Rudolph Stratz
Das deutsche Wunder
Rudolph Stratz

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III.

Heil Dir im Siegerkranz . . .«

Langsam neigten sich die Fahnen aus der langen Glitzerreihe präsentierter Gewehre vor Kaiser Wilhelm II., der an diesem achten Maitag des Jahres 1914 die Front seiner Truppen im Elsaß abritt. Er hielt den Marschallstab in der Hand. Sein Auge blickte ernst. Preußische Strenge furchte die federbuschumflatterten Generalsköpfe seines Gefolges.

Tiefer senkten sich die Banner vor ihrem Kriegsherrn, berührten mit ihrem meist noch unzerschossenen und unbefleckten Seidengebausch den Rasen. Die Mehrzahl dieser Bataillone war noch jung. Der lange, nun schon fast fünfzigjährige Frieden hatte sie entstehen sehen. Es war nicht Erinnerung an Großtaten, sondern Hoffnung und Bereitschaft vor den Schleiern der Zukunft, was feierlich und brausend aus allen diesen Musikkapellen, zwischen diesem Wall von Mann und Roß aus Erz erklang:

»Heil Dir im Siegerkranz,
Herrscher des Vaterlands,
Heil Kaiser, Dir!«

In weitem Bogen schauten von der Hochlandsburg bis Drei Ähren die Schlösser und Hügel und blauen Höhen des Wasgenwaldes auf die Kolmarer Ebene hernieder. Die Nacht hindurch, den ganzen Vormittag hatte es in den Schluchten der Hochvogesen wie von einem Maigewitter geblitzt und gegrollt. Noch jetzt war dort, gegen die französische Grenze hin, die Manöverübung nicht ganz zu Ende. Da unten aber rückten schon, von der Parade kommend, die Regimenter unter klingendem Spiel in Kolmar ein. Rufacher- und Vauban-Straße, Rapp-Platz und Marsfeld-Wall, Turenne-Straße und Judengasse wimmelten vom bunten Farbenspiel der großen Garnison. Viele Stämme, viele Gauen Deutschlands marschierten da zwischen den mittelalterlichen Häusern der einstigen Freien Reichsstadt. Grüne Rheinische und Mecklenburger Jäger, himmelblaue Kurmärkische Dragoner, blaurote Oberelsässische Infanteristen, graugrüne Jäger zu Pferd, Badische Kanoniere, ernste dunkle Hohenzoller'sche Fuß-Artillerie, Württemberger Fußvolk, Festungs-Fernsprech-Kompagnien, Straßburger Pioniere, das Alles flutete in die offenen Kasernentore, zog durch zum Bahnhof, bildete lange Staubschlangen draußen im grünen Land, wo der Klotz von Breisach trotzig den Übergang über den Rhein bewachte und fern sich das Straßburger Münster hob.

»Donnerwetter, Isebrink!«

»Isebrink als Schlachtenbummler!«

Paul Isebrink trat an den Rundtisch heran, wo die Herren, noch bestaubt vom Dienst, bei einem Mittagsschoppen saßen, und salutierte lachend mit dem Spazierstock wie mit einem Säbel.

»Melde mich gehorsamst zur Stelle! Wie meinen der Herr Major? Zu Befehl: Ich bin heute in aller Herrgottsfrühe aus Belgien in Metz angekommen und benutze den halben freien Tag, um rasch zu meinem alten Regiment herüberzuspritzen!«

»Er ist nämlich hier im fünfzehnten Armeekorps bekannt wie ein bunter Hund!« erklärte der Major einem frisch herversetzten Hauptmann.

»Na – wo denn nicht?«

»Bei den Türken war er auch schon zwei Jahre!«

»Vielleicht gehe ich nächstens wieder hin!«

»Nanu!«

»Wenn ich will, kann ich jeden Augenblick! Und ich hab' halb und halb Lust!«

»Prost Isebrink!«

»Prost! Na Kinder – Euch haben sie ja, scheint's, heute die Hammelbeine tüchtig langgezogen!«

»Vor allem Ihrem Regiment Weimar! Glauben Sie ja nicht, daß Sie das hier unten treffen! Das sitzt noch friedlich an der Schlucht oben in den Vogesen, biwakiert, glaub ich, auch dort!«

»Tut nichts! Vläming nimmt Sie mit! Er autelt doch am Abend hinauf!«

»Mit Vergnügen, Herr Hauptmann!« sagte vom Nebentisch der lange, hagere Fliegerleutnant, Graf Vläming.

