegen billige Vergütung gern dazu erbötig. Denn es wäre doch Sünde, für die paar hundert Schritte eine Nachtdroschke zu zahlen.
»Und der Preis ist also 175 Mark?« fragte Valeska.
Jawohl, 175 Mark – alles in allem! Wohnung, Licht, Bedienung. Wenn Fräulein Elten dem Mädchen für besondere Dienste eine Vergütung spenden wolle, stände dem nichts im Wege, ebenso für Frühstück, das wohl spät gewünscht würde. Hier sei die Klingel. Und Mittagessen – was dieses betreffe, so sei allen anderen Damen die vierte Nachmittagsstunde die angenehmste.
»Ach, es wohnen noch mehr Damen hier?« Valeska schien das als eine Tröstung zu empfinden.
Aber gewiß – nur liebe sie, Frau von Haidenschild, es nicht, wenn die Damen ihre Visitenkarten außen an der Tür befestigten. Das sei in Berlin nicht üblich.
»Nun, mein Fräulein,« sagte die Vermieterin etwas pikiert, »das sind die beiden Misses Simpson . . . zwei Schottinnen, die hier ein Musikkonservatorium besuchen . . . aus sehr guter Familie . . . ein Onkel soll irgendwo in Schottland Erzbischof sein . . . dann Fräulein Klein, eine Gouvernante, die hier eine neue Stellung sucht, nicht mehr die Jüngste, aber ein prächtiges Wesen . . . dann ich selbst und eine alte Dame aus der Provinz . . . das ist alles . . . sehen Sie . . . hier . . .« Und damit führte sie die Elten über den Korridor in das dämmrige »Berliner Zimmer«, das als Salon eingerichtet, mit dicken Teppichen belegt und nur durch eine Portiere vom Flur getrennt war. »Hier haben wir unsern Versammlungsraum, wo Sie, wenn Sie Lust haben, die Damen abends treffen . . . ganz, wie es Ihnen beliebt, natürlich . . .«
»Oh . . . wirklich . . .«, sagte Valeska. Sehr verlockend schien ihr diese Aussicht nicht.
»Und ebenso, wenn Sie Besuche empfangen, Fraulein Elten,« fuhr die Haidenschild eifrig fort, »aber ich bitte Sie . . . das ist ja selbstverständlich . . . Damen vom Theater können das ja gar nicht vermeiden . . . es kommt ein Agent . . . oder ein Direktor aus der Provinz . . . oder der eine und andere Kollege . . . oder ein Journalist, der das und jenes wissen will . . . sehen Sie . . . diese Herren können Sie hier im Salon ganz prächtig und ungestört empfangen . . . nicht wahr?«
Das hieß mit anderen Worten: Auf deinem eigenen Zimmer, meine Liebe, dulde ich vorläufig keine Herrenbesuche.
Valeska begriff das und nickte.
Frau von Haidenschild schien befriedigt.
»Es wird Ihnen schon hier gefallen«, sagte sie und kletterte auf einen Stuhl, um das Gas im Korridor anzuzünden. Im Lichte der aufflackernden Flamme sah Valeska, daß ihre Beschützerin eine etwas quabblige und schlampig angezogene Dame zu Anfang der Fünfziger war, die aber doch in der gezierten Sprache und würdevollen Haltung eine aristokratische Gewähltheit festzuhalten suchte.
»Gott weiß, wer der ihr seliger Mann war!« dachte sie bei sich.
»Ich esse ein saures Brot,« sagte, als habe sie ihre Gedanken erraten, Frau von Haidenschild, indem sie von dem Stuhl herabstieg, »mein guter Mann, der Rittmeister, hat mir eigentlich nichts hinterlassen als die Möbel und unseren schönen Namen. Sie wissen ja, wie es mit den Schulden beim Militär geht . . .«
Tatsächlich war der »Rittmeister«, der Sprosse eines verkommenen Geschlechts, zeit seines Lebens in einem pommerschen Städtchen den Honoratioren mit dem Schermesser um den Bart gegangen und des Abends nur ein- bis zweimal im Monat nüchtern gewesen. Nach seinem Tode hatte die Witwe, die ältere Kunstfreunde vor Jahrzehnten als Ballettelevin im Schweriner Hoftheater gesehen haben wollten, das Geschäft verkauft und aus dem Erlös sich die Pension in der Lützowstraße eingerichtet.
