Rudolph Stratz
Das deutsche Wunder
Rudolph Stratz

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II.

Man hätte glauben können, es sei der Zar, der an diesem heißen Frühlingstag, zu Ende April, vom jungen Grün der Avenue Gabriel her, umdonnert vom Jubelsturm eines schwarzen Menschenmeers über den Concordienplatz seinen Einzug in Paris hielt. Aber es war nicht der schattenhafte Selbstherrscher aller Reußen, sondern der zweite Herr der Erde, sein gekrönter Vetter von Großbritannien, ihm zum Verwechseln ähnlich, mit unbedeutenden Zügen über kurzem, blondem Vollbart, leerem Lächeln, wie jener ein Fleisch gewordener Widerspruch zur Macht über die halbe Menschheit.

»Vive l'Angleterre!«

Es rollte wie Donner über die weite Fläche. Von den Jahrtausenden ihres Luxor-Obelisks sahen Ra und Thot, Anubis und Nephtat auf das Schneeflockengewimmel wehender Tücher und weißer Menschengesichter. Die Sonne funkelte im Silberspiel auf den Helmen und Kürassen der Gepanzerten, die in langem Zug der vierspännigen Karosse des Kaisers von Indien vorausritten. Er dankte verlegen freundlich rechts und links den Huldigungen. Madame Poincaré saß neben ihm.

»Vive Poincaré!«

Im nächsten Wagen folgte der Präsident der Republik mit der Königin von England. Sein kantiger Lothringer Kopf strahlte von befriedigter Eitelkeit. Wie er sich da selbstgefällig in seiner Volkstümlichkeit sonnte, verkörperte sich in ihm die Republik der Rechtsanwälte und Kammerredner, das fünfzigjährige Reich der Phrase. Doppelreihen von roten Käppis und Hosen und blauen Schwalbenschwänzen schieden seinen Triumphzug von dem dahinter jubelnden Volk. ›Die große Stumme‹, die Armee, hielt Wacht.

»Vive la Russie! Vive l' Angleterre!«

Vergessen Krim und Beresina! Wo war jetzt Abukir und Trafalgar, Waterloo und Faschoda! Aus allen Fenstern blähten sich nebeneinander Union Jack und Tricolore, flatterten von den Dächern, grüßten mit tausend Wimpeln über das Häusermeer an der Seine. Ein Fieberrausch von Festfarben, Frühlingshitze, Zukunftshoffnung über Paris. Das aufgeregte Summen und Wirren eines hitzigen, stechlustigen millionenfachen Bienenschwarms. Drüben, auf der Vendôme-Säule, schaute hoch vom blauen Himmel der kleine Erderoberer in Cäsarentracht hernieder auf sein wimmelndes Reich.

Der Chef des Militärstaates des Präsidenten lenkte sein Roß auf die Konkordienbrücke und führte den Zug hinüber nach dem rechten Seine-Ufer. Auf dem Platz dahinter lösten sich die Spaliere. Die Menge wogte um die glitzernden Springbrunnenstrahlen. Seitwärts, nahe der englischen Botschaft, marschierte ein Regiment, von der Parade kommend, vorbei. Ah – diese braven 102ten von der Linie! Die Hüte hoben sich vor der Fahne, die Frauen winkten gerührt und warfen ihr Kußhände zu, der Taktstock zuckte über den Köpfen: in wildem schmetterndem Jubel setzte es ein, riß die Herzen mit sich fort, der Traum der Weltherrschaft rauschte aus dem Schreien der Hörner, dem Wirbeln der Trommeln, dem Gellen der Trompeten, dem Donner des Paukenschlags: »Allons, enfants de la patrie!« Hunderte von Stimmen sangen es mit:

»Auf, Kinder Frankreichs, zu den Waffen!
Der Tag des Ruhms ist wieder da!«

»Noch nicht da! Aber nah!« sagte der General de Rigolet de Mezeyrac. Er war ein starker Siebziger und schon lange nicht mehr im Dienst. Die weiße Frühlingsweste wölbte sich, vom roten Bändchen der Ehrenlegion im Knopfloch seines Schoßrocks überflimmert, über seinem kleinen, gallisch-rundlichen Leib. Aber auch in seinen Augen glühte über dem schneeweißen Henriquatre der Massenrausch der Marseillaise.

»Hoffentlich nahe, mein General!«

Er und der Oberstleutnant Grégoire standen an der Ecke des Platzes vor einer Insel der Trauer inmitten des allgemeinen Festjubels. Kränze mit schwarzen Schleifen türmten sich da vor einem Sockel, Herren in Zylinder bückten sich stumm mit umflorten Blumen, Damen knüpften sich mit theatralischer Pose das Veilchensträußchen von der Brust, führten es an die Lippen und legten es schmerzlich nieder.

Auch der General de Rigolet de Mezeyrac schwenkte seinen Hut und begrüßte mit einer großen Geste das Standbild der Stadt Straßburg, dessen Elsässerhaube dunkel, beinahe unheimlich, die Franzosen unten überschattete.

»Wo frühstücken Sie, mein General?«

»Im Cercle National! Ich erwarte dort den Mann meiner Enkelin, Nicolai Schjelting!«

»Oh . . . der Vielgenannte!«

»Er muß heute früh in Paris angekommen sein.«

»Mit den letzten Nachrichten unserer bewunderungswürdigen russischen Freunde! Ich beglückwünsche Sie, mein General!«

»Leider mußte er einige Zeit unterwegs in Berlin Rast machen. Er fühlte sich nicht wohl!«

»Wir werden ihn dies Berlin vergessen lassen! Er kommt grade noch zu unseren Festen zurecht!«

»Er fährt, glaube ich, heute noch nach Brüssel zu seiner Frau und ihren Eltern. Dieser gute Nicolai ist kein Mann der Feste und der Öffentlichkeit. Er wirkt im Stillen!«

». . . bis wir ihn eines Tages hier als Nachfolger Iswolskys begrüßen!« sagte der Oberstleutnant Grégoire. Er war als Mitglied des mächtigen zweiten Büros der administrativen Sektion des französischen Generalstabs in manche Geheimnisse eingeweiht. Der General lächelte. Er hörte es gern. Es war keine leere Schmeichelei. Es lag im Bereich der Möglichkeit . . . an jenem Tag, da keine Trauerkränze mehr zu den Füßen der Stadt Straßburg lagen . . .

Sie gingen die Rue Royale hinauf, an den gepuderten Dirnen und den übernächtigen Kellnerfratzen der Bar Maxim vorbei. An der Madeleine-Kirche zog der General den Hut vor ein paar Priestern oben auf den Stufen. Er war ein Mann der alten Schule und versäumte nie seine Messe. Nicht nur die Altersgrenze, sondern auch die Freimaurer in der Armee hatten ihm das Genick gebrochen. Er sprach das barsch und offen aus, oft mitten in dem großen Offizierskasino der Armee und Marine, in dem er jetzt nach dem Mann seiner Enkelin frug.

