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ie Schneeflocken, die strömend dicht in diesen letzten Januartagen des Jahres 1915 von dem eisgrauen Himmel des östlichen Ostpreußen herunter wirbelten, erreichten kaum die breiig fließende, mit verschlammten Laufbrettern belegte Sohle der russischen Schützengräben. Sie schmolzen schon beinahe in der Luft zu Wasser, so heiß war der stinkende Brodem, der aus den holzüberdachten und warm überschneiten Unterstand-Tunnels in die offenen Laufgräben quoll. Es war in diesen geschützten Unterkünften dämmerig wie in einem Bärenlager zur Winterzeit. Pelzig behaarte Gestalten tappten aufrecht im Zwielicht, brummten tief, schnarchten in den sargähnlichen Seitenverschlägen. Ein scharfer, süßlicher tierischer Geruch lastete zäh unter dem Balkengewölb, das die Axt feldbrauner russischer Muschiks gezimmert. Der Staatsrat Morskoi blies, um sich davor zu schützen, ein Papyros-Gewirbel durch die Nasenlöcher, blieb kurzatmig und wohlbeleibt, wie er war, stehen und sagte:
»Feldwebel! . . . Fragen Sie wieder, wo der General eigentlich ist!«
Er war in der Uniform eines hohen Zivil-Tschinowniks mit übergehängtem Mantel. Sein Begleiter, der Panslawist Korsakoff, trug die Genfer Binde auf dem Ärmel seines Waschbär-Pelzes. Eine Ottermütze bis über die Ohren. Filzstiefel bis über die Kniee. Man sah von dem hageren, blonden Mann wenig mehr als die fanatisch starren, hellblauen Augen unter der angelaufenen Brille.
»Der General Schiraj? Weiter vorn! . . . In der ersten Schützengrabenstellung! . . .«
Ein kalmückisch ausschauender Hauptmann murmelte es. Er saß auf einem Empire-Sofa, das schon halb eingesunken war, und hatte die Füße auf den Seidendamast hinaufgezogen, um sie vor dem Urbrei von Wasser, Schlamm, Kohlstrunken, Hühnerfedern, Knochen und menschlichen Auswurfstoffen am Boden zu schützen.
»Ah – voilà un courant d'air!« Der Hofmeister Morskoi atmete draußen zwischen den engen Wänden des nach vorn führenden Sappengangs auf, und wehte sich mit der Hand Luft in das rote, von schwarzen Bartkoteletten umrahmte Gesicht. »Daß sie nicht krank werden, in diesen verpesteten Höhlen . . .«
»Sie sind's gewohnt, die Seelchen! . . . Diese Falken. Sie haben es im Winter in ihren Dörfern auch nicht anders!«
Der Professor Korsakoff hatte, während er das sagte, keinen weiteren Ausblick als dicht vor sich die steten Winkel des Wegs und über sich, zwischen den verschneiten Grabenkämmen, einen Streifen flockenwimmelnden Himmels. Der Feldwebel, der den beiden Moskauer Politikern als Führer diente, drehte sich mit breitem Lachen um:
»Belieben Sie, Herren! . . . Dies ist doch kein Winter . . . Für uns Sibirier! . . .«
Auf dem Auftritt des Schützengrabens, in den sie eintraten, hielten die langen, sehnigen Kerle dieses sibirischen Corps Wacht. Ihre Pelzmützen – daheim in den Urwäldern erbeutet oder Liebesgaben aus den Muffen der vornehmen Petersburger Damenwelt, – waren so hoch, daß sie bei einer unvorsichtigen Bewegung des Trägers bis über die Brüstung ragten. Aber es hatte keine Not. Es war überflüssig, daß man die eingebauten Maschinengewehre durch Decken gegen Sicht schützte. Der Schnee besorgte das selbst. Er fiel immer noch in dichten Strähnen. Man konnte kaum hundert Schritte weit sehen. Kein Schuß fiel in diesem zähen Grau und Weiß der Luft. Der Krieg schlief. Weithin längs der endlosen Front hörte man nichts als ab und zu das Gekrächze der Krähen. Der General Schiraj war, wie er selbst von sich sagte, keiner von diesen Petersburger Herrchen. Er war ein Feldsoldat. Er hatte im Frieden im Kaukasus und in Transkaspien gestanden. Er paßte auch jetzt zu seiner Brigade von Sibiriaken. Die beiden Besucher trafen ihn am Fernsprecher in einem vorn in den äußersten Schützengraben hineingebauten Bretter-Unterstand. Er redete selbst mit seinem ruhigen, tief durch seinen verschneiten Vollbart grollenden Baß nach hinten, mit der Division seines Abschnitts. Neben ihm stand sein Adjutant. Auf einem Bänkchen hockte ein blasser, jüdisch-russischer Einjähriger, mit um die Ohren festgeschnallten Hörrohren, die ihn mit der Beobachtungsstelle verbanden. Ein Unteroffizier saß neben ihm, bereit, durch das zweite Telefon Anfragen nach dorthin zu übermitteln.
»Nein, Exzellenz! Gar nichts Neues! Drüben Alles ruhig wie immer!« sprach der General in den Apparat. »Aber ich bin in Unruhe . . . Unsere Gräben füllen sich mit Schnee . . . Wie? . . . Beim Feinde auch . . .? . . . Ach so . . . Ja . . . wenn wir etwa anzugreifen gedenken . . .«
Er lachte tief und befriedigt, hängte ab und begrüßte mit Wangenküssen die beiden Gesinnungsgenossen.
»Nun, Ihr hier? . . . das deutet auf wichtige Dinge . . . solch seltener Besuch . . .«
»Sie werden heute noch einen anderen Besuch erhalten, Pawel Antonowitsch!«
»Schjelting!«
»Vortrefflich! Warum habt Ihr ihn nicht gleich mitgebracht?«
»Wir kommen lieber allein!«
»Und er auch!«
Korsakoff hatte, während er das sagte, die Brille abgenommen. Nun war der Glanz seiner blauen Augen noch unheimlicher. Unerbittlicher. Schiraj dachte sich, wie schon oft bei seinem Anblick: Gut, daß du Panslawist bist, Bruder! Sonst wärst Du Nihilist geworden, mit Deinem Fanatismus! Er schaute von dem Einen zum Andern.
»Ihr seid so seltsam . . . Was ist? . . .«
»Man kann es nicht hier sagen! Gehen wir hinaus!«
»Einen Augenblick!«
Der sibirische General erledigte noch einige Dienstbefehle. Als sie dann aus dem Dämmern in das Freie traten, hatte das Schneetreiben aufgehört. Die Luft war für einen Augenblick dieses Spätnachmittags hell. Sofort zwitscherte es oben in ihr von den huschenden, unsichtbaren Vögelchen. Schiraj hielt das schwere Schweigen seiner Freunde für Kanonenfieber.
»Es kann Euch nichts geschehen!« sagte er. »Sie sind mehr als eine halbe Werst von hier! Steckt nur nicht den Kopf über den Graben!«
Der Hofmeister lehnte mit einer Schulterbewegung ab.
