Rudolph Stratz
Die kleine Elten
Rudolph Stratz

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I.

Also heute war der große Tag!

Eine bedeutsame Energie lag auf Valeska Eltens schönem Gesicht, während sie sich vor dem Spiegel des Hotelzimmerchens die Haare machte.

Auf dem Teppich stand ihre irdische Habe. Ein großer Koffer mit kostbaren Theatertoiletten – ihr Schatz und Heiligtum, zu dem noch drei ähnliche, als Frachtgut nachkommende Ungetüme gehörten –, ein paar Hutkartons und ein kleines Kofferchen, das ihre »Zivilsachen«, Wäsche usw. barg.

Auf dem Tisch lag der Bühnen-Almanach. Daneben ein Stoß Briefe von Agenten und Direktoren, ein Brenneisen, ein großer Bogen, auf dem sie in zierlicher Schrift ihr Repertoire verzeichnet hatte, einige Papilloten und ein Pack mit blauem Seidenband zusammengehefteter Zeitungsausschnitte.

Das waren die Kritiken über ihre Tätigkeit am Bergheimer Stadt-Theater.

Ein schöngeistiger Gymnasialoberlehrer hatte sie geschrieben. Das Herz des schwerverheirateten Mannes war in hoffnungsloser Liebe zu ihr entbrannt gewesen, und siegreich trug ihn in seinen Rezensionen der Schwung der Begeisterung über holperige Perioden und ciceronianische Schachtelsätze hinweg, wie feurige Pferde den Jagdwagen über den Knüppeldamm reißen.

Sie hatte ihm denn auch zum Abschied freundlich die Hand gedrückt und versprochen, zu schreiben.

Dabei kam sie sich sehr dankbar vor. Denn was brauchte sie jetzt in Berlin noch den Oberlehrer aus der Provinz, in Berlin, dessen Brausen und Tosen geheimnisvoll in ihr Hotelzimmer drang.

Da stand es gedruckt im »Börsen-Courier«, dessen letzte Nummer neben ihr vor dem Spiegel lag, in der Rubrik »Hinter den Kulissen«:

»Die Direktion des Westend-Theaters hat Fräulein Valeska Elten vom Stadt-Theater in Bergheim für die beginnende Saison verpflichtet. Den Abschluß vermittelte die Hasselsche Agentur.«

Eine dürftige, kleine Notiz – aber wie inhaltreich für Fräulein Elten, die sich noch immer vor dem Spiegel mit ihren langen, kastanienbraunen Flechten abquälte.

Natürlich – wenn man Eile hat, geht es erst recht nicht! Und wieviel hatte sie heute zu tun, an dem großen Tag, der sie in den Berliner Kampf ums Dasein führte.

Einige Haarnadeln zwischen die Zähne geklemmt, mit ungeduldig flackernden Augen, beendete sie die Frisur und stieß vorsichtig den langen silbernen Pfeil durch das hochgesteckte Nest.

Dann stand sie auf, warf noch einen Blick auf die blau angestrichene Notiz des »Börsen-Couriers«, deren paar Worte sie schon auswendig konnte, und sah sich dann in dem Stehspiegel an.

Es war, als hielte sie Musterung für den Kampf, der ihr bevorstand. Ihre feinen Nasenflügel blähten sich, die schmalen Lippen preßten sich fest aufeinander, und in den Augen zitterte wieder ein unstetes grünliches Licht, wie das einer lauernden Katze.

Es war ein harter Kampf, das wußte sie.

Was hatte sie für Waffen?

Wieder blickte sie in den Spiegel.

Kein Zweifel, sie war hübsch! Sehr hübsch sogar!

Das vornehme Oval des Gesichts, über dessen schmaler Stirn die braunen Löckchen sich kräuselten, der kluge, etwas spöttische Ausdruck, der aus den lebhaften Augen sprach und um die Mundwinkel zuckte, die schlanke, mittelgroße Gestalt – gegen das alles war nichts einzuwenden.

Freilich – der Teint! Etwas Puder war kaum mehr zu entbehren, wenn man sich acht Jahre hindurch in der Kulissenluft kleiner Provinzbühnen herumgetrieben hat.

Jetzt zählte sie sechsundzwanzig. Für Berlin ist das kein Alter. Aber Zeit war es doch, hohe Zeit, den Erfolg zu packen.