Valeska war im Begriff, in ihr Zimmer zurückzutreten, als die Nebentür aufging und ein kleines Männchen mit gelbem Gesicht und kurzem, schwarzem Schnauzbart herauskam. Das Männchen grüßte höflich, zwinkerte mit seinen vergnügten Schlitzäuglein Valeska freundlich an und ging die Treppe hinunter.
»Aber das ist ja ein Japanese!« sagte die Elten in kläglichem Ton.
»Gewiß!« bestätigte Frau von Haidenschild. »Der Vicomte von Asagata, der hier Medizin studiert . . . aus einer der vornehmsten Familien Japans. Sein Vater ist dort Finanzminister. Sie werden sehen . . . er ist ein zu lieber, freundlicher Mensch . . . und so solide . . .«, sie lächelte mit jener mütterlichen Anerkennung, die die Zimmervermieterinnen Berlins den wenigen tugendhaften Chambregarnisten zollen, »so solide . . . man glaubt es kaum.«
»Wahrscheinlich ist er in eine Japanesin verliebt«, meinte die Elten und wollte nun wirklich in ihr Zimmer, als die Türklingel klang und ein herrschaftlicher Lakai von lümmelhafter Majestät auf der Schwelle erschien.
»Eine Empfehlung vom Herrn Grafen,« sagte er, den Hut etwas lüftend, zu der alten Dame, »und er käme heute abend aus Potsdam herüber.«
Der Haidenschild schien das unangenehm.
»Es ist gut!« sagte sie zu dem Lakaien, der sich, einen neugierigen Blick auf Valeska werfend, würdevoll entfernte.
Diese erwartete, daß sie von ihrer redseligen Wirtin eine Aufklärung über den Grafen und seinen Diener erhalten würde, aber es erfolgte nichts, und sie ging in ihr Zimmer, um sich wohnlich einzurichten.
Es war ein recht hübsches Zimmer. Die beiden Fenster gingen auf die Lützowstraße, deren Pferdebahngeklingel unablässig herauftönte. In einer Ecke stand, durch einen Wandschirm verdeckt, das Bett. An den beiden Seitenwänden befanden sich verschlossene und mit Draperien verhängte Türen.
Hinter einer dieser Türen ertönte jetzt ein Poltern. Ein Stuhl fiel um, ein kräftiges, männliches Gähnen wurde hörbar, dann einige Flüche in unverständlicher Sprache. Es schien, als ob da jemand aus dem Schlaf erwache. Man hörte Wassergeplätscher, dann, wie ein Herr mit knarrenden Stiefeln und leise pfeifend im Zimmer auf und ab ging. Das häufige Zuschlagen von Kommoden- und Schranktüren zeigte, daß er dabei Toilette machte.
Zugleich ertönte wieder die Türklingel. Der Theaterdiener des Westend-Theaters war da, um Fräulein Elten das gedruckte Wochenrepertoire und ein Exemplar der Hausordnung zum Unterschreiben zu bringen.
Fräulein Elten war zwar zweifelhaft, ob der Theaterdiener zu den »Männern« im Sinne der Haidenschild oder, wie sie meinte, zu den geschlechtslosen Wesen vom Schlage der Kellner, Friseure und Schneider zu rechnen sei, entschied sich aber doch, auf den Flur hinauszutreten.