»Nicht das! . . . Du glaubst, der Feind sei eine halbe Werst von Dir. Nein: Er ist hinter uns . . .«
Schiraj wandte unwillkürlich seine breitschulterige Pelzgestalt in jähem Schrecken nach rückwärts. Er dachte an die masurischen Seen.
»Schon wieder? . . . Chindenburg? . . .«
»Nicht Chindenburg! . . . Der Feind, von dem ich spreche, ist ein russischer, Bruder . . .«
». . . und heißt Nicolai Wassiljewitsch Schjelting!«
Über ihnen, hoch im Grau, zog ein durchdringendes Heulen, verlor sich. Dumpf trug die Winterluft den Knall des Abschusses hinterher, dann, wie ein Echo von irgendwo hinten, den Einschlag.
»Gleich fangen sie doch an . . .,« sagte der General vor sich hin. An der Front begann es zu plackern. Es tönte in unregelmäßigen Raumabständen und Zwischenzeiten von hüben und drüben: ›Peng‹, und wieder kurz und scharf: ›Peng‹, wie bei einer Treibjagd im Winter. Dann wandelte sich Schiraj wieder vom Militär zum Allrussen.
»Schjelting . . . sagt Ihr . . .?«
»Ja. Er.«
»Er ist doch Einer der Unseren . . .«
»Nicht mehr.«
»Jeder schenkte ihm doch sein Vertrauen . . . öffnete ihm sein Herz . . .«
»Das eben ist ja die Gefahr . . .«
»Wie denn Gefahr? . . .«
»Er weiß zu viel!« sprach Korsakoff zwischen den Zähnen.
»Viel zu viel . . .«
»Er hat unser Aller Freundschaft mißbraucht!«
Der General Schiraj schüttelte den Kopf.
»Traurig ist es! . . . Um mir das zu melden, seid Ihr gekommen? . . .«
»Um Schjeltings Ankunft zu melden . . .«
»Was machen Sie für ein Gesicht, Wladimir Timoféitsch?«
Korsakoffs hageres, von der Kälte bleiches und echt russisches Antlitz mit den vorstehenden Backenknochen, den weiten Nasenflügeln, dem wirren und dünnen, blonden Bart war leidend vor Entschlossenheit. Kränklich, unruhig, aber fanatisch starr. Er versetzte:
»Sie sagten eben selbst, daß es hier gefährlich ist. Mancher geht an die Front, aber er kehrt nicht zurück!«
»So ist es! Gott allein weiß das.«
»Zuweilen auch der sündige Mensch . . .«
»Ich verstehe nicht, Wassili Andreitsch!«
»Er meint,« sagte Korsakoff halblaut an Stelle des Hofmeisters, »Mancher bestimmt sich selbst sein Schicksal! Wer heißt Schjelting, sich hier heraus zu begeben? Er ist nicht dumm. Er weiß recht wohl, daß hier überall der Tod ist . . .«
»Aber nicht für ihn!. . . Ich werde ihn schon schützen . . .«
Morskoi sah sich um, ob Niemand in nächster Nähe sei, trat dicht an den General heran und murmelte ihm etwas ins Ohr. Der prallte zurück und bekreuzigte sich rasch zwei-, dreimal über der Brust, wo er, unter der Uniform, das Heiligenbild trug, das ihm seine Frau mitgegeben.
»Wie denn? . . . Wassili Andréitsch . . .«
Wieder ein paar geflüsterte Worte. Schiraj's gesundes und derbes Antlitz wurde bleich. Er streckte abwehrend die Hände aus.
»Laßt mich . . . Mit Gott: Geht!«
»Höre doch!«
»Ich hab's vergessen! Es ist genug gesprochen!«
Das schwärzliche Gewimmel der Krähen hob sich hundertfach von dem Schnee des Bodens und flatterte krächzend zu dem schützenden Geäst des Kiefernwaldes. Schiraj kannte die Flucht der Tiere vor dem, was sie für einen fürchterlichen, riesengroßen Vogel Greif hielten. Er schaute rasch zum Himmel. An dessen Nebelwölbung entstanden kurz hintereinander zarte, weiße Federwölkchen, bildeten ein unregelmäßiges, rasch heraufsteigendes Zickzack.
»Kaum ist die Luft rein, da ist er schon da . . .,« sagte er und musterte finster die surrende Libelle. Man mußte geübte Augen haben, um sie und das Kreuz auf ihren Tragflächen zu erkennen. Dann lächelte er grimmig. Er spürte die ersten neuen Schneeflocken im Gesicht. Immer mehr . . . ›Kehr' Du nur um, Du Verwegener da oben – sonst findest Du trotz roter und grüner Lichter nicht mehr Heimweg und Landungsplatz . . . aha . . . Er dreht ab . . . steigt . . . verschwindet . . . Aber gesehen hat er doch wieder genug . . .‹
»Nochmals . . .: Mit Gott . . .«
»Pawel Antonowitsch: Das Mütterchen Rußland will es!«
»Aber nicht von mir . . .«
»Gerade Sie wählte Gott . . .«
»Ich bin Soldat. Ich stehe im Feld . . .«
». . . gegen alle Feinde russischer Erde! Auch hinter uns steht das apokalyptische Tier . . .«
»Der Antichrist des Kleinmuts . . .«
»Des Verrats!«
»Schjelting weiß zu viel!«
»Viel zu viel!«
». . . weil er Gönner hat . . . bis hoch . . . hoch da oben . . . Hütet Euch . . . Schjelting ist gefährlich . . .«
»Gerade den Höchsten wurde er lästig . . .«
»Denen, die zu belohnen wissen, Pawel Antonowitsch . . .«
In der Ferne hämmerte es noch einmal kurz und wütend: Tak . . . tak . . . tak . . . tak . . . tak . . . Der deutsche Flieger mußte noch für einen Augenblick in die Sicht von Maschinengewehren gekommen sein. Dann wurde es wieder überall still. Der Schnee fiel eintönig herunter. Die Dämmerung kam. Der General Schiraj wandte sich ab.
»Gehen wir heim!« sagte er. »Hier ist nicht der Ort . . .«
Sie schritten wieder durch das endlose Grabengewirr des unterirdischen russischen Misthaufens, stiegen ins Abendlicht hinauf, wanderten im Gänsemarsch und, der Vorsicht halber, mit zwanzig Schritt Abstand, eine halbe Stunde lang finster und stumm durch den Schnee bis zu einem einsamen Bauernhaus. Da wohnte der General. Die Stube eines geflüchteten ostpreußischen Besitzers mit einem Bett, einem Gottesbild in der Ecke und einem Kartentisch genügte ihm. Er wusch sich zuweilen an der Pumpe draußen im Hof. Er setzte sich schwer und müde und sagte:
»Erzählt!«
»Da ist nicht viel zu erzählen, Pawel Antonowitsch! Die Deutschen haben Schjelting verhext!«
»Eine Deutsche!« sprach Korsakoff höhnisch. »In Wiesbaden. Man weiß es jetzt!«
»Nicht sie! Was gehen uns jetzt die Weiber an? Nein: die Deutschen – begreifen Sie wohl: alle Deutschen zusammen haben Schjelting verhext. Er war während ihrer Mobilmachung in Deutschland, entkam . . .«
»Ich weiß es . . .,« sagte der General. »Nun entsinn' ich mich: Schon damals, im September, erschien er mir verändert . . .«
»Er wurde tiefsinnig, zog sich auf seine Güter im Twer'schen zurück. Wir dachten: Bleibe Du da! Es geht auch ohne Dich! . . . Aber als nun um Weihnachten die gefährliche Schwenkung in unserem heiligen Rußland kam . . .«
»Ah . . . die Friedensfreunde . . . diese Westlichen . . .,« sprach Schiraj grollend.