Mit Schönheit allein macht man das nicht. Dazu gehören – die Elten zählte sich das in ihrem Nachsinnen, während sie sich in eine Ecke des Sofas lehnte, gewissenhaft auf –, dazu gehören außerdem Konnexionen, Geld, Tatent und Glück.

Konnexionen hatte sie keine! Wie sollte sie solche auch als fahrende Provinzschauspielerin anknüpfen? Und Geld sehr wenig. Die Koffer, etwas Schmuck und 412,50 Mark in der Tasche war alles, was sie ihr eigen nannte.

Talent? Ja, sie hatte Tatent. Aber wie weit es für Berlin reichte, wußte sie nicht. Sie war klug genug, das einzusehen.

»Ich glaube, ich bin überhaupt klug!« sagte die Elten für sich und trat wieder vor den Spiegel. »Wirklich . . . Und wer in Berlin klug ist, macht sein Glück!«

Das Glück . . . ja! . . . Das war es schließlich doch, wovon alles abhing. Was war es anders als Glück, daß Herr Hochmann, der Direktor des Westend-Theaters, zufällig auf einer Geschäftsreise in Bergheim übernachtete und abends ins Theater ging, und daß sie gerade an diesem Abend in einer ihrer besten Rollen, der Iza im »Fall Clémenceau«, auftrat?

Nach dem ersten Akt war Direktor Hochmann, ein älterer Herr mit ausgeprägtem Schauspielergesicht, auf die Bühne gekommen, einen Augenblick suchend stehengeblieben und dann direkt auf den zierlichen Pagen zugeschritten, der eben an der Hand des Bildhauers Clémenceau wiederholt sich vor dem klatschenden Publikum verbeugt hatte.

Tags darauf war sie für den nächsten Herbst an das Westend-Theater zu Berlin engagiert. Heute, am 15. August, hatte sie sich zu melden. Am 1. September begann die Saison.

»Ja, Glück must man haben,« dachte Valeska Elten bei sich, »klug must man sein . . . und hübsch . . . dann kann es doch schließlich nicht fehlen . . .«

Und getröstet beendete sie ihre Toilette.

Dann überlegte sie, was der heutige Tag von ihr verlangte.

Erst Meldung beim Direktor. Da konnte man etwa um zehn Uhr hingehen.

Dann Besuch beim Agenten.

Dann Rundfahrt bei den Kritikern der großen Blätter.

»Wie heißen denn die Kerle eigentlich?« brummte sie vor sich hin, schlug den Almanach auf und begann mit einem Bleistift die Adressen auf ein Blatt Papier zu kritzeln. Das wollte sie dem Kutscher geben, da sie selbst Berlin nicht kannte. Der würde schon sehen, wie man am raschesten von der Jerusalemer nach der Beuth- und von der Zimmer- nach der Breiten Straße kommt.

Die Namen der Herren Doktoren – denn sie hegte die allgemeine Bühnenüberzeugung, daß ein Theaterkritiker unbedingt Doktor sei – notierte sie sich besonders.

Visitenkarten hatte sie sich auch schon gerichtet . . . kleine, zierliche Dinger, auf denen lithographiert der Name »Valeska Elten« und darunter, von ihrer eigenen Hand geschrieben, »Mitglied des Westend-Theaters« stand.

Auf einige hatte sie noch weiter hingekritzelt: »Bittet bei ihrem Debüt um gütige Nachsicht.« Aber diese auszugeben, war noch nicht Zeit. Wußte sie doch gar nicht, welche Rollen sie bekam.

Hoffentlich schöne! Sie wußte, in Berlin wurden alle die Sensationsrollen »kreiert«, die sie in der Provinz dem Bergheimer Publikum vorgespielt hatte, die Magda und die Iza, die Alma und die Adah, die Rita und die Nora und viele andere. Und ebenso ehrte man da die Franzosen: Vielleicht durfte sie die Francillon oder Cyprienne spielen, vielleicht die Frou-Frou oder gar Marguerite Gauthier, die Kameliendame. Das sollte herrlich werden.

Sie blätterte in dem Genossenschafts-Almanach die endlose Reihe der Berliner Theater durch, sie überschlug die Opern-, Operetten-, Possen- und Vorstadtbühnen, sie warf nur einen flüchtigen Blick auf die anderen großen Schauspielhäuser, das Königliche, das Berliner, das Deutsche, das Neue, das Lessing-, das Residenz-, das Wallner-Theater, bis sie endlich an ihren eigenen Kunsttempel kam.