Dort empfing sie die Nachricht, daß bis auf weiteres – Sonntags ausgenommen – Probe zu »Ellinor« stattfinde und ferner »Die kleine Herzogin«, das Repertoirestück der letzten Saison, neu einzustudieren sei – für sie schien keine Rolle darin übrig –, dann las sie bei dem flackernden Gaslicht die Hausordnung, überzeugte sich, daß sie Klagen und Beschwerden nur schriftlich, Reklamationen gegen das Repertoire nur bis Sonntag mittag zwölf Uhr einreichen dürfe, daß es ihr unter keinen Umständen erlaubt sei, sich aus Berlin zu entfernen, daß sie vielmehr, wenn sie auf mehr als zwei Stunden ihre Wohnung verlasse, ihre Adresse dort hinterlegen müsse, daß sie bei Erkrankungsfällen sofort ein Attest des Theaterarztes einzureichen habe, daß die Weigerung, eine Rolle zu übernehmen, die sofortige Entlassung nach sich ziehe, und eben dies auch infolge andauernden schlechten Memorierens, ungebührlichen Betragens und ärgerlichen Lebenswandels unvermeidlich sei, und viele andere, mit Entlassungsdrohung und dem Abzug von viertel, halben und ganzen Monatsgagen gezierte Paragraphen, die sie nur flüchtig durchlas, um dann ihren Namen darunterzukritzeln.
Eben war sie damit fertig und der Theaterdiener empfahl sich, als wieder eine Tür heftig aufging. Ein Paar bestaubte Lackstiefel flogen heraus, ein hübscher junger Mensch mit bräunlichem Teint und dunklem Haar erschien, in Maroquinpantoffeln, mit lichten Beinkleidern und einem geflickten Hemd angetan, auf der Schwelle und zog sich bei Valeskas Anblick blitzschnell, in gebrochenem Deutsch eine Entschuldigung stotternd, zurück.
»Das ist der Attaché«, sagte die Haidenschild und hob die winzigen Lackstiefel auf. »Sehen Sie 'mal den Fuß . . . wie 'ne Dame . . . das soll bei allen vornehmen Südamerikanern so sein. Er wohnt jetzt schon ein Jahr hier. Viel zu tun hat er nicht. Den halben Tag sitzt er im Café und himmelt die Büfettmamsell an. Die andere Hälfte schläft er. So gegen Abend wird er munter und geht aus. Was er dann treibt, mag ich gar nicht wissen. ›Sie brauchen eigentlich gar keinen Hausschlüssel, Herr Baron!‹ hab' ich ihm neulich gesagt. ›Sie kommen ja doch erst um sechs Uhr morgens wieder zurück, wenn das Haustor schon offen ist.‹«
Eine merkwürdige Gesellschaft, dachte Valeska wieder, als sie in ihr Zimmer zurückging, um sich nun endlich einzurichten.
Das war bald geschehen. Die Wirtin stellte eine Lampe auf den Tisch, brachte Tee und empfahl sich wieder. Aus dem Salon hörte man das Lachen und Plaudern einiger Damenstimmen.
Valeska ging müßig in dem dämmrigen Zimmer auf und ab. Sie langweilte sich. Zum Lesen hatte sie nichts, zum Briefschreiben war sie zu müde, und zum Schlafen war es zu früh. So wollte sie noch ein bißchen ins Freie gehen, um die frische Nachtluft zu genießen.
Aber kaum war sie, gemächlich schlendernd und sich neugierig rechts und links umblickend, in die menschenwimmelnde, hellerleuchtete Potsdamer Straße eingebogen, so redete sie ein elegant gekleideter junger Mann so unverschämt an, daß sie entsetzt auf die andere Seite der Straße ausbog. Aber nach einer Minute wiederholte sich dort dasselbe Schauspiel – nur daß es diesmal ein alter, respektvoll aussehender Herr war, der hüstelnd und leise eine Frage an sie stellte. Um ihm zu entgehen, trat sie an ein Schaufenster. Aber gleich darauf tönte es: »Warm heute abend . . . Fräulein . . . was?« Und ein hübscher junger Mensch, anscheinend ein Offizier in Zivil, stand lächelnd neben ihr.