». . . da taucht er plötzlich wieder auf . . . gesellt sich eben zu ihnen . . . entwickelt neue Thesen . . . verwirrt die Köpfe der Unwissenden . . . macht die Gutgesinnten irre . . . nun . . . Ihr kennt ja seine glänzende Art . . .«
». . . und was predigt er nun?«
»Deutschland ist anders, als wir dachten! . . . Verstehst Du wohl, Bruder! Nie werden wir es schlagen, ehe wir nicht selber anders werden! . . . Es sind dort Mächte, die uns fehlen . . .«
»Diese Mächte sollen wir in uns gewinnen. Ohne sie stürzen wir in den Abgrund. Bis wir sie besitzen, sollen Eure siegreichen Heere aus dem eroberten Feindesland zurück . . .«
»Ah . . .«
»Man wird sich vertragen . . . man wird Euch verabschieden . . .«
»Das erlaubt Gott nicht . . .«
»Erwägen Sie, wie gefährlich solch ein Mensch ist . . . Er hat viele Anhänger . . . er kennt alle Wege . . . bis hoch hinauf . . .«
»Wahrlich . . .«
»Er verrät Euren Eifer. Alle russischen Mühen. Ein deutscher Teufel wohnt in ihm . . .«
»Und doch kann man nicht wissen . . .,« sagte der General Schiraj langsam mit seiner tiefen Stimme.
». . . Was denn? . . .«
». . . wie es oben aussieht . . . ganz oben . . .«
»Unbesorgt!«
»Vielleicht ist er klüger als wir! Vielleicht weiß er besser, was man neuerdings hoch da oben beliebt!«
»Ich werde Ihnen zeigen, was man oben will!«
Morskoi zog ein Blatt Papier hervor und hielt es dem General im Halbdunkel vor die Augen. Der las die Unterschrift. Diesen Namen kannte er. Den kannte Jeder im Heere des Zaren. Unwillkürlich wurde seine Haltung straff und dienstlich, und er sagte dumpf, als wäre Jener selber anwesend:
»Ich höre . . .«
Es war schon gegen Mitternacht, als der Staatsrat Morskoi weit hinter der Front auf dem verschneiten Marktplatz des ostpreußischen Städtchens stand, in dem die hohen Stäbe der vorne kämpfenden russischen Armee lagen. Im Schein der elektrischen Straßenlaternen ragten rechts und links die Giebel und Brandmauern rauchgeschwärzter Ruinen. Das eingeäscherte Landratsgebäude. Das zerstörte Postamt. Ein zuckerhutartiger Kirchturmstumpf in dunkler Nacht. Granatenlöcher in den oberen Stockwerken von Häusern, in deren Erdgeschoß noch Menschen wohnten und Kaufmannswaren hinter den Schaufenstern feilhielten. Dazwischen unversehrte Straßenzeilen mit lichthellen Scheiben. Geschrei und Gelächter, Klaviergeklimper und Geigenspiel. Gesang von russischen Zigeunerinnen aus einem Hinterzimmer des Gasthauses.
An den Fenstern daneben waren die Läden geschlossen. Aber man sah durch die Spalten russische Offiziere um einen Tisch. Alte und junge. Alle ernst und gespannt. Auf dem Tisch die Spielkarten. Der Hofmeister runzelte die Stirne. Er stieg die Treppe hinauf und dachte sich: ›Nun – man hat den Schnaps verboten! Man kann nicht alle Laster unterdrücken‹. Oben öffnete er die Türe zu einem Vorraum und schlug dem Soldaten, der ihn im Halbdunkel daran hindern wollte, mit der Faust ins Gesicht.
»Pascholl, Du Hundesohn! . . . Siehst Du versoffenes Viehstück nicht, daß Du einen vornehmen Herrn vor Dir hast?«
»Ich bin schuldig, Euer Hochwohlgeborenl«
Der Staatsrat Morskoi trat ein. Innen in dem Zimmer brauten dicke Papyrossenwolken über den Teegläsern und Sektkelchen. Russische Stimmen lärmten erregt durcheinander. Erhitzte slawische Gesichter. Ein Gedräng von Gestalten in Uniform und Zivil um einen Einzigen in der Ecke herum.
»Du kommst gerade zurecht!« sagte mit der trockenen Skepsis eines alten Parisers der kleine, hagere, selbst hier im Felde stutzerhaft gekleidete Fürst Bulagin und zog die rechte Schulter noch höher, als sie von Natur schon war. »Sie haben diesen Schjelting, diesen Fuchs, in die Enge getrieben! . . . Il ne faut jurer de rien . . . ich glaube doch sonst an nichts, aber an ihn hätte ich geglaubt!«
Nicolai von Schjelting stand, die Hände in den Taschen, vor dem schreienden Halbkreis, an die Tischkante gelehnt. Er war sehr bleich, mit tiefliegenden Augen. Aber er sprach gelassen wie sonst und hielt dabei die Zigarette schief zwischen den Zähnen.
»Wer wir sind, braucht man mir nicht zu sagen. Wie sollte ich es nicht wissen? Aber wer Jene sind, das wißt Ihr nicht!«
»Wilhelms Windhunde sind es!« brüllte ein riesiger Gardeoberst. »Man wird sie schon verjagen!«
»Ich aber weiß es! Denn ich war unter ihnen, als dies Volk aufstand! Man trieb es nicht – begreift es nur – wie wir die Muschiks in die Viehwagen treiben. Es kam von selbst . . .«
»Das verstehe ich nun schon gar nicht . . .,« brummte ein dicker, brutaler Petersburger Flügeladjutant neben ihm in den Bart.
»Es war da ein Geist . . . überall war er . . . comme le Saint-Esprit . . .«
»Lästere nicht!« grollte es dumpf hinter ihm.
»Wir hatten ihn nicht erkannt! Ihn können wir nicht schlagen . . .«
»Er ist übergeschnappt!« sagte Bulagin seelenruhig zu Morskoi.
»Ich fürchte es schon seit Wochen, Knjäs!«
». . . und darum sollten wir es zügeln, unser feuriges, russisches Dreigespann, ehe wir am Abgrund sind!«
»Er hält es mit Witte!«
»Mit Witte! Mit Witte!«
Viele Stimmen riefen den verhaßten Namen. Schjelting zuckte die Achseln.