Nein! Monsieur de Schjelting war noch nicht dagewesen.

Das große Gebäude an der Ecke der Rue de la Paix war heute voll Trubel und Leben. Viel mehr Uniformen unter dem Zivil als sonst. Darunter auch fremdartige von England. Ein scharlachroter, baumlanger Coldstream-Gardist mit einem Turm von einer Bärenmütze, neben dem ein schwarzverschnürter, französischer Hauptmann winzig aussah, ein milchbärtiger Lord von einem der schottischen Hochland-Regimenter mit gewürfeltem Rock und nackten Knieen. Der alte Rigolet schmunzelte:

»Arme Burschen! Sie lieben sich und können es sich nicht sagen!«

Ein indischer Fürst in rotem Turban stand, von den Briten mitgebracht, vor dem Araberscheich eines Spahi-Regiments mit dem Orden der Ehrenlegion auf dem weißen Burnus. Der Afrikaner verstand nur französisch, der Asiate nur englisch. Die beiden bräunlichen Männer lächelten sich unsicher inmitten ihrer Zwingherren an. Ringsum ein Stimmengeschwirr der Offiziere.

»Was war im Salon ausgestellt? Eine Büste Wilhelms II.?«

»Ah! Hört Ihr's?«

»Erledigt! Die Direktion wich der Entrüstung und hat sie entfernt!«

»Bravo!«

»Befreit uns lieber von diesem Jaurès!« sprach düster der schwarzbärtige Kapitän Antonelli, ein Korse.

»Auch seine Zeit wird kommen!«

»Wie ist das eigentlich mit dem Pulver, Leblanc?«

»Es ist richtig! Wir haben große Bestellungen in Italien und Schweden gemacht. Aber natürlich nur zum Vergleich mit unserm Nitroglycerin!« sagte der Schiffsleutnant Leblanc lächelnd. Herr von Rigolet redete daneben auf einen hageren straffen General vom ›commandement supérieur de la défense‹ ein, der das breite rote Band der Ehrenlegion quer über der Uniform trug.

»Ah – mein Alter – mich wirst du nicht los! Frankreich – das ist die Freiheit! Ich folge Euch als Schlachtenbummler!«

»Wohin, mein General?«

»An die belgische Grenze! Übermorgen geht der ganze Generalstab dorthin. Vierzehn Tage kriegsmäßige Übungen! Fünfundzwanzig Generale, zweihundertfünfzig Offiziere! Eine blaue und rote Partei!«

Der englische Riese in Rot und der schottische Lord konnten gut französisch. Bei der Erwähnung Belgiens zeigten sie verständnisvoll ihre breiten, weißen Zähne. Man lächelte sich an. Gesprochen wurde nichts. Man wußte ja Bescheid. War längst im Reinen. An einem der Fenster drängte sich eine Gruppe Offiziere und schaute hinaus auf Staub, Sonnenglut und Schmutz des fahnenumhangenen Opernplatzes, zwischen dessen Automobilgewühl sich von beiden Seiten der Boulevards her immer neue Menschenmassen ergossen. Der blonde Leutnant Schouman, der wie ein deutscher Lehrer aussah, drehte sich plötzlich um und gab dem Oberstleutnant Grégoire ein aufgeregtes Zeichen, heranzutreten.

»Da ist er!«

»Wer?«

Zugleich fuhr der Major Michelin auf, wie ein Jäger beim Anblick des Wilds.

»Er geht quer über den Platz!«

»Kommt er hier herüber?«

»Ja!«

»Ah – das ist dreist!«

»Wer denn nur?« Grégoire schob ungestüm die gespannt lauernden jüngeren Offiziere vom Zweiten Büro des Nachrichtendienstes beiseite. Er war etwas kurzsichtig.

»Wer? Isebrink!«

»Isebrink! Erkennen Sie ihn nicht, mein Oberstleutnant?«

»Sapristi! Ja – das ist Isebrink!«

Draußen auf der flaggenbunten Rue de la Paix wimmelten im Sonnenschein die Pariser und ihre Gäste: Engländer, die zu vielen Tausenden mit dem König über den Kanal herübergespritzt waren, Yankees in Scharen. Nur durch seine straffe Haltung unterschied sich da einer von den Hängeschultern der Angelsachsen. Er schlenderte langsam die Diamantenstraße herab, mitten im Menschenstrom, und schaute harmlos neugierig nach rechts und links.

»Zeigen Sie ihn mir doch, Schouman!«

»Herrgott – . . . da drüben! In dem grauen Frühlingsanzug!«

»Mit dem dunkelblonden Schnurrbart und dem sonnenverbrannten Gesicht?«

». . . und dem Strohhut im Genick! Er hat doch wahrhaftig die Stirne und sieht zu uns her und lächelt!«

»Er darf gar nicht nach Paris! Wilhelm hat es seinen Offizieren verboten!«

»Das ist Spionage!«

»Leider nicht!« sagte der Oberstleutnant Grégoire vom Nachrichtendienst. »Es wurde uns von der Deutschen Botschaft amtlich mitgeteilt, daß der Hauptmann Isebrink auf vierundzwanzig Stunden zum Besuch eines Freundes Paris betreten würde!«

»Dann überwacht ihn wenigstens, parbleu!«

»Unbesorgt! Er hat schon sein Ehrengeleit, wo er geht und steht! Drei Schatten mindestens. Der Camelot da neben ihm ist einer von unsern Agenten, der Blusenmann hier auf unserer Straßenseite auch. Der alte würdige Herr im Zylinder zehn Schritte hinter ihm kontrolliert den Sicherheitsdienst!«

Paul Isebrink war draußen auf dem breiten Bürgersteig stehen geblieben, wartete, bis der Greis herangekommen war, und lüftete vor ihm den Hut. Eine Sekunde streifte dabei sein Blick die bunten Uniformen an den Fenstern des ihm wohlbekannten Cercle National.

»Jetzt läßt er sich auch noch von unserem Spitzel Feuer geben!«

»Verfluchter Kerl! Er macht sich über uns lustig!«

»Ah – v'là un type!«

»Ist er so gefährlich?« frug der Schotte.

»Gefährlich? Mein Gott – er ist im Großen Generalstab in Berlin!«

»Und bis vor ein paar Jahren war er Hauptmann in einer kleinen Grenzgarnison in den Vogesen!«

»Ah – wir kennen ihn wohl!«

»Wir verfolgen jeden seiner Schritte!« sagte der Oberstleutnant vom Zweiten Büro. »Er kam gestern aus Luxemburg. Er wohnt im Grandhotel drüben. Er hat dort vorhin im Eisenbahnbüro eine Karte für den Brüsseler Nachmittagsschnellzug genommen! Wir wissen Alles . . .«

Der lange rote Brite grinste.

»Im Königlichen Jachtgeschwader in Cowes haben wir auch manche Sportcharaktere, die nirgends lieber als zwischen Emden und Brunsbüttel kreuzen!«

Um ihn lachten die jungen Offiziere zu dem kleinen blonden Leutnant.