Sie drehte sich um und eilte, so rasch sie konnte, nach Hause. Ab und zu ertönte ein Räuspern oder ein lachender Zuruf hinter ihr. Und alle die Menschen, die den breiten Bürgersteig belebten, schienen gar nichts an der Art zu finden, wie man sie behandelte, und die Schutzleute schauten nachdenklich in das Gewühl der Menge.
»Mein liebes Fräulein,« meinte Frau von Haidenschild, als Valeska wieder bei ihr eintrat, »wenn Sie es schon nicht lassen können, um ein Viertel auf zehn Uhr abends noch auszugehen, so müssen Sie durchaus so elegante Toiletten wie diese vermeiden und dafür einen schwarzen Schleier vornehmen. Wer so hübsch und schick ist wie Sie . . .«
»Es ist empörend . . .«, sagte die Elten bleich und dem Weinen nahe, »bin ich denn vogelfrei in Berlin, daß jedermann . . .«
»Das ist die Weltstadt. Da ist eine einzelne Dame wirklich beinahe vogelfrei, und wir tun uns noch was darauf zugute, daß wir solch weltstädtisches Leben haben! . . . Aber kommen Sie doch ein bißchen in den Salon . . .«, setzte die Haidenschild gutmütig hinzu, »und beruhigen Sie sich! Es ist Ihnen ja nichts weiter geschehen.«
Im Salon befanden sich die anderen Damen, die bei der Haidenschild wohnten. Die beiden Schottinnen, zwei rothaarige, sommersprossige Mädchen von knochigem Körperbau und mächtigen, blendendweißen Gebissen, dann Fräulein Klein, eine bleiche, müde Gouvernante in den Dreißigern, und eine ältere, kleine Dame aus der Provinz, die in Berlin den Ausgang eines Prozesses gegen ihre Verwandten abwartete.
Die Schottinnen bearbeiteten, halblaut im Takte zählend, das Klavier in der Ecke und unterhielten sich dazwischen kichernd in ihrer Muttersprache, die Valeska nicht verstand. Über etwas Französisch, das sie sich in den letzten Jahren eingetrichtert, gingen ihre Sprachkenntnisse nicht hinaus. Die blasse Gouvernante schwieg und seufzte. Die kleine Dame unterhielt sich mit der Haidenschild darüber, daß der neben ihr wohnende Regierungsbauführer Bergmann demnächst von seiner achtwöchigen Reserveoffiziersübung zurückkehren und sie dann wieder allnächtlich durch sein spätes und geräuschvolles Nachhausekommen ängstigen werde.
Alles in allem eine höchst langweilige Gesellschaft.
Valeska wollte sich auf ihr Zimmer zurückziehen. Sie fragte ihre Wirtin, ob sie nichts zu lesen habe.
Gewiß . . . den »Lokal-Anzeiger«! Wie sollte dies Organ aller Zimmervermieterinnen, Waschfrauen und Herrschaftsköchinnen von Berlin hier fehlen?
Allein der »Lokal-Anzeiger« war nicht da. Es ergab sich, daß der vorhin nach Hause gekommene Doktor Lenze ihn mit auf sein Zimmer genommen hatte. Ehe Frau von Haidenschild noch bei ihm klopfen konnte, erschien Lenze selbst, zum Ausgehen gerüstet, das Blatt in der Hand, auf der Schwelle.
Ein schlanker, stutzerhaft elegant gekleideter Mann in den Dreißigern, mit langem Schnurrbart, zahllose Schmisse auf dem scharfgeschnittenen, verlebten Gesicht, trat er spöttisch lächelnd auf die Haidenschild zu und überreichte ihr feierlich die Zeitung. Dann machte er auch Valeska eine tiefe Verbeugung, so daß sie sich einen Augenblick hindurch von dem Vorhandensein einer Glatze in seinem sorgfältig gescheitelten Haupthaar überzeugen konnte.