»Beliebt zu antworten: Ist Graf Witte Einer der Übelwollenden oder ist er durch die Gnade des Gossudar Senator und . . .«
»Pah . . . Senator . . .« Die Anderen lachten. Man wußte: der einst Allmächtige war in Ungnade.
»Wann ward es verboten, mit ihm zu sprechen?«
»Das tatst Du also?«
»Ich trat in Konversationen mit ihm ein,« sagte Schjelting kaltblütig. Ein neuer Aufschrei folgte seinen Worten.
»Witte will den Frieden mit Deutschland!«
»Ich auch!«
»Aha . . . da hat man Dich!«
»Wie ist es denn mit Eurer Zusammenkunft in Wilna, nächsten Monat . . ? Ja, leugnen Sie nur, Nicolai Wassiljewitsch . . . Wir wissen Alles!«
»Wie sollte ich es leugnen! Wir werden uns in Wilna versammeln! Wir wollen Rußland retten . . .«
». . . indem Ihr es verratet . . .«
»Witte verwirrt die breite russische Seele . . .«
»Aber nicht mehr lange . . .,« sagte eine tiefe Stimme. Man wußte nicht, woher sie kam. Man drehte sich um. Keiner gab sich den Anschein, als habe er gesprochen. Nur ein Nachhall blieb – eine Erinnerung . . . das Bild einer Petersburger Liste, die den Eingeweihten hier von Augenschein vertraut war. Eine lange Reihe von Namen. Und hinter vielen Verdächtigen ein Kreuz: das Todesurteil, von unbekannter Hand . . .
». . . In der Tat . . . Nichts wird Rußland auf seinem Siegeszug hemmen!« sagte nach langer Pause der Hofmeister Morskoi. Ein schweres Schweigen antwortete ihm. Es war die Stille der Zustimmung. Schjelting war jetzt ganz fahl geworden. Er nahm die Papyros aus den Lippen, um lauter zu reden.
»Tun wir es aus Liebe zu Deutschland? Wahrlich nicht! Wir hassen es!«
Morskoi sah ihn rasch und zweifelnd an und dachte sich: Solltest Du doch noch am Leben bleiben, Bruder?
»Ich bin klüger, als die Meisten unter Euch!« sagte Schjelting hochmütig. »Ich sehe sechs Monate weiter! Schreit nur! Ich weiß es. Deutschland ist unser Feind. Aber wir haben einen Schlimmeren!«
»Wo? . . . Wo?«
»Soll ich ihn Euch nennen? Aber erschreckt nicht . . .«
Die Türe ging auf. Baumlang, in Khaki, mit frischem Lächeln um die blendend weißen Zähne, glattrasiert, guter Dinge stand da der britische Major der Coldstream-Garde, den Schjelting vom April her aus Paris kannte. Hinter ihm her schlüpfte wie der Mephisto hinter seinem Herrn ein gelbliches, steinern grinsendes Männlein in Feldgelb, der Japaner.
Der Lord drückte den Russen die Hand, daß ihnen die Finger krachten. Er strahlte von aufmunterndem Freimut.
»Gute Nachrichten!« sagte er herzlich. »Die Hungersnot in Deutschland wächst! Ernstliche Unruhen in Berlin!«
»Ah . . . ah . . .«
»Die deutsche Flotte entscheidend geschlagen. Helgoland vor dem Fall!«
»Gott hilft!«
»Ernstliche Anzeichen deuten auf die Räumung Belgiens . . .«
»Es ist nicht wahr . . .« sagte Schjelting. »Ich müßte es doch wissen, als Mann einer Belgierin . . .«
»Still . . .«
»Es ist Alles nicht wahr! Ihr meint, die Deutschen hätten mich verhext. Nein – die da verzaubern die ganze Welt . . .«
Er wies auf den Briten, der ihn freundlich anlächelte, weil er sein Russisch nicht verstand.
»Nicolai Wassiljewitsch . . . dort ist Gott und die Türe . . . Fort mit Ihnen!«
»Es sind Lügner. Sie Alle. Sie belügen Gott im Himmel und die Menschen auf Erden. Sie belügen auch Euch und unser heiliges Rußland . . .«
»Geh . . .«
»Hört mich, Brüder . . .«
»Man will Dich nicht hören . . . fort . . .«
»Was will der Gentleman?« frug der Brite und rieb sich lächelnd die vor Kälte starren Hände. Der Hofmeister Morskoi suchte sein Englisch zusammen. Er folgte mit starrem Blick der Gestalt Schjeltings.
»Nichts von Bedeutung, Eure Lordschaft. Unser Landsmann erkennt selber, daß er hier zu viel ist. Draußen reichen ihm schon die Soldaten den Pelz.«
Nicolai von Schjelting trat vor den Gasthof. In der Nacht hielt da ein Schlitten. Ein Unteroffizier mit hoher sibirischer Kegelmütze stand daneben und grüßte.
»Schickt Dich der General Schiraj?«
»Der General Schiraj, Euer Hochwohlgeboren!«
»Dann setze Dich neben den Fuhrmann und sage ihm Bescheid!«
Der Schlitten fuhr in das sternenlose Dunkel der Winternacht hinaus. Die letzten Haustrümmer blieben zurück. Baumstümpfe und aufrechte Ulmen säumten die zerfahrene Straße. In schwarzer Ferne flackerten ein paar purpurne Irrlichter, blähten sich auf, duckten sich, spielten und blieben doch auf einer Stelle . . .
»Unteroffizier . . . brennen dort Dörfer?«
»Dörfer, Euer Hochwohlgeboren!«
»So geht Ihr zurück, weil Ihr sie anzündet?«
»Man sagt, es sei eine List, Euer Hochwohlgeboren! Wir würden nächstens angreifen!«
Um sie herum lebte die Chaussee. Ein brauner Heerwurm kroch auf ihr hin, stumm, stumpf und dumpf. Kein lautes Wort fiel zwischen den starrenden Gewehren. Es war, als hätte sich die russische Erde selbst auf die Wanderschaft begeben und riesele da in Gestalt von tausenden und tausenden von lehmfarbenen Menschenbrocken durch die Nacht. Es nahm kein Ende. Schjelting dachte sich, in seine Decken gewickelt: Seit Stunden fahre ich an der Infanterie vorbei. Wie viele mögen es sein? Zehntausend? Fünfzigtausend? Wer kann es wissen? Wer kennt Rußlands Größe? Und doch . . . und doch . . .
Er fröstelte. Der Schein der Schlittenlichter fiel auf Reihen von rollenden Kesseln und Schornsteinen. Struppige Ponys vor den Feldküchen. Dann Wagen . . . zwölf . . . hundert . . . fünfhundert hintereinander . . . man konnte sie nicht mehr zählen . . . Es knarrte und ächzte durch das Dunkel. Es schien, als würden sie von angespannten Rauchwolken gezogen, so dampften die Pferde in der eisigen Nacht. Man hörte ihr Keuchen. Niemand sprach . . .