»Haben Sie heute Kleinholz gemacht?«

»Ausnahmsweise: ja!«

»Was kommt dort von der Höh? Er ist nämlich unter furchtbarem Skandal oben auf einer Tanne gelandet!«

». . . weil einen die Grenze unsicher macht! Soll die der Kuckuck von oben unterscheiden! Und wenn man sie überfliegt, giebt's ein Mordgeschrei!«

»Dabei tragen sie bei uns die französischen Zirkusflieger beinahe auf den Schultern herum!«

»Und ein anderer Franzose zerhaut inzwischen die Denkmäler in der Sieges-Allee!«

»Wir lassen uns ja Alles gefallen!«

»Übrigens: die Franzosen halten auch dicht hinter der Schlucht eine Geländeübung ab«, sagte Graf Vläming. »Ich hab' deutlich die Tellermützen gesehen.«

»Alpenjäger?«

»Ja. Und bei den Roches du Diable drüben . . . wenn sie da nicht in dem Hotel Betten sonnten, dann waren das Rothosen!«

»Also 20. Armeekorps, 149. Regiment!« sagte Paul Isebrink.

»Wie Sie das so im Kopf haben . . .«

»Der kennt alle Armeen auswendig!«

»Na – nun laßt mich 'mal aus dem Spiel! Das ist nicht so interessant!«

»Das wissen Sie, Isebrink, daß die 99er neulich wieder mit Sang und Klang in Zabern einmarschiert sind?«

»Und das Volk hat wohl mit faulen Äppeln geschmissen?«

»Hurrah haben sie geschrieen!«

»Verhetzt waren sie nur!«

»Ja, wer hetzt denn nicht?« sagte der Hauptmann Isebrink. »Herrschaften, die Welt ist ja längst wahnsinnig geworden! Ihr merkt das nur nicht so, weil Ihr nicht so herauskommt!«

Draußen auf der Straße gingen einige Notabeln an dem offenen Fenster vorüber. Sie sprachen laut und sichtlich betont Französisch.

»Giebts denn Krieg, Isebrink?«

»Wie soll ich's wissen? Ich wundere mich jeden Tag, daß die Geschichte immer noch hält! Also Graf Vläming, Sie rufen mich gütigst, wenn Sie losgondeln wollen! Ich lasse mir unterdessen hier ein Zimmer geben und erledige einen Brief.«

»Jawohl, Herr Hauptmann!«

Oben schrieb Paul Isebrink zunächst die Adresse: »Fräulein Ingeborg Tillesen in Wiesbaden, Sonnebergerstraße 439.« Dann weiter:

»Meine liebe Freundin!

Ihren Brief aus Moskau kann ich erst heute beantworten. Unsere deutschen Briefkästen sind blau und treu, wie unten unsere Soldaten. Im Ausland giebt es schwarze Kabinette. Wir Beide teilen uns – weiß Gott – keine Staatsgeheimnisse mit. Aber es ist mir doch ein widerwärtiger Gedanke, daß so ein Belgier oder Russe in dem herumschnüffeln sollte, was wir uns schreiben . . .«

Auf dem Pflaster schütterte immer noch der Marschschritt, schrillten die Querpfeifen, rasselten die Trommeln. Isebrink sah hinab . . . Aha – die 30te Division, Straßburger Bataillone, die an der Ecke drüben zum Bahnhof einschwenkten. Vielleicht die Brigade Ludendorff. Im Kaffeehaus unter Isebrinks Fenster saßen an einem nach Pariser Art auf die Straße gerückten Tischchen ein paar junge Französlinge mit blauer Hemdbrust, weißem Stehkragen und roter Halsbinde, und zu den Farben der Tricolore die blutrote Boulanger-Nelke im Knopfloch. Sie lachten, die Hüte im Genick, frech zu den müden und verstaubten Truppen hinüber.

»Aber habe ich Ihnen überhaupt etwas zu schreiben, liebe Ingeborg? Man kommt sich manchmal schon ganz dumm vor, als der getreue Eckart in Uniform. Ihr glaubt Einem ja nicht. Sie wenigstens! Mit Ihrem Amerika!