Da stand's unter der Rubrik Berlin:

XXVII. Westend-Theater.

(Erbaut 1836, renoviert 1886, mit elektrischer Beleuchtung versehen 1890. Das Theater faßt 1050 Personen. Spielzeit vom 1. September bis 30. Juni.)

Eigentümer: Hans Schliephacke, W, Bismarckstraße 107.

Direktion: Egbert Hochmann, Ehrenmitglied des Stadt-Theaters zu Walstett, Ritter des fürstlich Gnadenheimer Hausordens vom wachsamen Sperber und des Rhenaschen Verdienstkreuzes am grün-gelben Bande, W, Lützowplatz 104, führt die Oberregie.

Schauspiel-Vorstände: Harald Grillon, Inhaber des Sterns von Lichtenstein (um den Hals zu tragen), und Hans Bauer, Regisseure.

Bureau, Inspektion und Kasse: Franz Reichau, Sekretär, Heinz Rüsemer, Bibliothekar, Willy Krause, Inspizient, F. Hertha Kautz, Souffleuse, Ernst Seiffert, Kassierer, Ernst Berg, Inspektor, Fritz Kaltschmiedt, Theaterdiener.

Rechtskonsulent: Dr. Eugen Horwitz.

Theaterarzt: Dr. G. Mans.

Darstellende Mitglieder:

Herren: Louis Adolf, Hans Bauer (siehe Regisseure), Heinrich Franke, Hans Frey, Harald Grillon (siehe Regisseure) . . .

Hier wurden ihr die Herren zu langweilig. Sie las weiter:

Damen: Anna Maria Dobschütz, Käthe Hannemann, Pepi von Hochleitner, Franziska Ilgen, Elly Krause, Mizi Stadinger, Thilda Thorbeck . . .

Aber was sagten ihr diese Namen weiter? Waren ihre Trägerinnen jung oder alt, schön oder häßlich, talentvoll oder nicht?

Darüber gab der Almanach keine Auskunft. Sie mußte ihre Feindinnen persönlich sehen.

Sie legte den Almanach weg, setzte den Hut auf, zog ihr Jäckchen an, steckte die letzte Nummer ihres Agenturblattes, des »Norddeutschen Bühnenboten«, der für die 24 Mark jährliches Abonnement alle Quartale einmal ihren Namen nannte, in die Tasche und ging hinunter, um zu frühstücken.

Mit der Schokolade brachte ihr der Kellner einen Brief.

Ein großer Brief mit dem Poststempel Bergheim, die Adresse in gedrungener, schräger Militärhandschrift.

Sie öffnete und lachte laut auf.

Er war doch wirklich zu naiv, der gute Junge, trotz seiner vierundzwanzig Jahre!

Schickte er ihr da allen Ernstes eine Photographie, auf der er mit seiner Braut in ganzer Figur abgebildet war, er aufrecht stehend, in knapper Husarenuniform, auf den Säbel gestützt, sie zu seiner Rechten sitzend, mit freundlich lächelndem, rundem Kindergesicht.

»Zu dumm sieht sie aus!« dachte Valeska zornig und drehte die Photographie um, um zu sehen, ob auf der Rückseite etwas stände.

Da war nichts, auch ein Begleitschreiben lag nicht bei. Es war eben nur der letzte Gruß ihres kleinen Freundes, mit dem sie zwei Jahre hindurch in Bergheim Leid und Freud' geteilt.

Jetzt war sie in Berlin, und er heiratete. Im Trubel seiner Verlobung, des Schuldenbezahlens und Wohnungeinrichtens hatte er noch Gelegenheit gefunden, einige tausend Mark für sie zu erübrigen. Davon waren ihre neuen Toiletten und ihre ganze sonstige Equipierung bestritten worden. Der gute Fritz wollte sie doch nicht ohne Ausstattung in die Reichshauptstadt ziehen lassen und sah sich infolgedessen vier Wochen lang zwischen zwei Aussteuern, der offenkundigen seiner Braut und der heimlichen seiner »Kleinen«, die ihm übrigens an Wuchs beinahe gleichkam, stehen, so daß sein armer Kopf alle Mühe hatte, diese beiden heterogenen Dinge nicht zu verwechseln.

Jetzt war die Sache erledigt. Sie hatten sich unter ehrlichen Tränen getrennt. Das war das letzte Abschiedszeichen.