»Was ist das, Unteroffizier?«
»Munitions-Kolonnen, Euer Hochwohlgeboren!«
Und immer weiter dies sonderbare Wandern der Schatten, dies geheimnisvolle Stampfen und Waten und Murmeln der Nacht, dies Vorübergleiten von Umrissen, die der Tag nicht kannte, diese Kälte, die immer schneidender durch die Hüllen drang und die die da draußen nicht zu spüren schienen. Es war etwas Seelenloses und Körperloses in ihrem unbestimmten Geisterzug nach vorn, etwas von einer blinden Naturgewalt, als flögen Wolken am Himmel dahin, lösten sich beim Morgengrauen, schwänden. Und jener einsame Offizier da am Grabenrand würde im Tageslicht zum Weidenstumpf und jene Massen von Menschen dort auf dem Feld zum Binsenröhricht und diese Reitergruppe mit dem Blinken der elektrischen Laterne auf der Generalstabskarte zu einem Granitblock am Weg.
Unheimlich war das . . . Besser der Tag als die Nacht. Aber der Unteroffizier auf dem Bock drehte sich um und sagte:
»Die Nacht ist gut! Niemand schießt. Man kommt leicht nach vorn . . .«
Und Schjelting dachte sich: ›Wer bist Du eigentlich da oben, der meine Gedanken errät? . . . Du hast so eine sonderbare Stimme . . .‹
Der Schlitten hielt an. Denn nun kam ihm auch von links ein Zug von Planwagen entgegen. Sie fuhren ganz langsam. Ihre Laternen schaukelten.
»Was ist in den Karren, Unteroffizier?«
»Verwundete, Euer Hochwohlgeboren!«
Hundert Karren . . . zweihundert . . . dreihundert . . . Schjelting sagte sich: Still seid Ihr da drinnen . . . seltsam still . . .
Weiter . . . weiter . . . Im Lichtstreifen der Laterne Grabkreuze auf den Feldern. Immer mehr und mehr. Rehwild huschte zwischen den verwitterten Pickelhauben, den vergilbten Tannenkränzen auf den Russengräbern. Jetzt ganze Reihen da, wo man die Gefallenen früherer Kämpfe in zugeschütteten Schützengräben beerdigt hatte. Die ganze Leere umher schien auf einmal ein weiter Kirchhof. Die Straße war öde geworden. Nur ein Licht. Ein Leiterwagen wankte heran. Vorn, auf dem Stroh, ein Pope und eine Frauengestalt. Dahinter ein Sarg. Auf ihm ein Säbel und eine russische Generalsmütze. Vorbei. Der Schlitten schwenkte plötzlich wie erschrocken von der Hauptstraße ab und glitt seitwärts auf einen schmalen Weg in den Tannenwald hinein. Nun war es stockdunkel. Kein Laut umher. Dann ein Ruck. Ein Halt.
»Belieben Sie, die Leiter hinunterzusteigen!«
Eine Luke in dem beschneiten Boden öffnete sich. Ein vorsündflutliches Ungetüm wohnte in dem unterirdischen, elektrisch beleuchteten Raum. Ein Riesenmörser mit seiner dreifachen Auswölbung und seinen Schaufelrädern, das glotzende Maul steil aus seinem Versteck nach der Decke von verschneiten Fichtenzweigen gerichtet, die den Lindwurm vor Feindesaugen schützte und zurückgeschoben wurde, wenn er den Inhalt der halbmannslangen Geschoßkörbe neben ihm brüllend über die Wipfel des Tannenwalds in den Himmel hinaufspie. Ein Offizier saß auf einem Schemel, an die Lafette angelehnt. Schjelting hielt ihn für den General Schiraj und trat auf ihn zu.
Aber das Gesicht, das sich langsam nach ihm wandte, kannte er nicht. Es hatte den länglichen Schnitt der Ukräne, war abgezehrt bis auf die Knochen, mit in den Höhlen eingesunkenen Augen. Schjelting dachte sich: ›Der sieht ja aus wie der Tod!‹ Er reichte dem bleichen, unbekannten Offizier die Hand. Die des Anderen war kalt und bleiern.
»Der General Schiraj erwartet Sie vorne in der Stellung . . .«
Der Offizier sagte es dumpf und teilnahmlos.
»Ist es weit bis dahin?«
»Sie sind hier dicht hinter der Front. Eine halbe Stunde zu Fuß.«
»Kann ich nicht fahren?«
»Man wird Sie umwerfen! Es sind überall frische Granatlöcher im Schnee. Man muß den Fußstapfen dazwischen folgen.«
»Und wie kommt man bei Tag zurück? Bald graut der Morgen . . .«
»Zurück? Nun . . . irgendwie . . . macht nichts . . .«
Der Artillerie-Offizier sagte es mit tiefer Gleichgiltigkeit und schaute, den Rücken an die eine Auswulstung des Mörserschlunds gelehnt, geistesabwesend vor sich hin. Schjelting fröstelte.
»Man kann dabei fallen . . .«
»Man fällt . . . man lebt . . . einerlei . . .«
». . . wie denn einerlei? . . . Nun ja . . . wenn man nur siegt . . .«
»Man siegt . . . man siegt nicht . . . Gott allein weiß es . . .«
Schjelting dachte sich: ›Nun, Du Bruder mit dem Totenkopf . . . hast Du Furcht . . .?‹ Da sah er auf dessen Brust das Georgskreuz, die Auszeichnung für Tapferkeit.
»Wie lange sind Sie im Felde? . . .«
»Seit Mitte Juli alten Stils!« sagte der fahle Artillerist und blickte stumpf nach dem stählernen Götzen neben ihm, der, einem kleinen Elefanten an Größe nah, fast bis an die Decke aus beschneitem Tannenreisig reichte. »Wir haben viel zusammen durchgemacht . . . der Spitzbube da und ich . . .« Er horchte jäh mit seinem gespannten Geistergesicht in die Nacht und machte dann eine matte Handbewegung. »Noch ist es ja dunkel . . . ich höre immer die Flieger brummen . . . Macht nichts . . .«
Und Schjelting sagte sich: . . . ‹ ›Der Krieg . . ! In Petersburg . . . in den Salons meiner Freundinnen . . . hatten wir ihn seit Jahren auf den Lippen . . . c'est ma guerre . . . der Krieg: . . . Das war der Einzug in Berlin . . . Mütterchen Moskau in Fahnenpracht . . . Glockenklang von der Isaak-Kathedrale . . . Das waren Orden . . . Gelder . . . Exzellenzentitel . . . Nun ist dies hier der Krieg . . . dieses unbestimmte Schwarz . . . diese Grabkreuze . . . diese weite Leere . . . diese furchtbare, erwartungsvolle Stille wie vor etwas Ungeheurem . . . dieser Mann da mit den niedergebrochenen Nerven . . .‹ Er mußte sich zusammennehmen, um einen Schauer zu unterdrücken.
»Nun denn . . . ich gehe . . .«
Der Unteroffizier schritt im Finstern voraus, schwer, bärtig, im Pelz, aufrecht wie ein Bär durch den Schnee. Schjelting folgte ihm. Er sagte sich: Wir führen Rußland nicht mehr! Ich folge diesem Stück russischer Erde da vor mir, die wir aufstehen und wandeln hießen, – folge ihr in das dunkle Land vor mir hinein . . .