»Schouman macht auch nächstens wieder eine Geschäftsreise über den Rhein!«

»Antonelli hat jetzt noch Schwielen an den Händen. Kein Spaß vier Wochen lang als italienischer Erdarbeiter zu schippen!«

Der Korse schwieg. Es war die Wagelust des Wilderers, das Pirschen an verbotener Grenze, bei den Offizieren, den Heeren in dem endlosen Frieden.

»Nun – da hat der General ihn ja gefunden!« sagte der Oberstleutnant Grégoire und blickte nach der Tür. Durch die kam Herr von Rigolet. Er hielt einen schlanken, aristokratisch aussehenden Mann in den Dreißigern mit unruhig belebten, schnurrbärtigen Zügen und klugen grauen Augen freundschaftlich unter dem Arm gefaßt.

»Eh – dieser Nicolai! Läßt den alten Großpapa warten! Macht nichts, mein Bester! Man weiß, daß Du immer Wichtiges vorhast. Du warst, höre ich, schon bei unsern hiesigen Großfürsten?«

»Ich brachte ihnen Briefe aus Petersburg!« sagte Nicolai Schjelting. »Ich war des Abends mit ihnen zusammen und – natürlich – zwei Mesdames telles et telles. Sobald ich konnte, fuhr ich heim und schlief eigentlich bis jetzt.«

Für die Liederlichkeit der vornehmen Russen in Paris hatte er, der Mann des Ehrgeizes, nichts übrig. Das war nur Zeitverschwendung.

»Du kennst mich. Ich muß den Schlaf nehmen, wann ich ihn einmal finde!« sagte er zu dem Großvater seiner Frau und wurde plötzlich erregt. »Neulich bot sich mir in Moskau eine Gelegenheit. Da war ein berühmter deutscher Arzt! Er hätte mir vielleicht geholfen!«

»Warum ließest Du ihn Dir nicht kommen?«

»Ich ging zu ihm. Stand da. Man ließ mich nicht vor.«

»Dich nicht vor? . . . Du scherzest!«

»Es war da irgend eine kleine Deutsche. Die wollte es nicht! Was willst Du machen? Überall in der Welt stößt man ja auf die deutsche Barriere. Wir Alle leiden darunter. Nicht ich allein!«

Nicolai Schjeltings nervöse und verdrossene Züge änderten sich plötzlich zu liebenswürdigem Lächeln. Er verdankte seiner Vielseitigkeit einen guten Teil seiner Erfolge im Leben. So, wie er gleichmäßig deutsch, russisch, französisch und englisch sprach, so schlüpfte er auch in jede dieser Nationalitäten, nicht anders, als wenn er, je nach Wetter und Laune, dies oder jenes Paar Handschuhe anzog, war drüben in Rußland lässig und breitlebend mit den Moskowitern, war hier freimütig und herzlich mit den Briten, fand den französischen Offizieren gegenüber die brüske, kurz angebundene Art, die sie unter sich liebten. Oh – er kannte Sir Edwin, den scharlachroten Gardisten! Er hatte ihn vor zwei Jahren drüben an der Themse in Whitehall getroffen. Er wußte auch von Oberstleutnant Grégoire und seinem Büro, das den Tag vorbereitete, an den man immer dachte und von dem man niemals sprach . . .

Dieser Tag . . . doch: es war Zeit, von ihm zu sprechen. Schjelting redete. Er war immer der Mittelpunkt.

»Es giebt Methoden des geschichtlichen Denkens, die zu Schlüssen für das Handeln führen! Was Riesen bauten, waren immer Kartenhäuser. Es erlosch mit ihrem Geist. Selbst Napoleons Weltreich hieß schließlich St. Helena, – verzeihen Sie die Erwähnung hier im Dreiverband – Friedrichs des Großen Grabschrift hieß Jena, für Bismarcks Werk fehlt noch das Endwort! Wir werden es prägen!«

»Bravo!«

»Ich war jetzt wieder in Berlin! Es ist der Turmbau von Babel. Sie machen die Nacht zum Tage. Aber dabei murren die Massen! Der Mann von der Straße will eine andere Methode des Lebens. Die süddeutschen Könige spähen nach Wien. Sie ahnen das Heraufziehen einer geschichtlichen Notwendigkeit, der Preußen verfallen ist!«

»Sehr gut!«

Der Engländer und der Schotte tauschten einen Blick. Das machte ihnen Spaß, wenn man sich auf dem Festland verdrosch. Es war der Traum der City und alles verschuldeten blauen Bluts, das dort in Shares spekulierte. Dann waren die Meere frei! Das Geschäft der Briten blühte. Die Franzosen machten ernstere Gesichter.

»Immerhin: die preußische Armee!«

»Hat man seit fünfzig Jahren von ihr gehört?«

»Aber sie ist da!«

»Wo blieb sie, als wir in Rußland nach dem Japaner-Krieg fast wehrlos waren?« sagte Nicolai Schjelting nachlässig. »Nichts rührte sich an unserer Grenze!«

»Und ebensowenig bei uns, als wir im Burenkrieg feststaken!« sprach der Brite in eisiger Ruhe. Der General de Rigolet pflichtete bei:

»Auch wir hatten Euch damals noch nicht zu Freunden! Auch unsere Ostgrenze war schwer bedroht!«

»Das Schwert Hermanns des Cheruskers aber blieb in der Scheide!« Schjelting stand auf. Die Funken seines Asiatenwillens sprühten von ihm auf die Andern über. Die Augen ringsum leuchteten. Er lachte. »Vertraut auf das Heilige Rußland, Messieurs und Gentlemen! Diesmal saufen wir nicht! Diesmal stehlen wir nicht. Es wird ein Kreuzzug. Wir nahen zu Millionen, wie das jüngste Gericht!«

Draußen flatterten im Frühlingswind die blau-weiß-roten, die schwarz-weiß-gelben Fahnen, das rot-weiße Doppelkreuz im blauen Feld, dazwischen, als Gäste von jenseits des Ozeans, die dreizehn Streifen und achtundvierzig Sterne. Sie bauschten und blähten sich ineinander. Ein heißes Fieber wehte aus ihren Falten.

»Wann kommt Ihr Russen . . . Hand auf's Herz?«

»Wer weiß, wann die Stunde da ist?« Auf Nicolai Schjeltings Zügen lag einen Augenblick starr der Schatten von etwas Ungeheurem, von Etwas, das wohl geschehen, aber nicht von Menschenlippen ausgesprochen werden durfte. Um ihn war es still. Dann sagte er leichthin: »Übrigens fahre ich in nächster Zeit wieder zu der Pulverkammer!«

»Wohin?«

»Nun, in den Balkan! Zur rechten Zeit schiebt dort die rechte Hand den Riegel zurück!«

»Wir sollten noch zwei Jahre warten!« murmelte nachdenklich der Major Michelin.

»Und Elsaß-Lothringen?«

Nicolai Schjelting kannte das Geheimschloß zu der gallischen Seele. Es zuckte verbissen zwischen dem schwarzen Knebelbart vor ihm.

