Rudolph Stratz
Das deutsche Wunder
Rudolph Stratz

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VIII.

Die Jahre hatten die Schultern König Nicolaus I. von Montenegro gebeugt. Wie er, an einem dieser ersten glühenden Julitage 1914 in seiner getreuen, im tiefsten Innern der Schwarzen Berge weltverlorenen Stadt Niksitsch dem abseits und höher gelegenen Palais zuschritt, überragte ihn sein riesenhaftes Gefolge von Woiwoden, Ministern, Brigadiers und Staatsräten, trotz seiner stattlichen Gestalt, um Haupteslänge. Sein Gesicht mit den Hängebacken und den schlauen Augen zeigte nur andeutungsweise die kriegerischen, hochmütigen Züge dieser bunten Kolosse. Viel mehr glich es einem sehr geschäftstüchtigen und in allen Geldfragen erfahrenen Börsenmakler irgendwo in Europa, obwohl er, wie die Großen seines Zaunkönigreichs, die phantastische, papageienhafte goldgestickte Nationaltracht und ein Waffenarsenal im Gürtel trug.

Hier in Niksitsch, wo man unter sich war, wo fast niemals ein Europäer hinkam, wo in der Ferne der riesenhafte Dormitor die dritte und letzte der sich überstufenden Kornebenen im Herzen Montenegros überragte, hier besaß der Fürst aus dem Stamm Njegus ebenso wie in dem noch näher an Albanien gelegenen Podgoritza ein prunkendes Heim neben der Goldkuppel der orthodoxen Kathedrale, anders als jener berühmte Konak in dem fernen Cettinje, dessen rührende Schlichtheit alle Touristen bestaunten. Vor dem Portal des an ein Luxushotel erinnernden Baues klappten der König und seine Helden ihre mächtigen schwarzen Sonnenschirme zu. Irgend ein Martinowitsch oder Wukotitsch aus dem Hofstaat frug den Offizier der Perjankenwache:

»Ist der Russe schon da?«

Ja: Gospodin Schjelting aus Petersburg wartete bereits. Ihm war die Einladung zur Hoftafel zu Teil geworden. Ein paar Minuten später verbeugte er sich vor dem Duodezkönig mit der Ehrerbietung des Fremden von Distinktion und zugleich mit dem Lächeln des Vertrauten. Er kannte die montenegrinischen Großfürstinnen am Zarenhof an der Newa, er kannte die faulenzenden Woiwoden von Cettinje, er kannte diese ganze bettelarme, bettelstolze Steinwüste, die man das Königreich der Schwarzen Berge nannte. Er hatte in einem leichten Gebirgsautomobil den Weg hierher gefunden. Aber er wußte: am schnellsten und besten ritt man auf dem goldbeladenen Esel über den Balkan.

»Was werden sie nun tun?«

»Wo, Gospodin?«

»Nun, in Wien!«

Ein Schweigen. Der Erzherzog Thronfolger und seine Gemahlin schliefen nun schon in der Gruft zu Artstetten den ewigen Schlaf. Die Welt ging ruhig ihren Gang weiter. Standrecht in Serajewo. Bürgerkrieg in Albanien. Derlei war hier das tägliche Brot. Aber sonst . . .

»Prenk Bibdoda steht mit tausend Mann in Durazzo!«

»Ah – ces bêtes-là!« sagte Nicolai von Schjelting mit einer wegwerfenden Handbewegung. Er sprach mit dem Fürsten französisch. Er wußte: Man haßte hier die Mirditen, weil sie katholisch waren, noch mehr, als die muselmanischen Albanier.

»Die Epiroten marschieren auf Valona!«

»Und Essad?«

Man wußte nichts Neues von dem Condottiere und dem Mbret. Aber dessen Ministerpräsident, Turkhan Pascha war in Wien . . .

Den bewaffneten Helden am Tisch schien dies wichtig. Nicolai Schjelting zog hochmütig die Brauen über den kühlen grauen Augen empor. Sein längliches, nervös bewegliches Gesicht verhehlte kaum den Petersburger Dünkel gegenüber diesem Frosch-Mäuse-Krieg von Blutrache und Hammeldiebstahl. Jetzt galt es größere Dinge. Er griff wieder das Wort Wien auf.

»Kaiser Franz Josef ist nach Ischl zurück, Sir!«

Ein nachdenkliches Kopfschütteln.

»Und Kaiser Wilhelm trat ruhig seine Nordlandreise an!«

Sollte der Frieden erhalten bleiben? Sorgenvolle Gesichter. Einer der bewaffneten Staatsräte meinte:

»Vielleicht will Gott, daß wir noch Zeit gewinnen. Wir sind noch erschöpft vom letzten Krieg!«

Nicolai Schjelting lächelte verbindlich. Er kam sich wieder einmal vor, wie der Tierbändiger im Käfig. Er benutzte die Frage, wohin er von hier ginge?

»Zunächst nach Skutari!« sagte er harmlos.

In den Augen der orthodoxen Woiwoden glomm es wild auf. Da unten, in der Weite, jenseits der grünen Wellen, lag Skutari – das reiche Skutari, das Ziel der Sehnsucht und Habsucht. Man hatte Monde lang davor gelegen und gestürmt. Der König hatte jeden Verwundeten umarmt und geküßt. Umsonst. Mohammeds Streiter hatten das Feld behauptet. Von den Moscheen sangen die Muezzin. Nicolai Schjelting sah, daß der krieghetzende Stoß saß. Er lächelte.

»Oder – um ernsthaft zu reden – möchte ich morgen mit Euer Majestät Erlaubnis und Geleit auf dem kürzesten Weg über Novibazar und Staratz nach Belgrad!«

»Eine beschwerliche Fahrt! Oder gar Ritt!«

»Enfin, c'est le métier! Es lohnt die Mühe. Noch vor dem Fest des Heiligen Alexander Newski werden wir große Dinge sehen!«

»Und schon morgen wollen Sie reisen?«

Nicolai Schjelting beugte sich zu dem sieben Fuß langen, regenbogenfarbenen Minister ihm gegenüber vor.

»Wie denn, Exzellenz? Habe ich Zeit? Die Zeit drängt! Ich muß den Balkan durchfliegen! Ich eile von Belgrad nach Konstantinopel! Wo etwa noch zögernde Intelligenzen sind, müssen wir sie in letzter Stunde mit den Richtlinien der russischen Politik vertraut machen!«

Er dachte sich dabei: So viel Rubel wie diesmal reisten noch nie mit mir! »Wir müssen mit allen Hilfskräften des slawischen Genius die klare Analyse des Balkanproblems verbreiten!« Und er dachte sich wieder: Schlimmsten Falls schicke ich ein paar von den Zähesten nach Rom, damit sie sich von dem faulen Westen bestechen lassen. In der französischen Botschaft giebt's Geld wie Heu! »Ich werde Serbien von dem verwandten Brudervolk grüßen! Es braucht jetzt den Heldenmut der Cernagora!«

»Belgrad ist jetzt der Sturmbock der slawischen Welt!«

»Serbien ist nicht groß!« murmelte wieder der Staatsrat mit den glühenden Augen und der furchtbaren Narbe eines Türkensäbels von der Schläfe bis zum Hals. Nicolai Schjelting hob feierlich die Hand.

»Hinter Serbien steht ein Größerer . . . Dessen Namen zu nennen mir die Ehrfurcht verbietet. Er wird Serbien nicht verlassen. Je vous le jure!«

Zu seiner hageren und lässigen Gestalt paßte nichts besser als der mit allen Künsten eines Pariser Clubschneiders sitzende Frack, ohne den der König von Montenegro keinen Gast empfing. Das Schwarz sah seltsam aus in der grellen Sonnenwüste, während Schjelting langsam, den schwarzen Zylinder auf dem Haupt, zu Fuß die paar Hundert Schritte zu dem Städtchen zurückging. Die schönen Montenegriner Mädchen an den Cisternen schauten ihm neugierig nach, die heimkehrenden Ziegen- und Schafherden überpuderten ihn mit Staub, die Leutnants der montenegrinischen Lehrbatterie, die ihm, die ganze Brust voll Orden, begegneten, musterten ihn finster, weil sie ihn für einen Österreicher hielten.

»Attendez, mes amis! Man wird Euch schon gegen Österreich führen!« Nicolai Schjelting lächelte brutal und befriedigt vor sich hin, während er die Treppen seiner Herberge emporstieg. Diesen Balkanslawen gegenüber fühlte er sich als Träger des großen heiligen Rußland. Er war hier nicht mehr der Petersburger Europäer, sondern der Moskowiter. Er zündete sich eine Papyros an, ging unruhig auf und nieder, blähte die Nasenflügel, als atmete er ferne Gewitterluft. Vor zwei Tagen, unten in Podgoritza hatte es die ganze Nacht hindurch von der nahen albanischen Grenze her geschossen. Räuberei oder Blutrache . . . Grenzgeplänkel . . . aber immerhin Schüsse, wie die ersten Regentropfen vor dem Wolkenbruch. Ah – c'est ma guerre! Dann frug er sich: Warum denke ich als Russe immer auf Französisch? Vielleicht wegen meiner Frau, dieser Halbpariserin?