Ein Aufstöhnen des Winterwinds. Er hielt die Pelzärmel schützend vor Mund und Nase. Ihm wurde beinahe übel. Das war wieder der belgische Geruch . . .
»Unteroffizier . . . liegen hier irgendwo Leichen?«
»Überall, Euer Hochwohlgeboren!«
»Warum bergt Ihr sie nicht?«
»Man findet sie nicht im Wald und Schnee, Euer Hochwohlgeboren . . .«
In der Ferne, über den deutschen Stellungen, stieg eine Rakete auf. Eine märchenhafte, zauberweiße Lichtkugel stand am Himmel, erhellte mild die ganze Gegend . . .
»Unteroffizier . . . halt . . . halt . . .«
»Was denn, Euer Hochwohlgeboren?«
»Der Hochwald da neben uns ist ja voll Menschen . . . da . . . sie sitzen um das Loch im Schnee . . . ein Hauptmann vorne . . .«
»Die Unsern, Euer Hochwohlgeboren!«
»Erfrieren die denn nicht?«
»Wie sollten sie frieren? Sie sind doch alle tot. Die Granate . . . Man wird sie morgen holen . . .«
Ah . . . c'est ma guerre . . . Schjelting dachte sich: Dein Leben war dieser Nachtwanderung durch den Schnee geweiht. Durch ganz Europa bist Du gefahren, in allen Zungen hast du gesprochen, an Menschen aller Art hast Du Rubel verteilt. Du kauftest die Seelen, die Druckerschwärze und die Telegrafendrähte . . . prägtest, was da kommen sollte, in Formeln und Methoden. Gut . . . Aber wer findet sie jetzt wieder, die große Rechenmaschine – wer bedient sie in dieser furchtbaren, bleiernen Nacht über Europa?
Er blieb stehen. Durch das Dunkel kam ein Laut, der ihm die Haare sträuben machte. Nicht von Menschenstimmen . . .
»Unteroffizier . . . Was ist das? . . . Nie vernahm ich es . . .«
»Der Schrei eines sterbenden Pferds, Euer Hochwohlgeboren!«
Der Riese im Pelz vor ihm ging weiter, bückte sich plötzlich an einer dunkleren Stelle des Bodens, bekreuzigte sich, las etwas auf und legte es vorsichtig zur Seite. Es war ein abgerissener Menschenarm . . .
»Unteroffizier . . .«
»Vorwärts, Euer Hochwohlgeboren! Es wird schon hell!«
»Unteroffizier . . . ich will lieber umkehren . . .«
»Nein, Euer Hochwohlgeboren . . .«
»Wie denn . . .«
»Man befahl mir, Euer Hochwohlgeboren nach vorn zu bringen . . .«
»Doch nicht mit Gewalt . . .«
»Man befahl mir, Euer Hochwohlgeboren!«
Im ersten Morgengrauen stand der bärtige, finstere Riese vor ihm wie das heilige Rußland selber. An Stelle der Axt, die er sonst als Waldarbeiter im weißen, heimischen Birkensumpf über dem roten Hemd getragen, hatte er jetzt das vollgeladene Magazingewehr über den Pelz gehängt. Er sah düster und drohend aus. Schjelting dachte sich: Wenn ich umdrehe, ist er im Stande und schickt mir, dem Zivilisten, den er vor den General führen soll, aus mißverstandenem Diensteifer eine Kugel nach. Auf einmal begriff er, daß er in Lebensgefahr war – nach hinten sowohl, wo der Tag aufstieg, wie nach vorne, wo der Deutsche war. Er spürte kalten Schweiß unter dem Rand seiner Pelzmütze. Er merkte, daß seine Nerven ihn verließen. Er hatte keinen Willen mehr. Er tat, was dieser Bauer in Feldbraun von ihm wollte. Er ging weiter und sagte sich: Die Welt verkehrt sich. Ich dachte, den Muschik gegen den Feind zu schicken. Statt dessen führt der Muschik jetzt mich an die Front . . .
Man sah nun schon weithin die verschneite, leichtgewellte Ebene. Sie lag völlig tot und leer. Eine ausgestorbene Öde wie die Tundren Sibiriens. Ein paar Krähen das Einzige, was sich regte. Ihr Krächzen der einzige Laut. Schjelting dachte sich: dabei hausen da, soweit das Auge reicht, tausende und zehntausende menschliche Maulwürfe in ihren unterirdischen Gängen, huschen geschäftig hin und her, graben, wühlen, scharren sich immer tiefer gegeneinander ein . . . leben in Löchern . . . das leise Rauchgekräusel aus den gemauerten Kaminen ihrer Unterstände allein verrät das Dasein der Höhlenbewohner . . .
»Heute sind sie ganz still . . . die Deutschen . . .,« sagte der Unteroffizier in seinem rauhen Brummbaß durch das Todesschweigen.
»Werden sie nicht noch schießen?«
»Warum schießen? Es ist Winter. Sie schlafen. Wie wir . . .«
Sie gingen durch den Schlammpfuhl des russischen Labyrinths von Schützengräben, immer weiter im Zickzack, ganz nach vorn. Der Tag wollte nicht recht kommen. Nebelschwaden strichen wieder über die unterirdische Stadt hin und hüllten sie in zähes Grau.
»Wo ist der General?«
»Bald, Euer Hochwohlgeboren!«
Schjelting biß die Zähne zusammen. Er dachte sich: Was ist das Alles? Wohin geh' ich? . . . Hier hat nun doch die Welt ein Ende . . . Da, wo der Sanitätssoldat mit dem Genfer Kreuz am Pelzärmel im Schutz des äußersten Grabens steht . . . Was hast Du mich an der Schulter zu fassen? . . . Packe Dich, Kerl . . .
Er sah zwei fanatische blaue Augen auf sich gerichtet und erkannte im Nebel den Professor Korsakoff. Der zog ihn zwei Schritte zur Seite.
»Sie suchen Schiraj, Nicolai Wassiljewitsch?«
»Ja. Ihn.«
»Sie wollen auch ihn für Eure Wilnaer Pläne gewinnen?«
»Jeden, der noch in letzter Stunde auf mich hört!«
»Kehren Sie um, Nicolai Wassiljewitsch . . .«
»Wie?«
»Man wird Sie geleiten! . . . Gehen Sie auf Ihre Güter! Warten Sie dort innen in Rußland den Gang der Dinge ab!«
Über Schjelting kam der Zorn. Er richtete sich in seinem früheren Hochmut auf.