Ich habe eben den Kaiser gesehen. Neulich Poincaré und den König von England. Und gestern noch Albert von Belgien. Das muß man sich gegenüber halten, wenn man sagt: Gottseidank, ich habe unsern Kaiser gesehen! Wir sind ja in Deutschland nie zufrieden. Aber was sind diese gekrönten Häupter da drüben gegen ihn? Diese Schwatzmichel von Advokaten, die in Zylinder und Regenschirm Paraden abnehmen. Unser Heer hat wirklich einen Herrn. Unsere Flotte auch. Er geht von hier nach Metz, fährt nach Helgoland. Er ist immer im Dienst. Und wir mit ihm und unter ihm. Das klingt ja in Ihrem Amerika sehr neckisch: ›jeder für sich!‹ Aber, liebes Kind, wenn wir das sagen wollten, mitten im Herzen Europas, so hätten wir in Kurzem die Kosacken in Berlin und die Turkos in Wiesbaden. Wir haben uns ja schon tausendmal darüber gestritten. Es ist um die Wände hinaufzugehen, daß Sie das nicht einsehen!«

Die Straße unten war jetzt frei von Marschkolonnen, aber voll Menschen. Durch das neugierige Gewoge schritt ein ältlicher Abbé im Priestergewande, mit verkniffenen Zügen, lebhaft auf Französisch mit seinen Begleitern plaudernd. Alles sah ihm voll Interesse nach. Manche grüßten.

»Eben ging der alte, ehrliche Wetterlé unten vorbei. Der ist eigentlich eine wandelnde Reklame für uns – sozusagen die erste Schwalbe, die den Krieg anzeigt! Möchten Sie es doch in letzter Stunde kapieren, Ingeborg, daß ich nicht zum Spaß so ernst bin! Bald ist es vielleicht zu spät! Ich bin doch wahrhaftig mit allen Hunden gehetzt. Ich weiß mehr als Andere, Vieles, was ich nicht sagen darf. Eben wird mir das Auto gemeldet. Ich darf die Herren nicht warten lassen. Auf Wiedersehen in Wiesbaden! Ich habe immer noch Hoffnung, daß Einer von uns Beiden nachgiebt. Ich sicher nicht. Aber Sie sind ja das, worauf Sie so stolz sind: ein freier Mensch! Gebrauchen Sie diese Freiheit, um sie zu opfern . . .«

»Herr Hauptmann stammen aus dem Regiment Bernhard von Weimar?« frug Graf Vläming, während der graue Kraftwagen knatternd das Münstertal entlang schoß. »Eigentlich 'ne tolle Garnison . . . Dagegen sind ja Mörchingen und Dieuze der reine Zucker!«

»Solche Drecknester haben auch ihr Gutes! Da setzt sich der Mensch aus reinem Stumpfsinn hin und arbeitet. Wir waren da vier strebsame Männerchen mit der versteckten Absicht auf die Kriegsakademie. Da ließen wir uns mit vereinten Kräften einen russischen Studenten aus Berlin als Lehrer für die Aussprache kommen und das nächste Jahr eine englische Miß – Nee, lachen Sie nicht – ein richtiges Scheusal und längst aus dem Schneider! Die brachte Einem nun so den Zungenschlag bei! Na und Französisch, das lernt sich ja hier von selber. So kommt der Mensch eben schließlich in den Generalstab!«

»Beneidenswert!«

»Gott . . . Glück!«

Der Kraftwagen hatte die Stadt Münster hinter sich gelassen und stieg mit donnernder Auspuffklappe steil durch dunklen Hochwald in die Vogesenschluchten empor. Mächtig wölbte sich zur Rechten das Sulzer Belchen. Man war schon ganz nahe an der französischen Grenze.

»Sagen Sie 'mal: wo stecken denn nun eigentlich unsere Kriegsknechte? Die sind doch nicht etwa in der Zerstreutheit nach Frankreich hinüber geklettert? Wir wollen doch mal den Meldereiter da fragen! Gleich um die Ecke lagert das Regiment? Na – famos!«

Ein Halloh im Biwak auf der grünen Maienmatte, über der sich hoch und kahl im Halbbogen der Grenzkamm der Vogesen wölbte. Graf Vläming dachte sich: So möchte ich auch einmal von den alten Kameraden begrüßt werden, als der Stolz des Truppenteils, von dem es in zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren heißt: General der Infanterie von Isebrink ging aus dem Regiment Bernhard von Weimar hervor. Steht à la suite. Im Kasino hängt sein Bild. Die gestickten goldenen Eichenblätter am Kragen, die schlichte hohe Hausnummer auf den Achselstücken . . .