Pah – Ghislaine . . . Er warf die glimmende Zigarette in die Ecke und sie im Geiste mit. Mag sie tun, was sie will. Mag sie sich von mir scheiden lassen – das Schiff in dem Augenblick verlassen, nicht, wo es sinkt, sondern der Sturm seine Segel schwellt! Sie hat ihre Schuldigkeit getan. Wenn sie nicht will, ich brauche sie nicht mehr . . . Mit Gott! . . . Leb' wohl! . . . An meine zweite Frau verkaufe ich mich nicht. Die hole ich mir, mit dem Recht des Stärkeren, mitten aus dem Feind, mitten aus Deutschland, aus Wiesbaden heraus. Sie wird nicht lang gefragt! Es tut auch nicht not. Sie wird sich in ihrer Angst an mich klammern, wird mir danken, daß ich sie aus dem Weltuntergang an den Ufern des Rheins rette . . .

In diesem Höhenrausch der Zukunft verschwamm ihm Inge Tillesen und ganz Deutschland in Einem. Er lachte in dem Blutgeruch der Schwarzen Berge um ihn her wild auf: Man wird Euch Beide besiegen, Dich und Deine Heimat! Bald läutet Iwan Weliki auf dem Kreml Sturm . . .

»Eccellenza! . . . Eccellenza!«

Unten stand der Cavaliere di San Vittorio, der verdächtige schwarzbärtige und olivengelbe Balkanagent, von dem man nie wußte, ob er Österreich an Rußland oder umgekehrt, oder – was das Wahrscheinlichste war – Beide an Italien verriet, und schwenkte den Panama.

»Eccellenza! Kanonendonner in Südalbanien! Die Epiroten marschieren auf Argyrocastro!«

»Freiwillige?«

»S'intende, signore!«

Der Welsche lachte. Natürlich staken unter dem Czako mit dem Totenkreuz und in dem kurzen weißen Ballettröckchen richtige griechische Soldaten. Das wußte jedes Kind. Nicolai Schjelting nickte. Gut so! Zuckt nur, Ihr Flämmchen. Da und dort. Ihr seid noch klein. Aber wir wollen Euch schon anblasen. Besser als vor zwei Jahren. Er ging wieder vor die Gostinitza hinunter. Dort, auf der Straße, stand jetzt ein neuangekommener Montenegriner, groß und schlank wie Alle, aber in europäischer Tracht. Er trug nur das Cerevis mit dem eingestickten Namenszug des Königs auf dem Kopf und griff in kaltem Stolz daran, während er sich Schjelting näherte.

»Sie entsinnen sich meiner, Gospodin Schjelting?«

»Wie denn nicht?« sagte Nicolai Schjelting ebenso hochfahrend höflich. Er hatte keine Ahnung.

»Dr. Woinowitsch! Wir trafen uns schon vor sechs Wochen auf dem Wiesbadener Internationalen Kongreß im Hause des Geheimrats Tillesen!«

Sofort fiel bei der plötzlichen Erwähnung Europas von Nicolai Schjelting die asiatische Tünche. Er war wieder der Petersburger Weltmann des Westens. Er sagte lebhaft: »Nun – in der Tat . . . ich vergaß . . . ich war nicht Kongressist!«

»Ich auch nicht! Ich machte vier Jahre unter Tillesen Studien in der Serumtherapie!«

»Das wird Ihnen aber hier wenig helfen!«

»Ich kann auch Verwundete verbinden!« sagte der junge Arzt. »Ich hab' es in Deutschland gelernt.«

Die beiden Männer lächelten. Sie verstanden sich.

»Sie hielten es für besser, heimzureisen, Dr. Woinowitsch?«

»Ich melde mich morgen hier als zurückgekehrt bei Seiner Majestät. Ich bin mit ihm verwandt!«

Der Alte mag wieder schön an der Wiener Börse spekulieren, dachte sich Nicolai Schjelting, und dann weiter, ganz unvermittelt: Wie ist die Welt doch klein. Dieser Mensch da kennt Inge Tillesen seit Jahren. Weiß jedenfalls viel von ihr. Er konnte sich nicht enthalten. Er frug im Laufe des Gesprächs:

»Verkehrten Sie auch im Hause des Geheimrats?«

»Wenig.«

»Er ist Witwer, nicht wahr?«

»Ja. Eine Tochter führt ihm den Haushalt!«

»Ich entsinne mich ihrer flüchtig. Wird sie denn nicht auch einmal heiraten?«

»Ich glaube, sie ist verlobt. Schon lange. Mit einem preußischen Hauptmann!«

Der Montenegriner sagte es gleichgiltig. Er hatte andere Dinge in seinem kriegerisch wilden Gelehrtenkopf. Nicolai Schjelting frug nicht weiter. Sein Herz klopfte. Schlug wieder stürmisch im vollsten Dünkel des Herren des halben asiatischen und europäischen Erdteils, während er am nächsten Morgen im offenen Wägelchen dem einstigen Sandschak Novibazar zufuhr. Dieser Isebrink . . . Ein Offizierchen! . . . Pah! . . . Nicht einmal in der Garde! . . . Nicht einmal ein Edelmann! Was galt in Rußland ein bürgerlicher Hauptmann von der Linieninfanterie? Er gehörte halb zum Volk! Nicolai Schjelting lächelte hochfahrend unter seinem Sonnenschirm. Er sagte sich: Mit Dir wird man noch fertig werden, mein Brüderchen, mit Euch Deutschen Allen!

Überall in der grauen, glühenden Felseneinsamkeit schwangen längs des Saumpfades die Männer die Spitzhacke, klopften Frauen und Mädchen Steine, schleppten Kinder in Körben Schotter herbei. Die freien Cernagoren bauten neue Militärstraßen für den kommenden Krieg. Schjelting sah es mit Wohlgefallen. Dankte sogar hier in Montenegro auf die Grüße des Volks: Arbeitet nur für Moskau, die große Mutter, die Euch von dem apokalyptischen Tier erlösen wird! Schanzt nur fleißig gegen den Antichrist! Ihr kostet uns Geld genug. Ihr Flöhe der Schwarzen Berge.

Ihr Serben auch! Er liebte die Serben, aber er herrschte sie an wie seine eigenen Bedienten, während er, der große Herr aus Petersburg, auf der Bahn nach Belgrad fuhr. Da ragte schon draußen im grünen Bergwald das kleine steinerne Kreuz: die Stelle, wo Fürst Milosch von seinen Untertanen ermordet worden war. Man näherte sich der serbischen Hauptstadt, dem Hexenkessel Europas, auf langgestrecktem, schmalen Höhenrücken, äußerlich einer unkultivierten Mittelstadt mit steinernen Gassen und modernen Regierungsgebäuden ähnlich. Auf dem Bahnhof wartete Professor Korsakoff, der Panslawist. Der schmächtige Mann mit den fanatischen Blauaugen über den vorspringenden mongolischen Backenknochen, den breiten Nüstern, dem schütteren blonden Vollbart, stand da wie ein russisches Urbild inmitten der Serben. Er und Schjelting umarmten sich und küßten sich dreimal auf die Wangen. Hier war man ja unter sich. Schon auf slawischer Erde. Der faule Westen hörte hinter der Save auf.

Von der Gesandtschaft war niemand da. Das wunderte Schjelting.

»Nun – und Sie sind so gedrückt, Wladimir Timoféitsch? Was ist geschehen?«

»Erbarmen Sie sich – Sie wissen noch nicht, daß Hartwig tot ist?«

»Unser Gesandter?«

»Am Herzschlag gestorben! Und wo?: In der Studtnitza!«

»Bei dem österreichischen Gesandten?«

»So ist es! Im Gespräch mit ihm!«

»Was haben sie sich erzählt?«

»Niemand weiß es!«

Ungarisch war eine der wenigen Sprachen, die Nicolai Schjelting nicht beherrschte. So verstand er es nicht, daß neben ihm am Ausgang ein reisender Magyare zu seinem Landsmann sagte: »In Kragujewatz im Staatsarsenal haben sie die Bombe für Serajewo gefüllt. Sie wußten Alle darum, die Schufte!« Professor Korsakoff fuhr fort:

»Die Erbitterung gegen Österreich ist groß. Ein Teil der Schwaben verbringt die Nächte schon in der Gesandtschaft!«

»Gut so! Zeigt ihnen die breite slawische Brust!«

»Und eine bessere Nachricht. Soeben aus Petersburg. Rasputin ist durch Dolchstiche auf den Tod verwundet.«

»Ah – Pascholl! Dieser Muschik hat uns lange genug geärgert!«

Rasputin, der in ganz Rußland bekannte Wunderpope, der Ratgeber des Zaren, der Freund des Friedens und der Frauen. Fort mit ihm! Mit Allen! Der Panslawist drehte sich nervös eine neue Papyros. Er hatte wieder gelbe Fingerspitzen und schwarze Nägel. Schjelting dachte sich: Ein Tier! Er sagte halblaut durch das Rasseln des Wagens:

»Es giebt jetzt eine Schwarze Liste von Totgeweihten in Petersburg, Wladimir Timoféitsch! Ein Kreuz hinter jedem Namen. Man staunt, welche Namen da stehen!«

»Ich sah die Liste!«

»Nun: Gott wird helfen!«

Korsakoff, der Panslawist, war draußen in der Neustadt bei einem befreundeten Popen abgestiegen. Den ganzen Nachmittag gingen da die südslawischen Agitatoren ein und aus, raschelten die Banknotenbündel in Schjeltings Händen, erzählte Vater Dimitrij vom Kloster Ostrog von seinen Erlebnissen in Istrien, den Kämpfen der kaisertreuen Küstenkroaten mit den Italianissimi der Adria.