»Ah! Wir sind bereit!«

»Das hofft Europa von seinen Tapferen!«

»Sie selbst haben nicht gedient, Herr von Schjelting?«

»Ich versuchte es als junger Mann bei den Chevalier-Garden in Petersburg! Aber leider ließ es meine Gesundheit nicht zu!«

»Nun – dafür ist er stark hinter der Stirne!« sagte der alte gallische Haudegen gutmütig. Über das, was er keinem Franzosen verziehen hätte, sah er bei dem russischen Großschwiegersohn mit Stolz hinweg. »Du willst schon fort? Ah – man läßt Dich nicht! . . . Wie? Du mußt zu Iswolsky! . . . Das ist freilich etwas Anderes . . .«

Weit draußen im Westen, noch hinter dem Invalidendom, lag wie eine glimmende Kohle auf einem Pulverfaß die russische Botschaft. Schjelting betrat den Palast des Mannes, der hier seit Jahren mit beiden Händen Sturm säte und dabei den Sommer inmitten des Volkes, das er zu verderben trachtete, friedlich auf seiner Besitzung am Tegernsee in Oberbayern genoß. Er hatte eine längere Audienz bei dem gestürzten Petersburger Minister des Äußeren. Dann rauchte er im Weggehen eine Zigarette bei seinem Jugendfreund Wolkoff, der den langen, schmächtigen, eleganten Großfürstentyp zur Schau trug, und hörte lächelnd auf den Neid des Diplomaten.

»Mon cher Nicolai! Du hast es besser als freier Mann! Es ist nicht mehr das alte Metier! Sieh Dir doch diese Tiere an, mit denen man hier umgehen muß! Hier auf unserem Seineufer sind ja noch einige Häuser, wo man verkehren kann. Etwas Welt! Aber drüben . . . Wasche Dich, so oft Du willst – Du mußt doch gleich wieder einem Deputierten die Hand geben! Diese Minister sind unmöglich! Ihre Frauen . . . Ah – passons là-dessus

»Sascha! Liebe diese Leute! Wir brauchen sie!«

»Mais c'est dégoûtant! Im Sommer reist der Präsident der Republik wieder nach Petersburg. Seine Majestät, der Zar, wird diesen Advokaten auf die Wangen küssen . . .«

»Der Kaiser von Indien tut es heute auch!«

»Die Musik wird die Marseillaise spielen, die einen sonst bei uns an den Galgen bringt. C'est une farce! Lüge – gut! Dazu ist man da. Aber dabei schlechte Manieren . . . Sie sind hier wie das Vieh am Trog, wenn sie sich bereichern! Jeder nimmt! Alles stiehlt! Wir kämpfen mit Scheckbuch und Kurszettel! Übrigens: Higgins ist in Paris! . . . Aber Du hörst ja gar nicht zu!«

»Es ist merkwürdig, Sascha: kannst Du Dir vorstellen, daß man sich den Kopf darüber zerbricht, was für eine Augenfarbe Jemand hat?«

»Wer? Higgins?«

Schjelting tat, als hätte er sich nicht längst mit dem Londoner Zeitungskönig für diesen Nachmittag verabredet.

»Higgins? Wie kommst Du auf den? Higgins hat Augen wie ein toter Schellfisch! Den meine ich nicht!«

»Wen denn? Einen Mann?«

»Einerlei!«

Alexander Wolkoff drehte sich listig lächelnd eine neue Zigarette.

»Oh – ce bon Nicolai! Ich bin entzückt! Ich begrüße Dich! Also endlich einmal auch Du . . .«

»Blague!«

»Ich hätte es nicht mehr geglaubt . . .«

»Es ist auch ein unglückseliger Irrtum von Dir, mein guter Sascha! Erstens bin ich seit sieben Jahren verheiratet. Zweitens hab ich gar keine Zeit. Und drittens . . . enfin c'est ridicule!!« Er stand auf. »Also ordnen wir die Affaire mit dem Crédit Lyonnais! Ich fahre in den nächsten Wochen wieder nach dem Balkan. Man kommt nicht mit leeren Händen nach Cettinje! Der Floh nimmt das übel!«

Der Floh war der König von Montenegro, so genannt, weil er ungefährlich war, aber, einmal losgelassen, doch unangenehm biß.

»Leb wohl, mein Bester! Vergiß sie! Wohin jetzt?«

»Les affaires sont les affaires! Ich frühstücke bei Macrî!«

Achille Macrî, der einstige levantinische Coulissier an der Pariser Börse und jetzige Vertraute des russischen Handelsagenten, des Geheimrats Raffalowitsch in Paris, selber und gleich ihm und den Ephrussi ein Sohn der weizenreichen Stadt Odessa. Schreiende Pracht in seinem Hotel in den Elysäischen Feldern. Gobelins und alte Niederländer an den Wänden. Draußen fuhr ein Automobil nach dem andern vor. Ein baumlanger Diener am Eingang des Empfangsaals rief die Namen:

»Monsieur et Madame Bonvoisin!«

Welche Menagerie . . . sagte sich Nicolai Schjelting und betrachtete diesen Deputierten, diesen kleinen, spitzbärtigen, dürftigen Gewaltmenschen, mit dem goldenen Zwicker auf dem kalten Geschäftsgesicht. Bei wem bist Du wohl Kostgänger? Für wen stimmst Du? Wer zahlte Deine Wahl?

»Monsieur et Madame Pollet!«

Nun – Dich kennt man! dachte Schjelting beim Anblick des grauköpfigen Chefredakteurs der ›dernière heure‹. Gamins und Spatzen pfeifen es auf der Straße, wer Deinen dreistöckigen Zeitungspalast an den Boulevards besoldet! Und einen zweiten in Petersburg. Das City-Geld riecht nicht schlechter als anderes.

»Le Chevalier de Massa!«

De Massa . . . de Massa . . . ein langer, hagerer Südländer, der wie ein ausgedienter Fechtmeister aussah . . . Richtig: einer der Vertrauensmänner, die aus französischem Gold italienische Druckerschwärze machten! Manches blieb auf dem Weg nach Rom und Mailand hängen. Che volete? La mancia, Signore! Gesindel! dachte sich Schjelting. Wolkoff, dieser Schwachkopf, hat recht. Sie mästen sich wie die Schweine. Und er wandte sich, liebenswürdig lächelnd, zu dem feurigen, wohlbeleibten, rosig rasierten und pechschwarz gefärbten Gastgeber:

»Entzückend bei Ihnen, Monsieur Macrî! Wir armen Nordländer sind hier im Land der Sehnsucht. Nur in Paris weiß man zu leben!«