Ihm mochte vielleicht noch ab und zu einmal in dem Philisterium der Ehe die Erinnerung an jene wunderlich gemischte Stimmung von gedankenloser Lebenslust und Neckerei, von träumender Sinnlichkeit und unerklärlicher Wehmut aufsteigen, mit der die Vergangenheit solche Verhältnisse vergoldet.

Und sie . . .?

Die Worte der Magda aus der »Heimat« fielen ihr ein: »Weißt du denn, ob er der einzige war?«

Sie seufzte.

Was war aus den beiden anderen geworden?

Der eine, der kurische Baron, der ihr während ihres Aufenthalts in Riga den Hof gemacht und sie des Abends in seinem Wagen zum Strande nach Bolderaa geführt hatte, der war, als er ernstlich davon phantasierte, sie zu heiraten, von der Familie eingeheimst und auf eines seiner »Gütter«, wie er sie nannte, verschickt worden. Dort sollte er inzwischen ein Landfräulein geheiratet haben und seinen Daseinszweck darin erkennen, das alte Schwertbrüder-Geschlecht derer von Mayenhausen, soweit an ihm lag, nicht aussterben zu lassen.

Und der andere? . . . Sie sah ihn vor sich . . . den schmucken, glänzenden Kürassier-Rittmeister, dem sie zu Ende der achtziger Jahre am Stadt-Theater zu Erfurt angehört.

Sie hatte ihn leidenschaftlich geliebt. Ihr Auge wurde feucht, wenn sie an ihn dachte.

Eines Tages war er um die Ecke! Ab nach Amerika!

Ein Jahr darauf stürzte er sich – ein zerlumpter Bettler – von einem Wasserturm in Milwaukee auf das Pflaster hinab. Er starb auf der Stelle.

Und wieder klang in ihrer Erinnerung die tiefe, wohltönende Stimme, die damals an einem lauen Juliabend zum letztenmal an ihr Ohr gedrungen, während sie sich schluchzend an seine Brust lehnte und in all ihrem Kummer doch merkte, wie stark die auswattiert war.

»Leb' wohl, mein liebes kleines Mädchen! . . . Mög's dir in diesem Leben besser gehen als mir!« –

Valeska trocknete sich die Augen. Sie fühlte sich so allein, so verlassen auf der Welt. Eine tiefe, unbestimmte Sehnsucht erfaßte sie, ein Drang, sich irgendwo mit geschlossenen Augen anzuschmiegen und nach zärtlich streichelnder Liebe zu bangen.

Aber sie richtete sich entschlossen auf. Mit diesen Dummheiten war es vorbei! Auf die Weise kam man nicht vorwärts! Vier Jahre hatte sie, dem Rittmeister zuliebe, in Erfurt gesessen, und nur die Freundschaft zu dem Husaren Fritz hatte sie bewogen, ein zweites Jahr nutzlos in Bergheim zu bleiben. Jetzt mußte das ein Ende nehmen. Sie wollte sich nicht mehr verlieben – den Entschluß hielt sie in grimmer Energie fest –, sie wollte Karriere machen!

Mit Neid sah sie auf die glückliche Braut, deren Photographie sie immer noch in der Hand hielt. Die hatte es gut im Leben! Von den Eltern verwöhnt und verhätschelt, mit Sorgfalt vor allem Häßlichen und Widerwärtigen bewahrt, gehegt und gepflegt, als sei sie ein köstliches Kleinod, und nun noch einen so lieben Kerl, wie ihren Fritz, zum Mann – ja, die konnte wohl ihrem Schöpfer danken.

Aber wahrscheinlich tat sie es nicht und wußte gar nicht, um wieviel besser es ihr im Leben ging als ihr, Valeska Elten, der armen Bühnenzigeunerin, die allein und haltlos in dem Reiche des Scheins und der Lüge umhertrieb, das für sie die Welt bedeutete, gierig verfolgt von den Männern, mitleidig verachtet von den Frauen der guten Gesellschaft, deren lispelnde Wohlerzogenheit es nicht zu fassen vermag, daß ein Mensch hungern und dürsten und frieren, und daß er lieben und sich die Liebe da nehmen kann, wo er sie in seinem armen Dasein findet.

»Aber wartet nur!« Valeska Elten knöpfte sich energisch die Handschuhe zu, warf einen Blick auf die Uhr und trat in die Augustsonne hinaus auf die Friedrichstraße.

Donnernd und brausend schlug ihr im Rädergerassel und Pferdebahngeklingel, im Fluten der Menschenmassen und dem Geschrei der Verkäufer der glühende Atem der Weltstadt entgegen.

 


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