»Unser Dampfschiff war weiß gestrichen! Großer Gott – nach dem dritten, vierten Hafen hatte es schwarze Streifen von oben bis unten . . . Sie begreifen doch! Auch auf dem Deck bekam man Tintenflecke!« . . .

»Wie denn Tinte?«

»Nun – man hatte alle Tintenflaschen in den örtlichen Magazinen gekauft und warf sie über die Köpfe der Soldaten am Landungssteg weg auf das Schiff! Es gab Handgemenge zwischen Morlaken und Welschen . . .«

Nicolai Schjelting lachte.

»Bald wird die Weltgeschichte nicht mehr mit Tinte, sondern mit Blut geschrieben werden,« sagte er, während er mit dem Moskauer Hochschullehrer seinem Hotel zuschritt. Dann durchfuhr ihn wieder jäh die Erinnerung: »Entsinnen Sie sich, wann wir zuletzt zusammen waren, Wladimir Timoféitsch?«

»Vor der Butterwoche. In Moskau.«

»In Moskau. Im Petrowski Dwor. Wir tranken auf den Kreuzzug gegen die Deutschen!«

»Rußland wartet!«

»Hinter uns saß ein alter Deutscher!«

»So?«

»Ein alter Teufel von Arzt. Er hatte eine schöne Tochter bei sich. Wahrhaftig: ein schönes Mädchen!«

»Ich weiß es nicht mehr!« sagte der Slawenapostel zerstreut. Nicolai Schjelting verstummte, ärgerlich, daß er sich wieder hatte gehen lassen, und musterte von der Seite die Schmutzflecken auf Korsakoffs Rock, den von den langen ungepflegten Haaren schwärzlich gefärbten Hemdkragen. Quel animal – enfin . . . Er frug sich: Warum fange ich denn schon wieder von ihr an? Vor diesem Professor, der wie ein Holigan aussieht? . . . Ja, Bruder, für Dich freilich wäre eine Zigeunerin noch gut genug! Mein Siegespreis soll edler sein! Nun – Du hast nichts gemerkt!

Nein. Der Professor fing, lebhaft die Hände bewegend, von den Kutzowalachen an. Er hatte beunruhigende Meldungen über die Kämpfe dieser rumänischen Zinzaren auf dem Pindar mit den benachbarten Griechen. An der neuen serbischen Wardargrenze hatte es Feuergefechte mit makedonischen Komitatschis gegeben.

»Viel Menschen tot?«

»Nein. Höchstens hundert!«

»Nun – und wie war es in Agram?«

Der Panslawist zuckte fatalistisch die abfallenden Schultern. Nichts zu machen. Die Zeiten waren vorbei, da man sich auf dem Jellachichplatz an dem Vicebanus vergriff. Gott schlug die Slawenbrüder dort mit Blindheit. Sie hingen an dem König von Ungarn, schauten, statt nach dem Kreml, nach der Ofener Hofburg. Die Schwaben hätten sogar ihn, Korsakoff, verhaftet, wenn er sich nicht als Mitglied der Reichsduma ausgewiesen hätte. Die Beiden gingen die Alexanderstraße entlang. Am Eingang zum alten Friedhof standen zwei elende, kleine Holzkreuze frei auf dem zertretenen Rasen. Menschen und Tiere zogen achtlos an der Stelle vorbei, wo der König und die Königin von Serbien, von ihren Untertanen ermordet und aus dem Fenster des Konaks gestürzt, eingescharrt worden waren. In der Terasiastraße fuhr der neue Herrscher, Peter der Erste, nach seinem Palais. Die Wenigsten kümmerten sich um den gekrönten Schatten oder um seinen liederlichen Sohn. Die Herren dieses Landes waren die Offiziere. Die Säbel rasselten, die Uniformen blinkten. Auf denen, in deren Mitte Nicolai Schjelring des Abends saß, waren vielfach die Abzeichen von Regimentern ferner Standorte, aus Laskowatz und Schabatz. Und doch waren diese Obersten hier und gehörten auch nach ihrem Äußeren vielmehr unter den Belgrader Convoi Leibgarde als unter die struppigen und ruppigen serbischen Linienmilitärs der Provinz. Das waren die Verschwörer von einst. Man zeigte die Königsmörder immer noch nicht gern an vorderster Stelle. Das hätte das Feingefühl des englischen Gesandten verletzt. Aber wo sie waren, war Serbien.

Die gepaschten Virginias qualmten über den Krügeln mit Dreher'schem Bier. Die Zeitungsjungen schrieen die »Neue Freie Presse« aus. Die Erbschaft des toten Erzherzog Thronfolgers. Die blutbefleckten Soldaten lachten sich zu. Sie wußten Bescheid – nicht nur wie man den eigenen Kriegsherrn beseitigt, sondern auch, wie man, jetzt eben, benachbarte Große der Erde mit dem Revolver aus dem Wege räumt . . . Ihre Augen funkelten. Ihre Gespräche waren der Krieg. Der Sieg. Sieg über die Türken. Sieg über die Bulgaren. Sieg über . . . pst . . . noch nicht davon sprechen . . . Ein Rausch von Blut lag über der Runde, ein Triumphgefühl des Mords, ein Fieber: Was werden sie da drüben machen, in den k. u. k. Landen? Und es war, als brächte der heiße Sommerwind von der Save her als Antwort die Klänge eines langverwehten Lieds:

»Prinz Eugen, der edle Ritter,
Wollt' dem Kaiser wiederum kriegen
Stadt und Festung Belgerad!«

Ei was – mögen die Schwaben kommen und die Ungarn dazu! Uns darf nichts geschehen! Wir dürfen tun, was wir wollen! Hinter uns steht das heilige Rußland. Heiße Blicke wie die gezähmter Raubtiere richteten sich auf Nicolai Schjelting.

»Ihr Ehrenwort, Gospodin Schjelting: was wird nun?«

»Schon einmal, vor fünf Jahren, mußten wir zurück!«

»Man tritt zurück, um einen Anlauf zu gewinnen!« sagte Schjelting in lächelnder Ruhe.

»Aber die Tage drängen . . .«

»Und übermorgen begiebt sich der Präsident der französischen Republik nach Petersburg zu Seiner Majestät, dem Zaren! Ahnt Ihr, was das heißt?«

Wieder wehte es über die Tische: Der Krieg . . .

»Gott schütze den Zaren!«

»Laßt uns nicht im Stich! Sonst sind wir verloren!«

Der Serbengeneral Bratschinatz sagte es. Der alte Fuchs drehte, trotz der Hitze in einen verschlissenen grauen Feldmantel gewickelt, unruhig den weißen Spitzbart unter dem verschlagenen Gesicht. Ein langes Ordensband zog sich über seine Brust. Er kannte die Ungewißheit des Kriegs wie nur je ein Landsknechthauptmann. Nicolai Schjelting, der nie gedient hatte, musterte ihn mit einem hochfahrenden Lächeln.

»Belieben Sie sich zu entsinnen? Wie hieß zur Osmanenzeit die Stadt, in der wir slawischen Brüder hier beisammen sitzen? Dar el Dschihad! . . . Das Thor des Kriegs!«

»Es lebe der Krieg!«

»Mehr als einmal schon wurde der Krieg von hier über die Save getragen! Bis unter die Wälle von Wien!«

»Morgen bis in den Stephansdom hinein!«

»Nach Budapest!«

»Und an die Adria!«

»Wir sind bereit!«

»Ihr seid die Bannerträger der orthodoxen Welt, Ihr serbischen Helden! Gestattet, daß ich, der Petersburger, Euch die Schwüre unseres großen Rußlands bringe! Diesmal stehen wir hinter Euch und weichen keinen Zoll! Beim Wundertäter Nikolaus, bei allen Heiligen der Lawra: Im Sommer 1914, so werden noch unsere spätesten Enkel sprechen, ward nach Gottes Wille die slawische Idee zur Tat!«

»Hoch das heilige Rußland!«

»Lasse Dich küssen, Bruder!«

Ein Sturm der Begeisterung hob die Runde säbelklirrend von den Sitzen. Aus wilden Augen fieberte der Größenwahn des kleinen Barbarenstaats, der im letzten halben Jahrzehnt zweimal schon die Menschheit bis dicht an den Abgrund des Weltkriegs gedrängt hatte. Skuptschinamitglieder und Journalisten am Nebentisch klatschten fanatisch Beifall. In ihren Taschen knisterten die Tausendrubelscheine, die Schjelting am Nachmittag wie welkes Laub verstreut hatte. Er lächelte gerührt beim Bruderkuß der bärtigen, nach mancherlei Schnäpsen duftenden Lippen. Er dachte sich dabei: Enfin . . . Rien à faire . . .! . . . Nur jetzt diese Wilden bei guter Laune erhalten!