Er saß zur Linken der Hausfrau. Die frühverblühte, diamantenübersäte Griechin lebte auf, wurde warm und jung bei seinen lässig hingeworfenen Histörchen aus der hohen Petersburger Welt. Oh – sie liebte dies edelmütige Rußland! Sie war nie dort gewesen. Aber wie bewunderungswürdig dies Volk, wie groß und gut der Zar! Rings herum sprach man von Boulevard-Klatsch und Geschäften. Es gab nur Zweierlei: Geld verdienen und es ausgeben. Die hier saßen, verdienten alle an Rußland. Verdienten an den Emissionen der ewigen Anleihen, verdienten an den Kursen, verdienten an den Eisenbahnen, verdienten am Wechseldiskont, verdienten an den Maschinenlieferungen und der Getreideausfuhr. Es war ein Schmatzen und Schlürfen die Tafel entlang, wie von gutgenährten Tieren. Ihretwegen mochte es immer so bleiben! Schjelting dachte an das Militär-Kasino an der Ecke der Opéra-Avenue. Dort harrte die »Große Stumme«, harrte die Armee des großen Tags. Aber diese Machthaber der Republik, diese Bourgeois, diese Jobber und Geschäftspolitiker, gaben sicher dazu niemals das Zeichen. Gegen Ende des Mahls sagte er plötzlich in seiner natürlichsten Art, einem kühlen Dünkel:

»Einmal muß es ein Ende nehmen!«

»Mit diesem Menü? Ich stimme bei! Das Haus Macrî verwöhnt seine Gäste!«

»Sie nennen es Geschäfte! Unser Bauer nennt es Hunger. Er erntet den Weizen. Das Brot ißt der Westen. Ihr kleiner Rentner in Frankreich hat die Arbeitskraft unseres Muschik gepachtet.«

»Ah, mein teurer Monsieur de Schjelting! Gold gegen Korn. Beides ist gelb!«

»Und wenn wir mit Beidem nicht mehr zahlen können?«

»Um Gotteswillen erschrecken Sie uns nicht!«

»Keine Angst, dann zahlt ein Dritter!«

»Wer?«

»Vae victis«, sagte Nicolai Schjelting wegwerfend. Einen Augenblick erschien es über den Köpfen der steinern dastehenden Diener, zwischen den alten Meistern im Goldrahmen, wie eine Flammenschrift an der Wand. Die Gesichter wurden besorgt. Es war eine Stille. Nun gewiß: man sprach davon . . . Jeder verlangte von dem Andern bei passender Gelegenheit die große Geste. Man spielte damit. Aber Spiel war doch nicht Ernst . . .

Nicolai Schjelting spuckte aus, als er draußen wieder im Wagen saß. Päh – dies Paris! Er spritzte sich etwas Kölnisch Wasser auf sein Tuch. Dies Paris war eine Kloake. Sogar eine altmodische Kloake. Die schmutzigen, papierübersäeten Boulevards, durch die er fuhr, wirkten mit ihren Bierhäusern und Schundbazaren wie eine verstaubte Atrappe von vorgestern, Theaterplunder, in dem die Fremden einander selbst Komödie vorspielten. Briten und Yankees überall. Im Hotel Ritz, vor dem sein Wagen zwischen hundert Luxuslimousinen hielt, hörte man jetzt zur Teestunde durch das Fiedeln der Zigeuner mehr Englisch als Französisch. Die Blüte der Londoner Gesellschaft wohnte hier und nebenan im Bristol. Als ängstliche Schülerinnen saßen die Dollarprinzessinnen mit ihren Eltern und äfften ehrfurchtsvoll die Frauen und Töchter der Lords nach. Schjelting kümmerte sich nicht um dies New-York-Herald-Treiben. Er fuhr in den ersten Stock hinauf und hatte dabei doch, in dieser angelsächsischen Insel zu Füßen Napoleons, die Gewißheit: Nun bin ich nahe den Nerven, die die Welt bewegen! Am Mittelpunkt aller Dinge.

Wie eine Kreuzspinne saß inmitten dieses Netzes, oben an seinem Schreibtisch, Sir William Higgins, Mitglied des Unterhauses und einer der Zeitungskönige der City. Glatt rasiert, hager, mit scharfen Zügen. Schwer zu sagen, ob er dreißig oder fünfzig war. Hier gab es keine gallischen Phrasen. Hier war alles Ruhe. Geschäft. Das größte Geschäft, das je in der Weltgeschichte gemacht wurde und Weltkrieg hieß. Und hoffentlich auch das beste.

Der ehrenwerte Higgins verfügte über ein herzliches Lächeln und einen Händedruck, daß die Knochen krachten. Aber Nicolai kannte diese Frische, diesen Freimut, der anscheinend gar keinen Zweifel aufkommen ließ. Er schaute dem Andern kühl in die eisigen Augen.

»Also Ihr macht wirklich mit?«

»Ja.«

»Ihr laßt uns nicht im letzten Augenblick im Stich?«

William Higgins hatte für Alles eine Methode, wie der Franzose eine Formel.

»Es giebt verschiedene Methoden zu leben!« sagte er. »Unsere heißt: wir sind zum Herrschen da! Die deutsche: wir sind zum Arbeiten da! Sie befolgen sie so gründlich, daß auch wir arbeiten müßten, statt zu herrschen. So zwingen sie uns zur rauhesten aller Arbeiten: dem Krieg!«

Er brach ab und fügte dann mit einem plötzlichen Sonnenschein des Lächelns hinzu:

»Oder können Sie sich uns arbeiten denken, arbeiten wie die Deutschen?«

Auch Schjelting lachte.

»Nein!« sagte er. »Da kämpft Ihr lieber. Aber unterschätzt die Deutschen nicht. Ihr kennt sie viel zu wenig!«

»Ich doch! Mein eigener Bruder, der Professor in Oxford, hat leider eine Deutsche zur Frau. Er hat leider in Deutschland studiert. So wurde er leider der Schwiegersohn des deutschen Geheimrats Tillesen.«

»In Wiesbaden? . . . Sie ist doch nicht verheiratet!«

»Meine Schwägerin Hannah?«

»Oder ist das eine Schwester?«

»Ich kenne die Familie nicht!« sagte William Higgins frostig. »Ich habe es von vornherein abgelehnt. Beim Boxen reicht man sich vorher die Hand. Aber dies wird ein Match bis zum bittern Ende. Nach den besten Methoden der Untersuchung wird es acht bis zehn Wochen und fünfzig Millionen Pfund kosten, bis wir unsere Hand auf Wilhelmshaven und Helgoland haben!«

Er begleitete seinen Gast bis an die Türe.