Die neue Hausgenossin schien ihn zu interessieren.
»Also wirklich beim Westend-Theater, gnädiges Fräulein?« sagte er, trat ohne weiteres in den Salon und nahm im hellen Sommerpaletot, den spiegelnden Zylinder in der Hand, auf dem nächsten Fauteuil Platz . . . »Nun . . . haben Sie schon um Fräulein Dobschütz' Gunst gebuhlt?«
»Nein!« sagte die Elten. »Ich werde es auch nicht tun.«
»Hm.« Lenze lächelte ironisch . . . »Mut zeiget auch der Mameluck! Was macht denn der alte tüchtige Hochmann? ›Steht‹ die ›Ellinor‹ schon? Grüßen Sie ihn und sagen Sie ihm, es gäbe einen Durchfall mit Pauken und Trompeten.«
»Mein Gott,« fragte Valeska erschrocken, »woher wissen Sie denn das alles?«
Ihr Gegenüber sah sie belustigt an.
»Sie kommen aus der Provinz, mein gnädiges Fräulein,« sagte er, »sonst müßten Sie wissen, daß ich, Hermann Lenze, den sie im ›Kaiserhof‹ Doktor und den sie im ›Café Schiller‹ sogar Herr Leutnant nennen – im Vertrauen gesagt, ich war einmal wirklich Tertianer im Kadettenkorps –, also daß ich, Hermann Lenze, gemäß meines Kontraktes mit der Firma Casselmann und Co. und als Herausgeber der dieser Firma gehörenden ›Europäischen Korrespondenz‹ verpflichtet bin, alles zu wissen . . . nicht nur in meinem eigentlichen Fache, der Politik, sondern überhaupt alles . . . alles« wiederholte er mit Nachdruck, da Valeska verlegen lächelte . . . »Alles, mein Fräulein!«
Die impertinente Sicherheit des Fremdlings machte einen tiefen Eindruck auf die Elten.
»Wenn Sie alles wissen«, sagte sie mit raschem Entschluß, »wollen Sie mir da ein paar Fragen beantworten?«
»Bitte« . . . erwiderte Herr Lenze geschäftsmäßig . . . »Sie wollen wissen, wer die Dobschütz ist? Ich antworte kurz und bündig: die Dobschütz ist ein Racker! Sie wollen wissen, wer Hochmann ist? Hochmann ist ein guter Kerl, ein fleißiger und geschickter Regisseur und spielt leidlich die humoristischen Väter. Viel zu sagen hat er in seinem Theater nicht.«
»Sagen Sie mir um's Himmels willen . . .«, bat die Elten, »wer hat denn in diesem Theater etwas zu sagen?«
»Die Dobschütz!«
»Und wer noch?«
»Herr von Seybling.«
»Ja – wer ist denn das nur?«
Lenze sah sie prüfend an.
»Seybling? Ritter des Takowa-Ordens!« sagte er kurz.
»Ja, bitte . . .«, meinte die Elten melancholisch, »verspotten Sie mich nur! Es geht mir ohnedies schon alles wie ein Mühlrad im Kopf herum.«
Das schien Lenze leid zu tun.
»Also im Ernst gesprochen,« sagte er, »Seybling ist früherer Kavallerieoffizier und ein sehr kluger Mensch. Er ist in allen Ehren aus dem Dienste ausgeschieden, hat reich geheiratet und betreibt jetzt Geschäfte im großen Stil. Wenn er in seinem trottenden Gigerlschritt, die silberbeschlagene Keule in der Hand und das Monokel im Auge in die Börse tritt, so zittern vor ihm alle, die es angeht. Er hat schon die gerissensten Kulissiers hereingelegt. Ihn ›kann keiner‹.«
»Schrecklich!« sagte die Elten.