Aber als er am nächsten Tag im Orient-Expreß weiter nach Osten fuhr, sagte er sich: Es ist doch gut, daß es Eau de Cologne giebt, um die Liebesbezeugungen dieser Bären abzuwaschen. Tanzt nur, Brüderchen, tanzt! Wir an der Newa pfeifen! . . . der Zug war wie gewöhnlich überfüllt. Schjelting hatte den letzten freien Platz in dem Salonwagen gefunden. Draußen flogen die Kukuruzfelder Serbiens vorbei . . . Auf freiem Feld eine Kapelle.

»Ah – Tschela Kula!«

Der Schädelturm . . . Aus vielen hundert serbischen Totenköpfen von den Türken als Siegeszeichen vor einem Jahrhundert errichtet. Nicolai Schjelting dachte sich zerstreut: Wozu die Mühe? Der ganze Balkan ist ein großer Schädelturm. Im Lehnsessel neben ihm ließ sich Salim Pascha, der greise osmanische Würdenträger, von einem der Effendi seines Gefolges die letzten Nachrichten des »Pester Lloyd« auf türkisch vorlesen. Schjelting kannte den gefürchteten Diplomaten der Hohen Pforte wohl, ohne ihn zu grüßen. Der Pascha war schon sehr alt. Aber die hellen, haselnußbraunen Augen in seinem feinen, kleinen Gesicht blinkten noch so klug und aufmerksam wie je unter dem dunkelroten Tarbusch des Zivil. Der schlanke, junge Effendi, der ihm vorlas, trug zum Europäischen Anzug den Scharlach-Fez des Heeres. In sein Türkisch fielen im Gespräch deutsche Worte: Etwas von Militärmission .. Halblaut deutsche Namen von Offizieren . . . Kesselberg . . . von Enkel . . . Boß . . . Isebrink . . .

Nicolai Schjelting horchte auf. Isebrink . . . Hauptmann Isebrink . . . Ein höhnischer Sonnenschein überflutete seine nervösen Züge. Siehe da! Nicht auf Freierfüßen, sondern auf dem Weg zu den Ungläubigen! Oder vielmehr: mit den anderen Mitgliedern der neuen Militärmission wohl schon dort! Ah – je vous félicite, mon cher! Nein: Ich wünsche mir Glück! Wenn ich wieder nach Wiesbaden komme, werde ich vor einem gewissen Haus keinem Störenfried begegnen. Der Weg ist frei . . .

Jäh klirrte eine Scheibe. Die Reisenden fuhren auf. Ein Durcheinander:

»Ein Steinwurf!«

»Ein Flintenschuß!«

»Sind wir noch in Serbien? Dann war es eine Kugel!« sagte auf Französisch Einer der Türken. »An dieser Stelle hat man schon auf dem Hinweg auf Seine Exzellenz geschossen!«

Der Pascha verlor keinen Augenblick seine Würde. Er setzte sich jetzt nur so, daß man von außen seinen weißen Kopf aus Tausendundeiner Nacht mit dem Purpurfez nicht sah. Einer der Effendis bückte sich und schaute unter die Sessel. Da lag im Dunkeln ein verdächtiges Körbchen. Vielleicht auch eine Höllenmaschine serbischer Komitatschis. Moise Kabyljo, der in Nisch hinzugekommene Importeur aus Saloniki, fuhr entsetzt in die Höhe. Die weißgepuderte und schwarzbemalte, alleinreisende Französin drängte sich an dem Spaniolen vorbei und griff schützend nach dem Korb. Mon Dieu! Darin war ja nur Bibi, das eingeschmuggelte Schoßhündchen. Ein Aufatmen der Heiterkeit. Ein neuer Wortwechsel nebenan. Der hinter Pirot eingestiegene bulgarische Hauptmann mit dem brünetten, knebelbärtigen, an Wallensteins Lager erinnernden Wallonenkopf, weigerte sich entschieden, mit einem Serben an einem Tisch zu sitzen. Beide, Bulgare und Serbe, hatten die Hand an die Säbelgriffe gelegt. Der Haß von 1913 leuchtete aus ihren Zügen. Ein bleicher und verlebter junger rumänischer Bojar machte belustigt ganz leise: Kß . . . Kß . . . so wie wenn man zwei große Doggen auf einander hetzt. Aber der kleine, runde Levantiner am Nebentisch rettete die Lage. »Changeons, messieurs!« Er wechselte seinen Platz mit dem des Serben, und der kam wieder neben den breitschulterigen blonden deutschen Geschäftsreisenden zu sitzen.

Immer die Deutschen – dachte sich Nicolai Schjelting. Diesmal nicht mit Haß, sondern mit Schadenfreude. Dieser Deutsche, dieser Hauptmann Isebrink war aus dem Weg. Wer konnte wissen, wie lange? Er sagte sich, in Unruhe und Tatendrang: Ich sollte die Zeit in Wiesbaden nutzen! Eine Entscheidung suchen, jetzt, wo sich Alles entscheidet . . .

Es dämmerte. Man zeigte sich durch das Fenster die Stelle, wo vor Jahren der Räuberhauptmann Athanas den Orient-Expreß überfallen hatte. Aristidos Papadaki, der nach Pera heimkehrende Fanariote und Millionär, erwachte aus seinem Halbschlummer und winkte ab: »Ah bah! Monsieur Athanas s'est retiré des affaires!« . . . Weiter rollte der Orient-Expreß und trug diesen Balkan im Kleinen gleich einem züngelnden Nattern-Nest voll Haß und Zwiespalt durch das Dunkel. Als Nicolai Schjelting nach einer schlaflosen Nacht, in der er mit einem verpariserten alten ägyptischen Prinzen dieselbe Koje geteilt hatte, an das Fenster trat, war draußen schon die feierliche Leere der türkischen Steppe. Aber da noch Etwas, hinter Hirt und Hund und Büffeln: Ein rauchgeschwärztes, zertrümmertes Haus. Da die menschenleeren Mauerreste eines ganzen Dorfs. Riesenkoffern gleichende viereckige Erdhügel: Massengräber. Die Namen von Gefechtsorten gingen von Mund zu Mund. Man fuhr über die frischen Schlachtfelder von 1912. Die Moscheenkuppeln von Adrianopel tauchten in der Ferne auf. Die Umrisse der Tschataldschalinien. Neue Ruinen am Bahndamm mahnten: Das ist der Krieg! Und Nicolai Schjelting atmete am offenen Fenster den Lokomotivqualm wie Pulverdampf ein und dachte sich in ungeduldiger Siegestrunkenheit: Der Krieg . . . Mein Krieg . . . Nicht das Balkan-Kinderspiel von gestern, sondern das, was morgen kommt . . .

Türkische Offiziere stiegen auf der letzten Station ein. Fern am staubflimmernden Horizont erschien eine Wolken- und Märchenstadt mit Hunderten von Kuppeln und nadelschlanken Türmen über der öden Steppe. Nicolai Schjelting kannte Konstantinopel in- und auswendig. Mit der Kälte eines von Nützlichkeitszwecken beherrschten Mannes sah er auf das graue Jahrtausend der byzantinischen Stadtmauer, das ewige Blau des Marmara-Meers, das feierliche Cypressengrün der Serailspitze. Für ihn waren Stambul und Pera die große Arena der russischen Politik. Alle die »Väter der Lüge«, die erfolgreichen Petersburger Diplomaten, hatten sich hier ihre Sporen verdient, von Ignatjeff bis Iswolsky. Er fuhr an der Säule von San Stefano vorbei und dachte sich: da standen schon einmal unsere Heere! Er sah hoch über dem flachen Dächermeer die Riesenwölbung der Hagia Sofia und sah da oben im Geist schon das Kreuz Katharina der Großen, er tauchte vor dem Bahnhof in jenes Geschrei in dreißig Sprachen der Erde, in jene zum wimmelnden Ameisenhaufen gewordene farbige Malerpalette unter, die das Goldene Horn hieß, und sagte zu dem Fürsten Tschewadse von der russischen Botschaft, der ihn mit allem Prunk bewaffneter Kawassen als étranger de distinction empfing:

»Ah – ça fait chaud! Wann geht Ihr nach Bujukderè?«

Fürst Tschewadses Großvater schon war als Geißel der Tscherkessenkriege orthodox im Petersburger Pagenkorps erzogen. Nichts an ihm selbst verriet äußerlich noch seine kaukasische Abstammung. Er war mager, bräunlich wie ein Zigeuner, mit schwermütigen Augen. Aber seine Instinkte waren noch dem Geist des Morgenlandes nahe. Er war hier, in dem wütenden Kampfe Peras um die Seele Stambuls, an seinem Platz. Für Schjelting bedeutete er nach Korsatoff, diesem »wahrhaften Russen«, nach diesen Vierhändern von Serben und Cernagoren den Träger von Petersburg-Pariser Kultur. Hier, seinesgleichen gegenüber, wurde er sofort wieder doktrinär.