»Es wäre weiser gewesen, die deutsche Flotte schon früher zu vernichten. Wir steckten zuviel Geld in den Burenkrieg. Japan und die Finanzierung des fernen Ostens waren auch teuer. Wir haben über den ägyptischen Problemen und der Frage des Panama-Kanals Europa etwas vernachlässigt. Keine Wahrheit ist ernster, als daß alles Versäumte eine Guinea statt eines Shilling kostet. Nun – die City wird das Risiko übernehmen! Good bye!«

Nicolai Schjelting verließ den Mann, für den die Welt ein einziges großes Rechenbrett war. Er dachte sich: Wie klein ist dabei doch die Welt! Dieser Mensch aus Holz und Leder weiß nichts von Moskau, haßt Deutschland und ruft doch die Begegnung mit dieser Deutschen in mir wach. Er fuhr sich ärgerlich mit der Hand über die Augen, um das zu vergessen. Es war Zeit zur Bahn. In einem Buchladen kaufte er sich für die kurze Reise noch ein paar Broschüren: »Die Teilung Deutschlands« – »Preußens Ende« – »Das Lächeln des Elsaß«, wie sie da, erst seit ein, zwei Jahren, reihenweise im Schaufenster hingen. Aber am Nordbahnhof traf er Bekannte: den riesigen scharlachroten Coldstream-Major vom Vormittag, der einen Freund in Zivil, den Captain Nicholson vom Londoner Departement für militärische Operationen des Kriegsamts, an den Zug brachte. Der Wagen war überfüllt. In Paris war kein Bett mehr frei. So fuhren viele Fremde für die Nacht nach Brüssel. Auch eine amerikanische Gesellschaft, die von diesem schläfrigen, kleinen Nicholson vorgestellt wurde. Er gab sich kaum die Mühe, die Geringschätzung der Yankees durch den Briten zu unterdrücken. Er brachte beim Sprechen kaum die Lippen unter dem Zahnbürstenschnurrbart auseinander. Aber sie lauschten ehrfurchtsvoll in dem vollgepfropften Abteil dem Orakel, während der Zug durch das Hügelland Nordfrankreichs dahinjagte.

La Fère . . . St. Quentin . . . nahebei Laon – weiter nach links Amiens . . . Maubeuge . . . jeder Name eine Schlacht . . . mehrere am selben Ort im Lauf der Zeiten . . . Immer waren die Deutschen da gewesen und hatten die Franzosen geschlagen. Die Amerikaner staunten. Sie wußten das nicht. Für sie fing die Weltgeschichte bei Georg Washington an. Nicolai Schjelting löste in seiner lebhaften Art den langsamen Captain Nicholson ab und belehrte die Dollarmenschheit.

»Wodurch Deutschland die beste Kalkulation des Kriegs besitzt? Durch seine Barbarei. Es ist das bewaffnete Mittelalter inmitten der Kultur. Voll von Königen, Herzögen, Ordensrittern, Marschällen, Edelleuten, wie auf dem Theater. Das Volk hat zu gehorchen!«

»Oh!«

»Das ist ja schrecklich!« sagte ein jüngerer Amerikaner mit dunkelblondem Schnurrbart aus der Ecke.

»Ein allerhöchster Kriegsherr über Allen. Zahllose Gerichtsherren unter ihm, mit Macht über Leben und Tod. Geheime Ehrengerichte, denen jeder Gentleman untersteht. Blutige Zweikämpfe, selbst unter den Jünglingen der Colleges! Säbelnarben auf den Gesichtern der Richter!«

»Da möchte ich nicht leben!« meinte wieder in ehrlichem Abscheu der junge Yankee in grauem Sommeranzug.

»Es ist der Militarismus. Der volle Gegensatz angelsächsischer Freiheit und lateinischer Kultur. Er muß ausgerottet werden!«

»Sicherlich!« sprach der alte fromme Petroleum-Jobber gegenüber von Schjelting. Die belgische Grenze! War denn Belgien wirklich ein Land? Eine Miß erkundigte sich. Es war doch wohl zu klein. Es gehörte sicher noch zu Frankreich. Der Londoner Generalstabshauptmann belehrte sie: dies hier war das große Kriegstheater Europas. Hier umging man Rhein und Alpen. Der Weg durch Belgien war ein gutes Ding, wenn England auf dem Kontinent Ordnung schaffte.

»Und wann werden Sie ihn gehen?«

»Ich schätze: bald!«

Nicolai Schjelting blätterte in »Die Teilung Deutschlands«. Auf der Landkarte des Umschlags war Köln bereits holländisch. Frankreich erstreckte sich bis Frankfurt a. Main. Alles östlich der Elbe war in Rußland, Bayern und Württemberg in Österreich aufgegangen. Schweden hatte seine Hand auf die Ostseeküste, Dänemark auf Schleswig-Holstein, England auf Hannover gelegt. Es war Alles in Ordnung. Die Yankees wunderten sich. Aber was ein Engländer bestätigte, war doch wahr. Nur der gebräunte jüngere Herr mit dem Strohhut frug:

»Und was werden denn die Deutschen selbst zu der Bescherung sagen?«

»Die Geschäftsmänner, die Farmer, der Mann auf der Straße werden froh sein, daß man sie befreit.«

Im Abenddämmern dehnte sich fern zur Rechten eine weite Ebene. Das Schlachtfeld von Waterloo. Davon hatten sogar die Misses gehört. Waren da nicht die Preußen gekommen?

»Wir werden ihnen kommen!« sagte Nicholson zwischen den Zähnen. Schjelting lachte.

»Die Deutschen werden sich an der französischen Grenze verbeißen. Inzwischen rücken ihnen diese tapferen Briten unversehens durch Belgien in die Flanke!«

Man war in Brüssel und verabschiedete sich von den Amerikanern. Ihr Landsmann in Grau grüßte lächelnd und ging.

»Gehört er denn nicht zu Ihnen?«

»Ich kenne den Gentleman nicht!« sagte der Alte von der Standard Oil Company. Im Getümmel des Bahnhofs stand der belgische General Janssen in Zivil, einem kleinen, weißköpfigen Wachtmeister ähnlich, und drückte Schjelting, den schon als Gatten einer Belgierin Jedermann in Brüssel kannte, die Hand.

»Ah, ce gaillard! Sehen Sie ihn? Seit acht Tagen haben wir ihn hier! Oh – wir kennen ihn wohl! . . . Da geht er eben durch die Sperre . . . da . . . der straffe Preuße in grauem Rock und Strohhut!«

»Das ist doch ein Amerikaner!«

»Haha! . . . Ein Amerikaner im preußischen Großen Generalstab! . . . So dumm sind die Preußen nicht! Das ist Einer ihrer Schlauesten. Der Hauptmann Isebrink. Eben dreht er sich noch einmal um und lächelt! . . . Spitzbube . . . Was haben Sie denn, Herr von Schjelting?«

»Nichts! Nichts! Adieu, mein General!«

Im Auto, das ihn hinauf zum Quartier Leopold trug, biß sich Schjelting wütend auf die Lippen, schlug sich mit der Hand an die Stirne, sagte sich: Was ist denn das? Ich bin verhext . . . Seit Moskau. Ich habe nicht mehr die leichte Hand. Den feinen Instinkt. Erzähle einem Soldaten Wilhelms die Geheimnisse der Engländer. Er weiß sie ja längst. Aber immerhin . . .