»Nachmittags ist er auf dem Rennplatz, erscheint dann abends mit seiner schönen Frau in irgendeiner Loge und soupiert später mit der Dobschütz, wenn er nicht in den Klub spielen geht.«
»Schrecklich«, sagte die Elten wieder. »Aber was hat denn das alles mit dem Westend-Theater zu tun?«
»Zum Komödienspielen gehört doch Geld,« erwiderte der Journalist kaltblütig, »der olle Hochmann hat nicht 'nen Groschen. Seine Geldgeber sind ein Konsortium von Börsenleuten, an dessen Spitze Seybling, der Freund und Beschützer der Dobschütz, steht.«
Valeska seufzte. »Nun sagen Sie mir bitte nur noch eines: wer ist Schliephacke?«
»Schliephacke ist ein alter, friedlicher Herr und unter anderem Besitzer des Westend-Theaters. Er bezieht jährlich davon 125 000 Mark Pacht.«
»Und was tut er dafür?«
»Nichts. Er besitzt das Theater. Auch den Fundus hat Hochmann von ihm zur Miete.«
»Ach Gott, wie ist das alles verwickelt.« Die kleine Elten hielt sich verzweifelnd den hübschen Kopf.
»Gar nicht verwickelt, mein Fräulein!« sagte der andere ruhig. »Sie mühen sich im Schweiße Ihres Angesichts, proben täglich zwei bis drei Stunden, spielen ebensolange, verbringen eine weitere Stunde in der heißen, stickigen Garderobe, lernen halbe Nächte hindurch Rollen und bekommen dafür in einem Monat noch nicht so viel, daß Sie sich auch nur die notwendigsten Bühnentoiletten ehrlich selbst beschaffen können. Ihren Kolleginnen geht es ebenso. Der größte Teil Ihrer Kollegen, alle Angestellten und Arbeiter, erwerben knapp durch angestrengte Arbeit das zum Leben Nötige. Hochmann selbst quält sich bei Tag und Nacht und kommt auf keinen grünen Zweig. Was er verdient, fressen ihm die Mietrente an Schliephacke und die Zinsen an Seybling und Genossen wieder weg.«
»Also leben die eigentlich von uns!«
»Sie säen nicht, sie ernten nicht,« sagte der Journalist, »aber es geht ihnen recht gut auf Erden. Denn sie sind Kapitalisten, und wir – Sie und ich, mein Fräulein – sind arme Teufel. Und wenn ihr euch am Sonntag abend im ausverkauften Hause stundenlang müht, daß der Beifall dröhnt und der Schweiß euch Streifen in die Schminke zieht, so bekommt ihr darum nicht einen Groschen mehr. Freilich müßten jene auch den Verlust tragen, wenn Hochmann umwirft. Aber das kommt nicht vor, und sie könnten's verschmerzen.«
»Ja, das ist aber doch . . .«
»Das ist eine alte Geschichte, mein Fräulein – und wem sie just passiert, der wird Sozialdemokrat, offen oder heimlich. Das sind wir hier alle!« Er stand auf und strich über den Zylinder. »Und nun, wie wär's? Soll ich Sie nicht ein bißchen in Berlin herumführen? . . . Nein? Dann nicht. Deswegen brauchen Sie doch nicht so entrüstet auszusehen, mein gnädiges Fräulein . . . ich denke mir nichts Böses dabei. Auch muß ich 'nen Moment in den Reichstag . . . es ist Abendsitzung, Sie wissen, die große Vorlage; dann aufs Telegraphenbureau, dann in den »Kaiserhof« . . . Ach bitte, Frau von Haidenschild, lassen Sie mich morgen in aller Frühe wecken, so um neun Uhr etwa, ich muß zeitig in das Kultusministerium. Gute Nacht, meine Damen!«
»Schade um den Herrn Lenze,« sagte die Haidenschild, ihm nachschauend, »so ein talentvoller Mensch und dabei . . .« sie neigte sich vertraulich zu Valeska . . . »Sie müssen nicht alles ernst nehmen, was er sagt. Er hat schon dreimal gesessen . . . in Plöhensee . . . wegen Preßvergehen. Aber das rechnen sich die Herren ja fast zur Ehre!«
* * *
Lange noch saß Valeska sinnend in ihrem Zimmer. Es war ihr, als läge der Morgen dieses ersten Tages in Berlin seit Wochen hinter ihr. so viel hatte sie heute erlebt und erfahren.