»Wie denn, Fürst?« sagte er, während sie im offnen Phaëton, einen mit dem Karabiner bewaffneten Wächter neben dem Kutscher auf dem Bock, durch den Turmbau von Babel dahinfuhren. »Die österreichische Note – nun – was wird sie enthalten? Einerlei – wir werden antworten – man wird diskutieren – bis es uns beliebt, loszuschlagen. Wir haben Zeit. Ich richte mich hier am Bosporus auf Wochen ein!«

»Wenn aber doch . . .«

Eine abwehrende Handbewegung Schjeltings.

»Sie wissen, ich halte nicht viel vom diplomatischen Metier. Ich untersuche lieber als einfacher homme d'esprit die Vorbedingungen der Geschehnisse. Nehmen wir das Nächste: Unsere Mutter Erde! Niemand, außer dem Vater Iwan von Kronstadt oder sonst einem Wundertäter, kann zugleich mähen und schießen. Also kann der Balkan erst nach der Ernte in den Krieg. Der Oktober brachte uns vor zwei Jahren kein Heil. Also sagen wir September. Den Tag von Kreuzes Erhöhung!«

»Aber auch wir Russen müssen bereit sein . . .«

»Zeit . . . Zeit . . .! Zeigt, wozu Eure procès verbaux und Collectivnoten gut sind! Inzwischen marschiert Mütterchen Rußland vom Amur und Pamir ab auf allen Wegen. Stehen wir erst gleichzeitig mit den Westlichen an der Grenze, so ist die Welt unser!«

»Ha! . . . Da ist er!«

Mitten auf der Brücke ritt ihnen ein jugendlicher Pascha mit kühnem Antlitz und aufgedrehtem Schnurrbart entgegen. Die Moslim führten vor ihm die Hand an die Stirn und Brust, die Levantiner lüfteten die Hüte. Ein großes Gefolge von Offizieren war hinter ihm. Darunter ein paar unverkennbare deutsche Militärgesichter.

»Wenn nur Enver Pascha nicht wäre!«

Nicolai Schjelting hörte die Worte des Fürsten nicht. Da kamen nochmals zwei zu Pferd. Der Eine trug türkische Uniform, der Zweite Zivil, Beide den Fez auf dem Kopf. Aber sie saßen straff mit langen Bügeln im Sattel. Sie sprachen laut deutsch miteinander und lachten über die sonnverbrannten Gesichter. Schjelting erkannte in dem im Reitanzug den Hauptmann Isebrink. Er dachte sich schadenfroh: Da haben wir Dich ja! . . . Nun . . . Was macht Wiesbaden?

»Die Deutschen vermehren sich hier wie die Heuschrecken!« sagte neben ihm der Fürst Tschewadse. »Jeder Tag bringt uns neue. Gott straft uns mit ihnen. Unser Spiel hier steht nicht gut!«

». . . weil wir unsere Trümpfe noch nicht zeigen! Wir haben zehn Millionen Trümpfe. Gebt nur jedem sein Gewehr in die Hand! – Ah – j'adore le moushik! . . . Ich bete den russischen Bauern an!«

Das hinderte ihn freilich nicht, im Vorhof der russischen Botschaft die dort in Massen wartenden, barhäuptig in Schafpelze und Bastschuhe gekleideten russischen Jerusalempilger rücksichtslos mit der Faust bei Seite zu knuffen: »Willst Du wohl einem Barin Platz machen, Du Hundesohn – he!« Innen in der Botschaft war es kühl. Der Lärm von Pera drang nur unbestimmt herein.

»Und Limpus?«

Der Fürst Tschewadse hob vielsagend die Achseln. Der Britenadmiral, dem die osmanische Flotte anvertraut war, tat ja, was er konnte. Wichtige Bestandteile der Geschütze und Maschinen waren in Galata und Tophana versteckt, kein Schiff war kriegsbereit. Und sollte eines doch in See gehen, so sorgte die geheime drahtlose Station auf dem Hausdach des Admirals für den Verrat.

»Sehr gut! Ein tüchtiger Kerl!«

»Was hilft es gegen die Deutschen zu Lande? Wie – – Sie wollen schon wieder aus? Und die Reisemütze auf dem Kopf?«

»Nun: ich promeniere ein wenig! Mit Gott!«

Nicolai Schjelting behielt seine Angelegenheiten für sich. Er hatte seine Londoner Aufträge und dazu die nötigen Sterlingwechsel in der Tasche. Er wußte, was ihm der große Higgins vor der Abreise gesagt:

›Nichts täte uns jetzt mehr not als christliche Entrüstung. Ich brauche Türkengreuel für die öffentliche Meinung. Es wäre weise, sie mir so bald wie möglich zu verschaffen.‹

In einem halbdunklen Hausgang der Perastraße vertauschte Nicolai Schjelting seine seidene Mütze mit einem Fez, den er aus der Tasche zog. Als er wieder heraustrat, war er im Straßengewimmel einfach ein beliebiger Franke mehr, der zwischen dem Genueserturm und dem Hafen seinen Geschäften nachging. Er winkte einem Fiaker: »Rue Mahmud Pascha!« Dort drüben in Stambul stieg er aus. Er war da unter grünen Turbanen, kamelfarbenen Derwisch-Zuckerhüten und schwarzen Persermützen wieder ganz im Morgenland. Er ging durch ein regelloses Gäßchengewirr bis zu einem der armenischen Hans. Das mächtige Gebäudeviereck war angefüllt mit Warenlagern, Geschäftsräumen und Schreibstuben. Alle Welt lief da achtlos ein und aus. Er konnte ganz gut ein Messerschalen-Fabrikant aus dem Riesengebirge sein, wie er in ein mit Haufen von Hirschgeweihen gefülltes Zimmer trat, und der breitschulterige, fleischige Armenier mit dem schwarzen Bart um die bleichen Hängebacken, der ihn empfing, ein schlichter Hornhändler aus Kaisarea in Anatolien und nicht der Hadschi Hassanhusseindian selbst, einer der Führer der armenischen Bewegung und dem Patriarchen aller Gregorianer in Konstantinopel nahe.

Nicolai Schjelting gehörte zu den Wenigen, die das Wirrsal all dieser christlichen Glaubenskulte der Melchiten und Maroniten, der Chaldäer und Jacobiten und ihre gegenseitigen Streitigkeiten beherrschte. Aber jetzt ging es gegen den eigentlichen und Erbfeind der Armenier, den Türken. Zu seinem Erstaunen zeigte der christliche Hadschi, der Wallfahrer zum Heiligen Grab, große Kühle und Zurückhaltung: Geld? War es das? Geld, so viel Ihr wollt! Bitte! Hier! Aber seltsam: sogar das verfing nicht bei einem Armenier, dem habgierigsten aller Menschen.

»Vor fünfzehn Jahren wart Ihr andere Kerle!« sagte Schjelting erbittert. »Da stürmtet Ihr mit Dynamitbomben die ottomanische Bank. Die Rue Woywoda war in Euren Händen! Fast schon die Stadt!«

»Und was geschah, Herr? Die türkischen Hausdiener erschlugen uns, die Kurden zündeten drüben unsere Dörfer an . . .«

». . . und in ganz Europa war ein Schrei der Entrüstung!«

»Macht ein Schrei Tote lebendig, Herr? Sonst hörten wir von Europa nichts!«

Sie konnten unbesorgt laut sprechen. Durch das offene Fenster drangen die gellen Rufe der Straßenverkäufer und nebenan rasselte ein halbes Dutzend Schreibmaschinen. Trotzdem dämpfte Schjelting seine lockende Stimme:

»Diesmal ist es etwas Anderes! Das ist nicht mehr das alte Osmanenreich! Von allen Seiten stehen seine Feinde auf!«

»Es hat auch Freunde!«

»Wen?«

»Deutschland . . . Es ist besser, wir halten uns still!«

Draußen wallten, als Nicolai Schjelting ärgerlich in das Sonnengeflimmer trat, riesige grüne Fahnen durch den Öl- und Fischgeruch und Staubdunst der Gassen. Derwische zogen mit entrolltem Banner des Propheten hinauf zum Seraskierat. Ihr wildes »Huk! Huk! . . . Er! . . . Er! . . . Allah!« schmetterte durch das aufgeregte Brausen der Tausende auf dem weiten taubenüberflatterten Platz . . . Man wußte hier im Morgenland nie: War wirklich etwas los? Waren es nur lärmende Lungenübungen, zu denen Hassan den Ali mit sich riß und Sliman den M'hammed. Aber der Igumen Agathangel von einem der orthodoxen Klöster des Berges Athos, der in Geschäften zum ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel gekommen war, machte bei der Begegnung mit Schjelting jene kennzeichnende Slawenbewegung mit den Schultern, die Zweifel, Besorgnis, Fatalismus ausdrückt. Man hatte auf dem Weg über die Sinaiklöster Nachrichten vom südlichen Arabien. Die Beziehungen des Großscherifs von Mekka zum Goldenen Horn gestalteten sich freundlicher, die Wüstenkönige da unten bis Maskat gehorchten neuerdings ihrem Khalifen in Stambul. Ein Zeichen, daß sich etwas Großes im Islam vorbereitete. Seien wir auf der Hut . . .