Auf dem vornehmen Boulevard du Régent, inmitten der Stätten der Reichen, lag mit weitem Blick über den königlichen Park und auf die Stadt da unten das Haus seiner Schwiegereltern. Das obere Stockwerk war zur Hälfte ein für allemal der einzigen Tochter, Schjeltings Frau, und ihm vorbehalten, wenn sie, wie gewöhnlich, einen Teil des Jahres in Brüssel, der Vorstadt von Paris, verbrachten. Er stieg nervös und mit umwölkter Stirne die Treppe hinauf.

»Hier bin ich, Ghislaine!«

»Ah – willkommen, mein Freund!«

Er küßte ihr höflich die Hand, flüchtig und kühl die Lippen. Musterte unwillkürlich ihre Erscheinung. Das war seine Bedingung und Forderung: keine Frau in dem luxustollen Brüssel durfte besser angezogen gehen als die schöne Madame de Schjelting. Sie war schön. Bereits für den Abend gekleidet. Perlenglanz auf der mattweißen Haut des Robenausschnittes. Feiner weißer Puderhauch auf den regelmäßigen, ovalen Zügen unter dem kunstvoll erzeugten venetianischen Rotblond ihres Haars. Es war ihr Ehrgeiz, einer Vollblut-Pariserin zu gleichen, die sie nur zur Hälfte war. Sie hatte die feine Nase, die großen, dunklen, noch leicht untermalten Augen, diesen amüsierten, unerlernbaren Ausdruck auf den leichtbeweglichen Zügen.

»Was machen Allard und René?«

»Es geht ihnen gut! Sie schlafen schon!«

»Wolltest Du ausgehen?«

»Nur hinunter! Es ist Empfang bei den Eltern.«

»Hat sich etwas Neues ereignet?«

»Nichts, was Dich interessieren könnte, mein Freund!«

Er schritt unruhig durch die Zimmer und blieb vor der Alabasterschale im Vorraum stehen und musterte die Visitenkarten. Er war eifersüchtig wie ein Tiger und ließ dabei, in der Geschäftigkeit seines Ehrgeizes, seine Frau oft viele Wochen allein. Er wußte, daß sie sich dann rächte. Sie schaute ihm über die Schulter.

»Was suchst Du denn, Nicolai?«

»Wer war denn inzwischen wieder Alles da?«

»Du siehst es ja: Madame Daras. Madame Vaillant. Madame Thomas. Madame . . .«

»Ah . . . wer ist das hier – dieser Monsieur de la Kéthulle?«

Sie wiegte tändelnd den hochfrisierten Kopf und sagte unschuldig:

»Armer Freund! . . . Das habe ich total vergessen!«

Er wurde wütend.

»Ich will es aber wissen! Du hast nicht zu lachen!«

»Soll ich denn jetzt, vor der Gesellschaft, weinen?«

Da war schon wieder der Streit. Ihre ganze Ehe war ein ewiger Zank. Sie wußten es schon gar nicht anders. Heute war er doppelt heftig.

»Ich verbitte mir das!«

»Was denn, mein armer Nicolai? Erkläre Dich näher!«

Ghislaine Schjelting stand vor dem Spiegel und prüfte noch einmal mit dem Ernst einer Frau von Welt das Gesamtbild ihrer Erscheinung. Dann lachte sie wieder und wandte den Kopf über die weiße Schulter hinweg ihm zu. Sie sah verführerisch aus in diesem Augenblick. Er legte zögernd, wie unter einem Befehl, die Karte des Monsieur de Kéthulle wieder in die Schale. Die Frauen konnten mit ihm machen, was sie wollten. Es war seine alte Schwäche. Vielleicht auch ein Teil seiner Erfolge im Leben durch die Frauen. Er frug versöhnlicher:

»Was hast Du denn die Zeit über gemacht?«

»Nun – man amüsiert sich!«

Der harmlose Ton, das Achselzucken dabei, brachte ihn von Neuem in Harnisch. Er bekam wieder seinen roten Kopf.

»Ich verbiete Dir, Dich über mich lustig zu machen, Ghislaine!«

»So streng, mein Freund?«

»Viel zu wenig streng! Dir zu Liebe verbringe ich das halbe Jahr hier als Gast bei Deinen Eltern . . .«

»Du bist ja nie da!«

»Statt daß Du auf meinen Gütern bist . . .«

Sie machte eine Gebärde des Abscheus. Diese Güter, irgendwo fern hinter Moskau, am Ende der Welt, Sumpf, Weide, Birkenwald, in dem noch Wölfe und Bären hausten, flößten ihr Entsetzen ein . . . Man war da wie in Sibirien, nach diesem vergnüglichen, lebenslustigen Belgien.

»Du bringst mich höchstens einmal im Winter nach Petersburg!« sagte sie. »Oh, ich bete diese Muschiks an! Es ist jetzt Stil in Paris!«

Er verzog spöttisch die Lippen bei dem Gedanken: dies verzärtelte, schillernde und schimmernde, parfümierte Geschöpf neben einem dieser fuseldünstenden, wildmähnigen ehemaligen Leibeigenen. Sein Lächeln reizte nun wieder sie. Es ging bei ihnen immer reihum. Sie fuhr auf.

»Wünsche wird man doch noch aussprechen dürfen. Erfüllt werden sie Einem ja doch nie!«

»Wie das?«

»Andere Männer führen ihre Frauen aus. Du reist in der Welt herum. Ich sitze inzwischen als Strohwittwe bei meinen Eltern!«

»Ich habe wichtige Dinge zu tun!«

»Und wer hat den Lohn davon? Du nicht! Sie nutzen Dich aus! Deine Großfürsten! Deine Montenegrinerinnen. Alle Deine Russen.«

»Das verstehst Du nicht!«

»Du bist zu eifrig! Es fängt schon an, komisch zu werden, mein Lieber!«

»Still!«

Seine Eitelkeit bäumte sich auf, eben weil er ein Körnchen Wahrheit darin empfand. Er schrie es fast.

»Ah – die Moskauer Manieren! . . . Ich beglückwünsche Dich!«

»Ich mich nicht!«

Sie fing an zu weinen.

»Ich möchte nur wissen, warum wir uns geheiratet haben!«

»Ich auch!« sagte er erbittert. Dabei wußten sie es Beide ganz genau, waren auch eigentlich an diese unvermeidlichen Auftritte zwischen ihnen längst gewöhnt. Ghislaine schluchzte jetzt, lang auf die Ottomane hingeworfen, wie ein verzogenes Kind. Er stand finster daneben. Nun kam über ihn die Angst eines auf ihre Schönheit stolzen Gatten. Er dachte sich: Sie wird sich Frisur und Robe zerdrücken. Sie bekommt verweinte Augen und ein verwaschenes Gesicht. Man kann sie ja gar nicht zeigen da unten!

»Ghislaine . . .«

Keine Antwort.