»So . . . Bitte an meine grüne Seite!« sprach der Oberst von Münzingen. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört! Ihr Geist lebt sozusagen unter uns Bernhardinern weiter! Na, Graf Vläming, wann holen Sie nun Ihre Luftdroschke von den Bäumen runter?«

»Wenn der Vollmond aufgeht, Herr Oberst! Hoffentlich sind die Kerle drüben bis dahin weg – die brauchen auch nicht Alles zu sehen!«

»Na, wir fangen jetzt schon an, sachte abzubauen!« sagte Hauptmann Vierling von der Fußartillerie. »Ich hab' eben schon runtertelefoniert! Aber fein war's – was, Elsterburg?«

»Keine Katze hat uns entdeckt!« meinte der Pionierleutnant stolz. »Nicht einmal unsere eigenen Flieger!«

»Wo haben Sie denn nun eigentlich Ihre Brummer versteckt?«

»Suchen Sie sie doch! Sie sehen sie auf zehn Schritte nicht.«

»Ach, die Batteriestellung am Eck, hinter Stoßweier, zweihundert Meter nördlich von der Mühle?« frug Paul Isebrink. Die beiden Herren im dunklen Sammtkragen entsetzten sich.

»Woher wissen Sie denn das?«

»Ich hab' im Vorbeifahren das künstliche Wäldchen gesehen. Wenn die Bäume echt wären, könnte das Gras dahinter im Schatten eigentlich doch nicht so dicht wachsen, nicht wahr? . . . Herrgott, Güldenpfennig! Sie waren doch Einjähriger in meiner Kompagnie?«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann! Ich mache schon meine vierte Offiziersübung!«

Der blonde Volksschullehrer stand dienstlich stramm und setzte sich dann auf den freien Platz zwischen dem Grafen Vläming und dem Kaiserlichen Regierungsrat und Hauptmann der Landwehr Lobegast. Männer aller Stände und Berufe hielten hier in der Feldbinde des Offiziers am Grenzwall die Wacht gegen Welschland. Dann erhob sich der Flieger und reckte seine langen Beine, um nach seiner Taube zu sehen. Es war nun schon spät am Abend. Der Vollmond stand hell am frostklaren Himmel. Die Herren hatten sich in ihre Mäntel gewickelt und saßen bei einem Glase Grogk um das flackernde Biwakfeuer. Der Major Fieser sagte:

»Wissen Sie, Isebrink, einen Fehler haben Sie immer noch: keine Frau!«

»Wie alt sind Sie denn?«

»Fünfunddreißig, Herr Oberst!«

»Na, da wird es aber Zeit!«

»Ja, woher nehmen und nicht stehlen!« sagte Isebrink tiefsinnig und schob ein Stück Reisig in die Glut. Der Feuerschein spielte über sein gebräuntes Gesicht. Unten dämpfte der Hauptmann von Riedt seinen Baß gegen den Landwehrhauptmann Lobegast:

»Der ist gar nicht so blöde –, ach nee! Aber er hat eine Geschichte in Wiesbaden – schon drei Jahre . . . ich weiß nicht: will er nicht – will sie nicht – man wird nicht klug draus!«

Es war eine Stille. In die fiel ganz von ferne der schwache Manöverknall eines Schusses. Eine Bewegung unter den Herren.

»Aha – sie stecken doch noch drüben!«

»Oder ein Jäger . . .«

»Auf was soll er denn schießen, Anfang Mai?«

»Wetten, daß sie's sind!«

»Drei Flaschen Matthäus Müller!«

»Kolkt doch nicht! Wer soll denn das entscheiden?«

Jenseits des Vogesenkammes schoß ein Raketenstreifen in die Luft. Eine grüne Leuchtkugel stand einige Sekunden vor den Sternen. Eine rote erschien ganz hinten über schwarzem Tannenwipfelgezack. Die Franzosen gaben sich Zeichen. Es war doch eine größere Übung. Ein leiser Windschauer ging, wie eine Vorahnung von Krieg, durch die stille Nacht. Eine Sternschnuppe schoß da herunter, gerade in der Richtung, in die der Oberst mit seinen Offizieren schaute. Als er sich wieder nach dem Platz zu seiner Linken umwandte, war der leer. Der Major Fieser sagte:

»Isebrink macht scheints noch eine Mondschein-Promenade längs der Grenze. Da oben geht er!«

Paul Isebrink kannte von der Jagd her hier Weg und Steg. Er stieg schnell die Hänge gegen den Hoheneck hinan, stand oben auf der Hochfläche, auf der die Nachtnebel brauten. In regelmäßigen Abständen schimmerten zwischen ihnen die weißen Grenzsteine. Er machte vor ihnen, noch auf deutschem Boden, halt. Bäche sprudelten durch das Mitternachtsschweigen der Mosel zu und plätscherten zu seinen Füßen.