»Man wird schon Sorge tragen!« sagte Schjelting. Die Haltung der Jungtürken beunruhigte ihn, während er eben an dem großen Exerzierplatz inmitten des Häusermeeres vorüberschritt. Tausende von Soldaten übten da um den mächtigen Mahmudturm. Es erinnerte ihn an den Aufzug der Wachen in Berlin, den er oft genug spöttisch lächelnd mitangesehen. So stramm standen diese sehnigen, braunen Burschen aus Anatolien, so scharf und preußisch hallten in türkischer Sprache die Befehle. Nahe der Moschee Mohammeds des Eroberers, im Stadtteil Jani Bagtsche, stand der Konak Ali Fuad Beys. Er schien Schjelting der Letzte, bei dem man noch einen Besuch und Versuch machen konnte. Drei Menschenalter hindurch waren die Beys dieses Hauses und der jeweilige englische Botschafter drüben in Pera ein Herz und eine Seele gewesen. Hier fuhr Nicolai Schjelting am nächsten Tag mit Dienern und donnernden Rappen und aller Würde eines großen, fränkischen Effendi vor. Die kriegerischen, tscherkessischen Leibwächter auf der Schwelle verbeugten sich tief. Er trat ein. Da hörte er im kühlen Halbdunkel der Halle, von der Treppe her, zwei Männerstimmen. Deutsche Laute.

»Wann gehen Sie denn nun nach Mesopotamien, Isebrink?«

»Sobald meine Anstellungsverhältnisse geordnet sind! Ich denke, in vierzehn Tagen!«

»Um die Zeit rutsche ich gerade wieder nach Berlin!«

»Na – grüßen Sie das sechste Garderegiment!«

Es klirrte von Sporen und Säbeln. Die beiden jungen Offiziere schritten kameradschaftlich an Schjelting vorbei.

»Bringen Sie ein bischen Leben an den Euphrat, Isebrink!«

»Lassen Sie sich's gut gehen, Halim Bey!«

Erbittert trat Schjelting bei dem graubärtigen Hausherrn ein. Oh – er kannte diese vornehme Höflichkeit des Orientalen. Diese feierliche Handbewegung, Platz zur Rechten zu nehmen. Diese geschäftigen, kleinen Diener mit den Kaffeetäßchen und dem Eingemachten. Er schob das brüsk zurück. Ali Fuad Bey lächelte unter kaum merklichem Stirnrunzeln. Verstöße gegen die Form waren ihm wie jedem Morgenländer ein Greuel.

»Wie ist das, Bey: Ihr Sohn dient in der deutschen Armee?«

»So ist es.«

»Warum nicht in der englischen Flotte?«

»Als vor vier Jahren die Italiener uns überfielen und unsere Inseln besetzten, sah ich vergebens nach der englischen Flotte aus!«

»Nun – das war damals!«

»Als vor zwei Jahren die Balkanvölker gegen Stambul drängten, sah ich jeden Morgen nach dem Marmara-Meer. Es war leer bis zu den Prinzeninseln. Die englische Flotte war nicht da. Vielleicht ist sie überhaupt nicht mehr da. Gott allein weiß es!«

»Aber . . .«

»Aber die Deutschen waren da. Die Offiziere, die sie uns sandten, haben mit uns gekämpft und geblutet. Dem Kaiser tausend Jahre!«

»So? Nun wartet nur, was kommt!«

Der Hausherr stand auf.

»Effendi! Wir werden es bestehen!«

Noch im Landauer war Schjeltings Antlitz gelb vor Galle. Er warf seine angerauchte Papyros einem bettelnden Syrerknirps, der sich auf das Trittbrett geschwungen, an den Kopf. Steht es so um Euch, messieurs les Turcs? Eh bien! . . . Unerhört: Ein Bey – rien qu'un simple bey – der mich verabschiedet . . . mich . . . Nicolai von Schjelting . . . Das ist ja schon fast der Krieg . . .

Dann erhellte mit einem Schlag das gewohnte, hochmütige und selbstzufriedene Lächeln sein unruhiges Gesicht. Er mußte sogar über den kaffeebraunen Bengel lachen, der das Wurfgeschoß, die Zigarette von vorhin, grinsend weiterpaffte. Recht so! Jedes Ding hat seine gute Seite. Jetzt erst fiel ihm wieder ein, was der Hauptmann Halim Bey zwischen Tür und Angel den Hauptmann Isebrink gefragt: »Wann gehen Sie nach Mesopotamien?«

Nach Mesopotamien ging man nicht als glücklicher Freier. Dorthin ließ man auch keine Frau nachkommen. Nicolai Schjelting setzte sich behaglich in der Wagenecke zurecht und dachte: Also bist Du abgeblitzt, mein Lieber! Gründlich abgeblitzt in Wiesbaden! . . . Haha –! Umso besser für mich! Das ist mehr, als ich zu hoffen wagte! Das ist ein Sieg! Ein Sieg vor der Schlacht!

Es war ihm, als hätte er persönlich einen Triumph davongetragen. Es schien ihm eine gute Vorbedeutung für die große, allgemeine Kraftprobe der Zukunft. Er konnte Beides nicht mehr trennen: sich und das heilige Rußland. Er vermengte es in dem gemeinsamen Ziel: Deutschland besiegen – Deutschland erobern. Er sagte sich: Ich darf nicht warten, bis der Krieg aufflammt. Ich muß als Einzelner dem Ganzen vorauseilen. Mein Eisen muß ich vorher schmieden. Sowie ich hier fertig bin, fahre ich nach Wiesbaden . . .

Nordwind vom Bosporus her kühlte an diesem Abend die Glut der beiden Weltteile an seinen Ufern. Das Perapalasthotel war noch offen. Nicolai Schjelting speiste da mit dem Fürsten Tschewadse und anderen Freunden. Sie tranken reichlich den lauwarmen französischen Champagner. Auch Schjelting, gegen seine Gewohnheit. Der Sekt hob seine Siegesstimmung.

»Neues aus Wien, Fürst?«

Nein. Auf der russischen Botschaft war noch nichts bekannt. Man entzifferte dort eben Depeschen aus Belgrad. Dicht daneben, in der österreichischen Botschaft, war auffallendes Leben. Viel Verkehr nach dem Boulevard Ayas Pascha, dem Sitz der Deutschen Botschaft. Nun – mochten sie . . . Als man aufbrach, um hinüber in den Cercle d'Orient zu gehen, fühlte Nicolai Schjelting, daß sein Kopf heiß war. Das hinderte ihn nicht, im Klub eine Gruppe jüngerer Diplomaten um sich zu versammeln und sie in seinem weichen, leise lispelnden und affektierten Französisch durch seine Antithesen zu verblüffen. Es waren allerdings nur die Kleinen von den Seinen: ein Portugiese, ein Argentinier, ein Brasilianer – einerlei – er hörte sich sprechen . . .

»Die Wurzel des Übels heißt Preußen!« sagte er. »Belieben Sie, das Wappen Preußens zu betrachten! Es führt als Schildhalter einen wilden Mann. Einen nackten Barbaren. Geben Sie ihm eine Pickelhaube zu seiner Keule, so haben Sie den Militarismus!«

Die Südamerikaner ließen sich mit offenem Mund belehren. Schjelting machte eine wegwerfende Handbewegung in der Richtung nach Stambul.

»Daher die Seelenfreundschaft mit dem Halbmond da drüben. Der Wilde Mann und der Kranke Mann gehören zusammen. Der Lahme trägt den Blinden. Ein edles Paar. Aber die Menschheit wird sich dagegen erheben. Unser Muschik, in dem die Seele Rußlands schlummert, wird der Vollstrecker ihres heiligen Willens sein!«

Staunende Stille um ihn.