Aber nichts Erfreuliches.
Sie kam sich so klein vor, so winzig klein und unbedeutend. So überflüssig in diesem lärmenden, riesenhaften, kalten Berlin.
Wenn sie mich morgen hier tot finden, dachte sie, sich in die Bettdecke einwickelnd, so kräht kein Hahn danach. Höchstens kriegt eine andere die Rolle der Rieke . . . vielleicht die Blondine . . . der möcht' ich's gönnen. –
Sie versuchte zu schlafen. Aber das Geklingel der bis nach Mitternacht rollenden Pferdebahnwagen hielt sie wach.
Wie würde das enden?
Wäre sie doch in Bergheim geblieben, wo jeder Mensch sie kannte, wo die Spaziergänger auf den Straßen sich nach ihr umschauten und ein geflüstertes: »die Elten« alle Augenblicke hinter ihr erscholl.
Und wo sie ihren kleinen Husaren Fritz hatte, den lieben Kerl.
Sie fühlte sich entsetzlich einsam und verlassen. Sie schob im Dunklen den Kopf zur Seite, als wolle sie sich irgendwo zärtlich anschmiegen, und stieß unsanft mit der Stirn gegen die Wandtapete.
Und die Tränen kamen über sie. Sie schluchzte lautlos in die Kissen, während draußen die Pferdebahnen klingelten und über den Flur her das schwere Atmen der Damen – die Herren bummelten natürlich alle noch in Berlin herum – in regelmäßigen Pausen erscholl.
Wäre sie doch in Bergheim geblieben!
Aber da klang ihr wieder die Warnung des siechen Mimen Sparski im Ohr:
»Und die Jahre wandern, deine Schönheit verblüht, und du sitzest als komische Alte in Kötzschenbroda oder Meseritz. Und bist vielleicht nur alt, nicht komisch!«
Nein! Sie wollte Karriere machen!
»Und vielleicht findest du auch hier einen Freund!« flüsterte es ihr lockend zu, während sie in Halbschlaf versank.
Sie fuhr wieder auf.
»Ich will mich doch nicht mehr verlieben!« sagte sie halb weinend vor sich hin. »Ich mache mich bloß unglücklich damit. Ich will nicht, ich will nicht.«
Aber als sie von neuem einschlief, führte sie der Traum in das Bergheimer Stadt-Theater, wo man den »Lohengrin« gab. Es war, als trüge Lohengrin die Züge ihres verstorbenen Rittmeisters, den sie so oft wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Schwanenritter geneckt. Und von ferne klang leise und sehnsüchtig der Traum der Elsa:
»Ein golden Horn zur Hüften,
Gelehnet auf sein Schwert,
So trat er aus den Lüften
Zu mir, der Recke wert.«
Draußen auf der Treppe knarrte leise die Zimmertür des Grafen Vach. Ein paar halblaute Worte, das leichtsinnige Auflachen einer süßen, vornehmen Frauenstimme, das warnende, tiefe Murmeln eines andern – dann ging die Tür behutsam ins Schloß. Der Spuk war verschwunden.
* * *
Undeutlich hatte ihn Valeska vernommen. Jetzt schlief sie wieder fest ein. Und wieder sah sie Lohengrin vor sich stehen, und seine blauen Augen hefteten sich gütig auf sie, die arme kleine, ratlose Theaterprinzessin, und wieder hörte sie die süße Melodie:
»Mit züchtigem Gebaren
Gab Tröstung er mir ein.«
Und aufjauchzend klang es zum Zittern der Harfen und Geigen:
»Des Ritters will ich wahren!
Er soll mein Streiter sein.«