Buschwald. Mondschein. Im Tal dicht unter ihm ein schwaches Licht. Es bewegte sich, so als hielte jemand eine elektrische Taschenlaterne in der Hand. Nun sah er auch die dunklen Gestalten in Käppi und Kapuze, Offiziere um das glimmende Feuer. Dahinter im Dämmern Zeltbahnen, Gäule mit hängendem Kopf, stumme Posten . . . Da unten schlief, scheinbar in der Nacht sich in das Endlose verlierend, das französische Heer . . .

Wieder das Flimmern des Glühwurms über der Landkarte. Ein Lachen.

»Eh – Le Fol: haben Sie den Weg nach dem Rhein gefunden?«

»Wir werden ihn finden, mein Kapitän!«

»Das denken wir schon lange – was, Guyon?«

»Einmal entrollen sich unsere Banner!«

»Pst! Nicht so laut! Der Colonel schläft!«

»Hat da nicht eben ein Ast geknackt?«

»Mir schien es auch!«

Ein Horchen und Lauschen.

»Jetzt wieder! Aber hoch oben!«

»Man hört nichts mehr!«

»Pah! Ein Lapin! Wieviel Uhr, Le Fol?«

»Wenig nach Mitternacht, mein Kapitän!«

»Brr! . . . Es ist kalt! Nun: schließlich kommt der Tag!«

»Schließlich kommt der Tag!«

Paul Isebrink hatte sich umgedreht, um zurückzukehren, und hemmte, das Gesicht dem Rhein zugewandt, nach ein paar Schritten im Heidekraut den Schritt. Da unten im deutschen Wiesengrund lag schon wieder, bläulich geisterhaft im grellen Mondschein, das schlafende Heer: Ein Rund von Pickelhauben um ersterbende Glut, stumm glitzernde Gewehrpyramiden in Reihen vor den Zelten, still im Stehen an ihren Pflöcken schlafende Pferde, einsame Gestalten im Mantel, das Gewehr unter dem Arm, auf Wacht.

Der oben stand zwischen den beiden Heeren. Auf seinen Zügen lag jetzt der tiefste Ernst seines Wesens, den er selten Anderen zeigte, den er hart und beinahe schamhaft in sich verschloß. Es ging ihm durch den Kopf: da ruhen Mann und Roß, bis wieder einmal die Raben um den Kyffhäuser fliegen. Und so wie hier schlafen überall in Europa unterirdisch bis an die Zähne gerüstet die eisernen Männer. Oben ist Sonnenschein. Da sieht man sie nicht. Hat andere Dinge im Kopf. Glaubt kaum mehr an sie und ihr Erwachen. Wir, die Offiziere, wissen es besser . . .

Wir wissen, was sich die Andern nicht mehr sagen: noch nie war ewiger Friede auf Erden! Immer wieder steigt die Stunde auf, um die keiner herumkommt, kein Mensch und kein Volk. Dann sei Gott mit Dir und Deiner Kraft, mein deutsches Land . . .

Im Wiesengrund unten verloschen die letzten Feuerpünktchen. Die Herren waren in die Klappe gekrochen. Wozu sie jetzt noch stören! Man konnte ihnen ja in Münster den Ausgang ihrer Wette in ein paar Zeilen hinterlassen. Dort fand man wohl schon den ersten Morgenzug zurück nach Kolmar und weiter nach Berlin.

Es war ein stundenlanger Weg durch Tannenwald und totenstille Nacht bergab. Ehe noch Isebrink das Tal erreichte, begann sich drüben über dem Rhein der Himmel zu färben: Feurige Zeichen erschienen an ihm. Unheimliche Flammenstreifen glühten auf, vergrößerten sich schnell, flossen ineinander. Eine ungeheure düstere Röte wuchs reißend empor und füllte, soweit ein Menschenauge reichte, die Himmelswölbung. Wie ein Weltbrand. Wie ein Meer von Blut.

In der ahnenden Morgenfrühe hallten die Schritte des Hauptmanns Isebrink auf der einsamen Straße wieder. Von Neuem dachte er an die Zukunft und sagte sich: Was wir haben, schützen wir nur durch das, was wir sind. Und nur das lebt, wofür man stirbt . . .


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