»Wir Russen vertreten den allslawischen Gedanken. Er reicht von der Adria bis zum Amur . . . Seit drei Jahrtausenden erfüllt die romanische Mittelmeerkultur Europa und giebt auch Ihren edlen lateinischen Staaten in Süd-Amerika, meine Herren, Sprache und Geist. Den Rest der Erde beherrscht das Angelsachsentum. Beglückwünschen wir uns dazu! Aller guten Dinge sind drei.«

»Sehr interessant!« sagte andächtig der Argentinier zu dem Portugiesen.

»Gestatten Sie mir einen Blick auf die Geodäsie, meine Herren Diplomaten! Sand oder Stein – das ist politisch dieselbe Formel. Montenegro – das ist die Mark Brandenburg. Ein kleines Land, das seine Bewohner zu Eroberern erzieht, weil es sie nicht ernährt! Können Sie sich Montenegro als führenden Staat des Balkans denken? Nein. Im Deutschen Reich ist es der Fall. Das märkische Montenegro herrscht. Beachten Sie, meine Herren: ich gebe keine Meinungen. Ich gebe Tatsachen!«

»Man fängt an, zu begreifen!« sprach der Brasilianer zum Portugiesen.

»Es giebt Methoden des geschichtlichen Denkens, die von selbst zu wichtigen Schlüssen führen. Aus einer Sandwüste ohne Küste kann logischerweise keine Weltmacht werden. Preußen ist ein geschichtlicher Irrtum. Winowat! . . . Ich schlage hier vor Ihnen, als Vertreter des russischen Geistes, reuig an meine Brust. Wir und England haben das Potsdamer Monstrum gezüchtet, weil wir es gegen Frankreich brauchten. Aber jetzt ist der Hecht im Europäischen Karpfenteich zu groß und gefräßig geworden. Man wird ihn fangen und zerlegen!«

Einer der Zuhörer machte ihm mit den Augenbrauen ein warnendes Zeichen. Nicolai Schjelting drehte sich um. Hinter ihm hatten zwei neu eingetretene Herren Platz genommen. Ein Osmane in Uniform, den Zwicker vor dem feinen Generalstabsgesicht. An seiner Seite der Hauptmann Isebrink. Er war im Abendfrack wie die anderen Herren hier. Aber sein sonnengebräuntes preußisches Soldatenantlitz strafte förmlich das Weiß der Hemdbrust Lügen.

Der Argentinier kannte Mahmud Kiazim Bey. Er glaubte, seine Berufsgenossen mit dem einflußreichen türkischen Abteilungschef bekannt machen zu sollen. Der Hauptmann Isebrink sagte dabei lachend und harmlos zu Nicolai Schjelting:

»Na – wir kennen uns ja schon! Erinnern Sie sich an unsere Begegnung in der Eisenbahn in Belgien? Sie fuhren damals im selben Abteil mit Mr. Nicholson.«

»Ich entsinne mich nicht!«

»Wissen Sie nicht, daß Mr. Nicholson jetzt hier ist? Er sammelt Schmetterlinge! Und wo? An den Tschataldschalinien. Zeigen Sie doch mal, Kiazim Bey!«

Er wies das prächtig, beinahe handgroß in bunten Wasserfarben ausgeführte Bild eines Falters.

»Das ist doch harmlos!«

»Gewiß. Wenn man nicht merkt, daß es die Fortlinie bei Tschokandsche darstellt. Hier, diese kobaltblauen Punkte auf den Flügeldecken sind die Geschützstände, die feuerroten Schlängellinien die gedeckten Gänge, das Datum oben enfiliert artilleristisch die ganze Stellung. Zum Glück kenne ich den Schmetterlingsfreund von früher. Unsere Zaptiehs haben ihm seine Pinseleien abgenommen!«

»Oh!« Ein wahrer Schrecken unter den Südländern. Man wagte es, sich an einem Briten zu vergreifen.

». . . Und Admiral Limpus ist ersucht, dahin zu wirken, daß der ihm zugeteilte Oberstleutnant Nicholson von dem Londoner Kriegs-Departement künftig an harmloseren Orten seinen Käscher schwingt!«

»Der Admiral weiß wohl selber, was er zu tun hat«, sagte Schjelting nachlässig.

»Gewiß! Er verrät seit Monaten das Land, dem er dient!«

»Ah . . . Sie erlauben sich . . .«

»Hört . . .«

»Ich bin noch nicht in türkischen Diensten! Ich gestatte mir diese Äußerung mit dem Recht des einfachen Privatmanns!«

Es war ein Schweigen. Die Worte klangen in ihm nach wie ein erster Trompetenstoß zur Schlacht um die Völkerstraße von Byzanz. In Nicolai Schjeltings Kopf perlte der Sekt. Er frug sich: Was ist das mit diesem Preußen? Wie kommt er zu dieser Sprache? Es ist solch ein entschlossen kaltblütiger Ausdruck in seinen Augen: Weiß er vielleicht Etwas? Etwas, was wir noch nicht wissen?

Dann kehrte der alte Hochmut zurück. Pah – wer war denn der Sieger? Jener dort, der aus Wiesbaden Abgereiste, wahrhaftig nicht. Dieser kleine Hauptmann erschien ihm jetzt wie das Sinnbild Deutschlands selbst. Er war schon vor dem Krieg geschlagen. Schjelting wandte ihm, mit einer Drehung des Klubsessels, fast den Rücken und sagte halblaut und lebhaft:

»Wir sprachen von geschichtlichen Richtlinien zur Methode der Erkenntnis. Messen wir daran Preußen! Nun: Preußen ist ein Widerspruch. Etwas, was nach den natürlichen Entwicklungsgesetzen nicht hätte entstehen können. Dieser Widerspruch wurde zuerst im Siebenjährigen Krieg erkannt. Damals bemühte sich ganz Europa, ihn zu beseitigen!«

». . . und bezog bei der Gelegenheit kolossale Dresche!« ergänzte von drüben der Hauptmann Isebrink. Nicolai von Schjelting fuhr herum:

»Verzeihung . . . ich glaubte, zu leise zu sprechen, als daß Sie . . .«

»Oh . . . ich habe tadellose Ohren!«

Schjelting dämpfte seine Stimme, so daß Jener nun wirklich nichts mehr verstehen konnte:

»Auf diese Zeiten müssen wir zurückgreifen. Wir müssen Preußen seine organische Stellung anweisen. Öffnet man den Hecht, so findet man zahllose, unverdaute Dinge in seinem Magen: In Preußen ebenso. Fort damit! Deutschland braucht noch viel mehr Kleinstaaten! Es ist von Natur zu einem lockeren Staatenbündel geschaffen. Das ist seine Geschichte.«

Während er sprach, tat es ihm leid, daß Isebrink das nicht hörte. Wieder kochte in seinem champagnerheißen Hirn die Eifersucht. Er lächelte ironisch, um sich zu besänftigen. Dabei sagte er sich: Wie denn? Er ist ungefährlich. Erledigt. Kanonenfutter. Mehr nicht! Da wirst Du noch viel Tausend Brüder haben, mein Lieber . . .

Ungefährlich . . . ja . . . das hieß . . . Als er sich unwillkürlich wieder umwandte und mit seinem Blick von nervöser Intelligenz dem stählernen Auge Isebrinks begegnete, fühlte er ein plötzliches und körperliches Unbehagen. Es fiel ihm ein: diese Abgüsse des Militarismus hielten die Pistole wie er die Papyros, handhabten den Degen wie Andere den Regenschirm. Der Raum von ihm zu Jenem schien von elektrischer Spannung erfüllt, eine Spannung wie über der ganzen Welt. Nicolai Schjelting erhob sich. Er war doch froh, daß ihm ein Diener meldete, ein Herr wünsche ihn dringend draußen zu sprechen.

Da stand Achille Macrî, der Pariser Finanzagent. Seine schwarzen Rattenaugen liefen glänzend und unruhig hin und her.

»Verzeihung, Herr von Schjelting . . . Haben Sie Nachrichten?«

»Ich verstehe nicht!«

»Ich würde Sie gerne an etwaigen Spekulationen beteiligen!«

». . . Was giebt's?«

»Eben bekam ich diese dringende Depesche aus Paris!«

Schjelting las: »Madame Audouin revient soir.« Er gab dem Levantiner das Blatt zurück.

»Was geht mich dies Frauenzimmer an?«

»Herr von Schjelting . . .«

»Ich kenne sie nicht! Mag sie nach Paris zurückkehren, wann sie will!«

»Herr von Schjelting . . . soll ich es erst sagen? . . . Es ist doch eine verabredete Geheimdepesche! Lesen Sie die Anfangsbuchstaben!«

»Wie denn: M. . . . . . A . . . Mars . . .«

»Der Krieg! . . . Herr von Schjelting . . . der Krieg . . .«

Nicolai Schjelting zeigte seine undurchdringlichste Miene. Vor diesem Coulissier wahrte er seine Allwissenheit.