»Habt Ihr ein Recht, mich zu verschicken – he?«
»Man warnt Sie! . . . Sie sind uns hier im Wege . . .«
»Euch frage ich nicht! Wo ist der General?«
»Sie wollen trotzdem zu ihm?«
»Ja!«
»Nun denn, mit Gott! Ich begleite Sie!« sagte Korsakoff ruhig. »Kommen Sie! Wir steigen hier herauf . . .!«
»Wie das? Vor den Schützengraben . . .?«
»Man sieht ja nicht zehn Fuß weit im Nebel! Wie sollte der Feind uns bemerken! Vorwärts . . .«
»Belieben Euer Hochwohlgeboren gut Acht zu geben. Der Weg durch den Drahtverhau ist eng . . .«
Der riesenhafte Unteroffizier stapfte voraus. Es ging quer wie durch einen schmalen, tief verschneiten Weinberg, dessen Pfähle kahl aus dem Schnee ragten. Schnee hing auch an den Drähten, die sie kreuz und quer verbanden. Dies seltsame, verstrickte Band verlor sich zu beiden Seiten ins Wesenlose des Nebels. Unwillkürlich dachte sich Schjelting: Es reicht vom Njemen bis zu den Karpathen. Es spannt sich von der Schweiz bis zur Nordsee. Nie sah die Welt etwas Ähnliches . . . Und dann ein Schrecken in ihm: Was tue ich außerhalb von ihm . . . da draußen . . . im unbetretenen Land . . . im schweigenden Reich des Todes zwischen Freund und Feind . . ?
Und ist da der Platz für einen General . . .?
Sie waren einen Abhang hinabgestiegen. Hinter ihnen, auf der Höhe des Kammes, zeichnete sich noch unbestimmt der Rand des Schützengrabens ab. Ein paar Pelzzipfel von hohen Mützen bewegten sich unruhig dahinter, als lauerten da Wölfe. Vor ihnen endete die Böschung jäh, in einem senkrecht an der Rückwand einer verlassenen Kiesgrube zehn Fuß tief abstürzenden toten Winkel. Schjelting stand allein mit dem Panslawisten und dem bewaffneten, finsteren Muschik hart an dem Abgrund in dem dicken, totenstillen Nebel. Es schien ihm, als seien die drei die letzten Menschen auf der vom Krieg in Nichts verwandelten Welt. Seine Stimme war plötzlich heiser vor Schrecken.
»Wo ist Schiraj?«
»Geduld! Blicken Sie nach vorn, Euer Hochwohlgeboren! . . .«
»Er kann doch nicht vom Feind her kommen . . .«
»Er ist überall . . .«
Schjelting hob das verzerrte Gesicht.
»Ich höre seine Stimme ganz deutlich da hinten . . . im Schützengraben . . .«
»Sie täuschen sich, Nicolai Wassiljewitsch . . .«
»Und Morskois Baß! . . . Wie kommt er hierher?«
»Er ist es nicht . . .«
»Er muß im Automobil an mir vorbeigefahren sein . . . laßt mich zurück . . .«
»Still . . . Erbarmen Sie sich . . . der Feind hört uns ja . . .«
»Zurück . . .«
»Beruhigen sich Euer Hochwohlgeboren . . .«
»Warum machst Du Dich schußfertig . . . um Gotteswillen . . .?«
»Um den General zu schützen! . . . Da kommt er ja auf uns zu . . .«
»Wo denn . . . wo?«
»Da vor uns . . . vom Feinde her . . . Er ist ein Falke . . . Ihm tun die Kugeln nichts . . .«
»Ich kann ihn nicht sehen . . .«
»Der Nebel ist zu dicht . . . Beugen sich Euer Hochwohlgeboren nur noch etwas mehr vor . . .«
»Da ist kein General . . . Ihr lügt . . .«
Nicolai von Schjelting wollte sich umwenden. Vor sich sah er Korsakoffs entschlossenes und beinahe leidendes Fanatikergesicht. Ein jäher, schlenkernder Handwink des Panslawisten zu dem Unteroffizier hin, so, als scheuche er eine Fliege:
»Nun, Bruder: Mit Gott!«
In den Schützengräben hinten drehten sich einen Augenblick horchend bärtige Köpfe. Das kurze, scharfe ›Peng‹ vor dem Drahtverhau war der erste Schuß dieses Morgens. Die Posten auf dem Auftritt spähten durch den Spalt der Schutzschilder:
»Wer schießt denn da vorn?«
»Kommen die Deutschen?«
»Nein. Es ist nichts!«
»Es ist ja alles dick voll Nebel, Brüder . . .«
»Noch ist Nebel. Aber er löst sich. Bald haben wir hellen Tag.«
Das Licht kam. Ein grauer Winterhimmel wölbte sich über der Welt. Nicolai von Schjelting schaute noch einmal zu ihm auf, allein lang hingestreckt am Fuß des Kieshangs, wo ihn Niemand sah, einsam im leeren Todesland zwischen den beiden Linien, und das war seine letzte Erkenntnis: Der Krieg . . . mein Krieg . . . ich habe ihn gerufen . . . da ist er . . . geht über mich hinweg . . . und all das hinter mir . . .
Im russischen Schützengraben, vierzig, fünfzig Schritte entfernt, raunte es: Er glaubte, den Baß Schirajs zu unterscheiden, die Stimmen der Anderen, während seine Augen sich in dem fahlen Nichts über ihm erlöschend verloren. Durch diese Leere senkte sich ein pfeilschnelles Heulen wie ein Raubvogel auf die Russenschanze dahinten, krallte sich ein, schleuderte mit einem Donnerschlag Schnee, Erde, Gasqualm, Bretter, Draht und Menschen kirchturmhoch in die Luft, spielte da oben mit dem Kopf des Generals Schiraj, mit dem Rumpf des Hofmeisters, den Gliedern des Unteroffiziers, den Fetzen des Panslawisten und hüllte vergrollend den Greuel in schmutzigen Rauch. Aber schon raste der nächste der stählernen Stoßvögel heran. Schwärme von ihnen schwirrten unsichtbar aus unbekannter deutscher Ferne. Es waren die Donner des jüngsten Gerichts, unter denen an diesem Februarmorgen Nicolai von Schjelting beim Beginn der Winterschlacht von Masuren in das Nichts hinüberging, ungeheure Leiterwagen rasselten am Himmel, Walfische durchzischten das Luftmeer, Riesen gurgelten sich und wieherten in den Wolken, Schiffssirenen heulten, Gassenjungen pfiffen schrill durch die Finger, Teufel johlten, Zyklopen hämmerten in wildem Takt auf dröhnendem Ambos und drüben, in den Russenlinien, verwandelte sich jäh das Toben des unsichtbaren wütenden Heers in aufspritzenden weißen Schnee und auffliegenden schwarzen Qualm und aufschießende rote Feuerzungen und stille feldbraune Hügel von Menschen, in einstürzende Erdhöhlen, klaffende Krater, betrunken umkippende Mammuth-Kanonen, sich langsam verneigende Kirchtürme, in der Luft tanzende Bäume, rasch, wie beim Untergang von Pompeji, zu Steinbrüchen sich wandelnde Städtchen.
Tagelang und tageweit, von Lasdehnen bis hinter Lyck, donnerte die Winterschlacht. Schjelting hörte es nicht mehr. Er hörte nicht mehr das Hurrah, mit dem sie Alle durch den Schnee herankamen, die er in Nord und Süd in Deutschland geschaut, grau, unermeßlich, unaufhaltsam anschwellend wie das graue Meer zur Stunde der Flut, und über ihn und den Schanzenbrei dahinter wegwogten, gen Osten, den Russen nach.