»Ich weiß von nichts!« sagte er mit einem Lächeln, hinter dem man Alles lesen konnte, und kehrte mit pochendem Herzen in den Club zurück. Dort war er im Begriff, sich von dem Diener den Sommermantel umhängen zu lassen, um rasch einmal nach der russischen Botschaft hinüberzugehen und zu fragen. Dann dachte er sich: Man wird glauben, ich hätte mich vor diesem Preußen zurückgezogen! Er hörte von oben die Stimme der Ausländer. Er runzelte verächtlich die Stirne und betrat wieder den Raum. Eben sagte da Isebrink:

»Zum Beispiel: das dritte sibirische Armeecorps! . . . Nach dem amtlichen russischen Ausweis sitzt es nach wie vor friedlich in Irkutsk!«

Nicolai Schjelting warf sich in einen Klubsessel, legte ein Bein über das andere und versetzte scharf:

»Es steht allerdings in Sibirien! Wie denn nicht?«

». . . weil die siebte und achte Schützendivision schon lange in Polen angekommen sind! Glauben Sie, wir wüßten das nicht?«

»Sie täuschen sich . . .«

»Ich bin Soldat! Sie nicht! Also bitte! Die sibirischen Reservedivisionen sind schon seit Mai auf dem Weg nach Westen. Ebenso die turkestanischen Schützenbrigaden. Das dritte kaukasische Armeecorps hat längst seinen Standort Wladikawkas verlassen. Es gefällt ihm, scheint's, an der galizischen Grenze viel besser!«

»Woher wissen Sie das?«

»Werden Sie mir in Abrede stellen, Herr von Schjelting, daß im Odessaer Militärbezirk große Teile des siebten und achten Corps längst auf Kriegsfuß stehen? . . .«

»In der Tat: ich leugne es!«

»Auch die bevorstehende Mobilisierung der drei Reserve-Jahrgänge der Armee?«

»Wenn es des Imperators Wille ist, wird man sie einberufen! Niemand hat dem Zaren etwas vorzuschreiben!«

»Es ist nur, damit Sie Bescheid wissen, meine Herren, falls aus Versehen einmal die Gewehre losgehen sollten!« sagte Isebrink zu den Kleinstaat-Diplomaten. Dann wandte er sich um und sah Nicolai Schjelting an. Es war eine unangenehme Pause. Dieser Blick hieß: Und wenn Du vorher auf eigene Faust Händel haben willst – bitte: da bin ich!

Schjelting war verwirrt. Das widerfuhr ihm, dem Selbstsicheren, sonst nie. Er entschloß sich, mit einem kühlen Lächeln zu schweigen. Er atmete auf. Da kam der ehrenwerte Arbuthnot über die Schwelle, ein blonder junger Riese, der noch etwas Knabenhaftes an sich hatte. Er war als Kings Messenger zusammen mit einem preußischen reitenden Feldjäger und den Kabinetskurieren anderer Großmächte heute Mittag mit dem Orient-Expreß angekommen. Er brachte die letzten Nachrichten aus Europa. Neuigkeiten? . . . Nicht daß er wüßte! . . . Seine britische Majestät war in Windsor, the Kaiser irgendwo in Norwegen, der Kaiser Franz Josef in Ischl. In Paris, von wo er kam, sprach man von nichts als von dem Prozeß der Madame Caillaux. Der Wojwode Putnik befand sich ruhig außerhalb Serbiens: die Welt lag im tiefsten Sommerfrieden. Nicolai Schjelting strich sich nervös mit der Hand über die Stirne. Er frug sich: Was ist das nun Alles? Was haben sie in Wien vor? Man versteht nicht mehr recht . . . Dabei hatte er das Gefühl, diesem Preußen vorhin die Antwort schuldig geblieben zu sein. Pah . . . Ein Bluff eines dieser Säbelrasseler. Er versetzte süffisant:

»Man sieht mit Dank gegen Gott: Frieden überall. Nach Allerhöchstem Willen: Wer stampfte den Friedenstempel im Haag aus dem Boden? Seine Majestät der Zar!«

»Und seitdem hören die Kriege nicht mehr auf!«

»Wer rief die internationalen Schiedsgerichte statt der Kriege ins Leben? Wieder seine erhabene Person!«

»Eine Viertelmillion Menschen ist mindestens in der Mandschurei tot geblieben!« sagte Isebrink trocken zu dem Argentinier.

»So wird das große, heilige Rußland auch diesmal der Soldatenfaust die Waffe entwinden . . .«

». . . um die Mörderfaust zu schützen!«

Die Herren standen mit großen Augen auf und schauten auf Schjelting, der sich mit ihnen erhob. Er spürte ein sonderbares Zittern in der Herzgegend. Er dachte sich: he – wie ist das? Ehe noch die Gewehre losgehen, soll ich mich hier vor die Pistole stellen? Nicht so ist es gemeint! Ich bin der Träger russischer Intelligenz! Mein Platz ist nicht die vorderste Linie . . .

Paul Isebrink war allein sitzengeblieben. Er sagte kalt und scharf, mit Worten wie gehacktes Eisen:

»Eine schamlose, hundsgemeine Mordtat ist in Serajewo geschehen! Wer zwischen die Mörder und die verdiente Strafe tritt, macht sich zum Mitschuldigen . . .«

»Bestraft die Mörder! Aber nicht ihr Land!«

»Ganz Serbien ist der Mörder!«

»Ruhe, meine Herren . . .«

»Entfernt doch die Diener!«

Nun hatte sich auch Isebrink erhoben.

»Serbische Offiziere haben den Mordanschlag geleitet! Serbische Beamte öffneten den Mördern die Grenzen! Die Mordwerkzeuge stammten aus dem serbischen Regierungs-Arsenal in Kragujewatz!«

»Woher wissen Sie das?«

»Bald werden auch Sie es wissen, Herr von Schjelting, falls es Ihnen wirklich noch nicht bekannt sein sollte!«

Ein Kanzleibeamter der russischen Botschaft drängte sich an den Dienern vorbei in den Raum zu dem Fürsten Tschewadse.

»Euer Erlaucht werden ersucht, sich sofort auf die Mission zu bemühen!«

»Was ist geschehen?«

»Ich weiß es nicht! Seine Hohe Exzellenz sandte nach vielen Herren!«

Nicolai Schjelting hörte es. Vor ihm flackerte wieder die Börsendepesche: »Mars«! Der erste Sturmvogel. Nun kamen sie von allen Seiten. Es legte sich ihm in einem roten Siegesrauschen vor die Augen, der Boden hob sich unter ihm, trug ihn zu einem ungläubigen Jubel empor: der Krieg! Der Krieg kommt! . . . Mein Krieg . . .

»Kommen Sie mit, zur Botschaft!« Der Knjäs Tschewadse nahm ihn unter den Arm. Schjelting widerstrebte:

»Noch habe ich diesem Deutschen nicht geantwortet!«

»Nicht dazu ist die Zeit! Er sprach von Serbien. Rußland nannte er nicht!«

»Aber das große Rußland steht hinter Serbien!«

Nicolai Schjelting sagte es so laut, daß man es im ganzen Raum hören mußte. So! Nun konnte er gehen. Da eilte der Vicomte de la Motte herein, ein französischer Attaché.

»Wissen Sie schon?«

»Nein! Was?«

»Hier! Das Ultimatum Österreichs an Serbien! Es ist kein Geheimnis mehr! Wahrscheinlich sind jetzt schon in Wien die Extrablätter!«

»Ich wußte es schon seit heute Nachmittag!« sagte Isebrink drüben zu dem Argentinier. »Sonst hätte ich nicht so auf gut deutsch meine Meinung ausgesprochen. Aber jetzt geht's in Einem!«

Nicolai Schjelting hatte mit heißen Augen die Depesche überflogen. Er ballte die Faust. Er war bleich geworden.

»Nie wird Rußland das zugeben!« sprach er beinahe feierlich.

»Und Österreich steht vielleicht allein!«

Irgend Jemand hatte es hämisch gemurmelt. Paul Isebrink trat in die Mitte.

»Neben Österreich steht Deutschland. Wie damals – Wer in Europa Lust hat – bitte! . . . Nun, Herr von Schjelting: Sie lächeln?«

»Ich freue mich, das von Ihnen zu hören! Es eröffnet mir den Ausblick auf die Stunde der großen Abrechnung, die die slawische Seele ersehnt!«

». . . und vor dem Ernst des Augenblicks verschwinden diese kleinen persönlichen Differenzen!« versetzte vermittelnd der Argentinier mit einem Blick auf den Hauptmann Isebrink. Der ließ sich schon, freundschaftlich neben Mahmud Kiazim Bey stehend, von dem Diener Hut und Handschuhe reichen.

»Ich hab' jetzt wirklich Wichtigeres zu tun!« sagte er. »Meine Herren: jetzt kommt das große Reinemachen! Weiß Gott: Es tat Not!«


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