Dann, viel später, sagte eine Stimme:
»Die Kiesgrube da kommt uns gerade zu paß! Da liegt ohnedies schon Einer drin!«
Es waren deutsche Landsturm-Männer. Sie hatten ihre Gewehre in Pyramiden gestellt und die Pfeifen im Bart. Sie trugen die steifgefrorenen toten Russen aus den Schützengräben und senkten sie auf den Grund des Abhangs, auf dem Schjelting lag. Die Muschiks kamen zu ihm herab und leisteten ihm, der sie in den Krieg geführt, im Tode Gesellschaft. Einer nach dem andern legte sich auf ihn. Sie bedeckten ihn, türmten sich über ihn mit ihren feierlichen und starren, groben Gesichtern. Die menschgewordene und wieder erstorbene breite russische Erde wurde sein Grab. Die Unzähligen machten auch ihn zur Zahl. Die Namenlosen löschten seinen Namen, schieden ihn aus der Erinnerung aus, als einen Verschollenen, von dem Niemand wußte, wo und wie er sein Ende gefunden.
». . . 'Morgen, Leute!«
»Guten Morgen, Exzellenz!«
Der weißhaarige, blitzäugige Preußengeneral, der, die Zigarre im Mund, die Autobrille über dem Mützenrand, die Hände in den Manteltaschen, von der Chaussee her mit seinem Stab über das Feld kam, war sehr guter Dinge. In seinem Abschnitt hatte die Geschichte geklappt. Überall. Fern, gegen Süden hin, tönten noch in langen Abständen die letzten Donnerschläge des verhallenden Wintergewitters.
»Ach, hören Sie 'mal, lieber Isebrink . . .«
»Exzellenz . . .«
Der Generalstabs-Major Isebrink trat, die Rechte an dem Helm, an den Kommandierenden heran.
»Haben Sie die Tagebücher bei sich, die man da oben in dem Mörsertrichter bei dem russischen General ohne Kopf gefunden hat?«
»Jawohl, Exzellenz!«
»Das Zeug scheint mir doch sehr wichtig. Namentlich auch in politischer Hinsicht. Am besten ist es, Sie fahren 'mal selbst rasch zurück und bringen es dem A. O. K. In ein paar Stunden sind Sie ja wieder da!«
»Zu Befehl, Exzellenz!«
Der Major Isebrink jagte in offenem, feldgrauen Rennwagen gegen Westen. Leichtverwundete Offiziere fuhren, soviel Platz war, dichtgedrängt mit verbundenen Köpfen und Armen mit. Der Chauffeur vorn in seinem langen Mantel von chinesischem Ziegenhaar blies auf dem Horn unaufhörlich das Oberkommando-Signal: Straße frei. Nur so kam man rechts den nicht endenden Kolonnen entgegen, links an dem ebenso endlosen Strom der Gefangenen vorbei. Stund' um Stunde, über Hügel und Täler floß die fahlbraune, pelzmützige Flut. Sie wanderte auf allen Wegen, soweit nur rechts und links das Auge reichte. Fern am Horizont noch spann sich, in unwahrscheinlicher Länge, der entwaffnete russische Heerwurm. Die Wälder lebten und entsandten aus ihrem Dickicht tausendköpfige, hohläugige, von fern schon die Hände hochhaltende Herden brauner Hungerleider. Armeestäbe stiegen unvermutet aus den Sümpfen und kamen, die Säbel in der Hand, heran, die Einen düster den Blick am Boden, die Andern froh lachend und schwatzend. Batterienweise standen mit zerschmetterten Schutzschilden und verbeulten Lafetten die genommenen Geschütze am Weg. Nahe der Stadt wurde das Gewimmel der Gefangenen zu einem braunen Meer. Die Offiziere fuhren fast als die einzigen Deutschen durch diese Tausende von struppigen Köpfen und Kerlen, von denen Keiner an Widerstand dachte. Nur ein stilles Gewinsel:
»Bissele Brot . . . bissele Brot . . .«
»Maul halten! Pratzen weg . . .«
Am Weg stand eine von den Russen in die Luft gesprengte Kirche. Aufgebrochene Särge davor, deren sterblichen Inhalt sie in den Teich des sinnlos eingeäscherten Dorfs geworfen hatten. Ostpreußischer Landsturm zog vorbei, sah die Greuel der Kosacken. Frisch und grimmig klang sein Gesang:
»Oh Hindenburg, oh Hindenburg,
wie schön sind Deine Hiebe . . .«
und ferne noch, in der Eile des Marsches hinter dem Sieg her:
»Dein Lorbeer grünt zu jeder Zeit,
im Winter auch, wenn's friert und schneit . . .«
In der Stadt hingen zwischen zerschossenen Häusern und verkohltem Gebälk die schwarz-weiß-roten und die schwarzweißen Siegesfahnen. Von allen Türmen läuteten die Glocken die letzte Befreiung Ostpreußens ein. Der Quartiermeister mußte lauter als gewöhnlich sprechen, während er die russischen Schriftstücke in Empfang nahm.
»Danke sehr! Sonst noch Etwas?«
»Nein, Herr General!«
»Fahren Sie gleich zurück?«
»Zu Befehl!«
Der Major Isebrink sprang wieder in das Auto, sah nach der Uhr:
»Na los, Mann Gottes! Warum nicht über den Marktplatz?«
Aber da sah er selbst: da war kein Durchkommen. Den füllte an den Häusern rechts und links ein brauner, stumpfer, stiller Sumpf von gefangenen Russen, in der Mitte ein grauer, brausender, jubelnder Wildbach von deutschen Kriegern. Sie umstrudelten Etwas, sie hoben die Hände, sie sangen, sie jauchzten . . . Isebrink sprang im Wagen auf und auch über sein feldgebräuntes Gesicht glitt plötzlich eine wilde, strahlende Freude. Die Autoreihe da vorn wies am Kühler nicht die vier schwarz-weißen rotgerahmten Würfel des Oberkommando-Fähnchens, nicht einmal die Anfangsbuchstaben des Oberbefehlshaber Ost, sonst hier, bei der Wacht an der Weichsel, das Sinnbild höchster Kommandogewalt. Eine Purpurstandarte flatterte über den grauen Helmen, dem tausendstimmigen Hurrah. Kaiser Wilhelm stand inmitten der Seinen, der Kriegsherr inmitten des herrlichsten Heers aller Völker und Zeiten.
Lange schaute der Major Isebrink hinüber. Dann besann er sich, daß es für ihn höchste Zeit war, weiterzukommen. Er fuhr durch eine Nebengasse. Aber auch da standen die Menschen und schwenkten die Hüte und drängten sich, um von ferne den Kaiser zu sehen. Er beugte sich stehend in dem Wagen vor. Und da die Ostpreußen in ihrem Jubel der Befreiung nicht auf ihn achteten, sprach er, ohne es zu wissen, das Geheimnis seiner Zeit und seines Volks und seiner Siege aus:
»Bitte, lassen Sie mich durch: Ich muß in den Dienst!«
Ende