»Ghislaine, meine Freundin: Deine Geduld wird sich noch belohnen. Große Dinge bereiten sich vor. Ich verspreche Dir: Du wirst noch einmal in einem Botschafterpalais residieren. Du wirst die Erste unter den Damen sein. Man wird Dich Exzellenz anreden . . .«

Das schmeichelte ihr. Seine weiche und sanfte Stimme beruhigte sie. Sie richtete sich auf und begann stumm und energisch sich mit dem Puderbausch die Thränenspuren wegzutupfen. Es klopfte. Ihre Mutter, Madame Lambert, trat ein. Kleiner als ihre Tochter, zur Fülle neigend, die gestickte Robe zu jugendlich für die verblühte Pariserin. Sie legte die kleinen fetten, reichberingten Hände ineinander.

»Müßt Ihr Euch denn ewig streiten?«

»Es scheint so, meine Mutter!«

»Und warum denn?«

Schjelting wies grimmig auf die Visitenkarte. Die Schwiegermutter zog die Augenbrauen hoch, sah erst ihn an, dann die elegante junge Frau.

»Aber diese Toilette ist doch ein Traum!« sagte sie.

»Was hat das mit diesem Monsieur Khétulle zu tun?«

»Nun . . . Er ist doch der neue Schneider!«

Ghislaine fing an, wahnsinnig zu lachen, und ging, in einer leichten Koketterie sich wiegend und den Charme des Kleides zeigend, durch das Zimmer.

»Ah – ich bin etwas nervös! Ich gebe zu!« sagte Nicolai Schjelting. »Besonders jetzt nach der Reise. Sie wissen, Mama: Ich vermag in Gastbetten nie zu schlafen!«

»Und statt sich einmal vom Arzt Ruhe verschreiben zu lassen . . .«

»Ich hätte jetzt in Moskau Gelegenheit gehabt, einen der berühmtesten Ärzte zu treffen . . .«

»Nun, und was meinte er?«

»Nichts! . . . Sein Assistent ließ mich nicht vor! . . . Dieser Deutsche . . .«

Er zog den Frack an und folgte mit umwölkter Stirne und unruhigem Gemüt den vorausgegangenen Damen. Im Letzten des Herzens verachtete sein asiatischer Hochmut diese reichen Kaufleute da unten. Er kannte zu genau ihre Schwächen, stieß sich mit seinem kühlen und methodischen Kopf fortwährend an dem inneren Widerspruch dieses Landes, das keine Flotte, aber riesige Kolonien besaß, das kein eigentliches Heer hatte, aber sich die stärksten Festungen der Welt baute, das ein neutraler Kleinstaat war und trotzdem mit heimlichen Fingern an den gefährlichsten Kanten der Weltgeschichte mitwob. Ihm schien Alles zwischen Maas und Yser aus zweiter Hand, eine französische Legierung mit englischem Stempel ohne eigenen Wert. Es hatte keinen Zweck, vor diesen Herren Philipon und Termuylen, Andriot und de Meester, Vandenbergh und Leroux sein Licht leuchten zu lassen. Sie waren gute Kaufleute, aßen gern gut, tranken gern gut, behängten ihre Frauen mit Diamanten und Perlen, ließen bei sich und Anderen fünf gerade sein und im Übrigen . . . man dachte in Belgien nicht gerne über den Tag hinaus. Dazu war man zu leichtlebig und oberflächlich. Nicolai Schjelting schwieg zwischen ihnen mit seinem rätselhaftesten Lächeln. Wenn er einmal in seiner Eifersucht seine Frau aus den Augen ließ, fühlte er von Neuem den Widerwillen gegen die innere Zuchtlosigkeit, die ihm die Formel für Belgien zu sein schien. Kein Mensch hier ahnte eine irdische Gewalt über sich. Man lebte in einem Königreich, aber man kümmerte sich nicht um den König, man bildete einen Staat, aber man sprach und dachte nur als Vlame oder Wallone, man hatte eine Hauptstadt, aber das Ziel aller Sehnsucht war doch Paris.

Nur einmal wurde er lebhaft, als neben ihm Einer der Kaufherren auf Französisch zu dem anderen versetzte:

»Warum ich Charles nach Köln auf die Handelshochschule geschickt habe? Aus demselben Grunde wie Andriot seinen Sohn auf das Polytechnikum nach Karlsruhe. Sie müssen von den Deutschen Etwas lernen. Sonst kommen sie nicht mit . . . Die deutschen Kaufleute sind ja bei uns schon beinahe die Herren der Stadt. Antwerpen ist ein deutscher Hafen!«

»Im Frieden!« sagte Nicolai Schjelting. Die Belgier blinzelten sich zu. Sie wußten wohl, warum die Geschütze der Maasfestungen gegen Deutschland zielten, warum der Fortgürtel wohl zu Lande Antwerpen umgab, aber die Einfahrt durch die Schelde den Briten freiließ. England wollte das so. Keine Gummiladung kam ohne seinen Willen vom Kongo. Und vom Kongo lebte man.

Krieg und Kriegsgeschrei. Madame Termuylen frug:

»Hat die große französische Generalstabsreise an unserer Grenze eigentlich schon angefangen?«

Und der Hausherr wußte durch seinen Schwiegervater, den alten General de Rigolet in Paris, Bescheid.

»In den nächsten Tagen! Beinahe dreihundert Offiziere. Sie bilden zwei Parteien. General Ruffey führt die Roten. General Castelnau stellt die Preußen dar. Er hat die Blauen unter sich!«

Herr Lambert war ein großer, starker, lebensfroher Mann mit rosigem Gesicht und goldenem Vollbart, das Urbild eines Rembrandt-Deutschen, wenn er auch kein Wort deutsch sprach. Er lenkte das Gespräch wieder auf Weizen und Wolle ab. Wozu sich die Verdauung stören? Krieg – was war Krieg? Man spielte mit dem Krieg, weil man ihn nicht kannte, und legte das Spielzeug wieder weg. Und vergaß es bis morgen. Schjelting fühlte das und verstummte wieder unter den Kaufleuten.

Nie war Brüssel üppiger, glänzender, heiterer gewesen, als in diesem jungen Grün zu Anfang Mai 1914. Längs der Blumenpracht der Place Botanique sah man Schneiderträume von Toiletten wie in Paris, die Limousinen in der Rue Royale zeigten französischen Luxus, über den Boulevard Anspach unten flutete ein Leben wie an der Seine. Nicolai Schjelting nur war mißvergnügt, unruhig, vereinsamt. Ihn drückte dieses satte, gedankenlose Behagen, dies Sporttreiben, Flanieren, galanten Abenteuern Nachgehen und Geldverdienen, als sollte ewig Friede auf Erden bleiben.

Gottseidank! Nun wurde sein Traum wieder zu rothosiger, knebelbärtiger martialischer Wirklichkeit. Er war mit seiner Frau und ihren Eltern im Auto hinaus nach der französischen Grenze gefahren. Aufatmend sah er wieder die Generale der Verbündeten, diese kleinen, energischen, beweglichen Herren in goldenem Käppi, sah die Blüte des jüngeren französischen Offizierskorps, das sie auf der großen Generalstabsreise begleitete. Dazwischen als Zaungast in Zivil der greise Rigolet. Der Haudegen von 1870 war hier im Widerschein des Krieges aufgelebt wie ein alter Schwadronsgaul beim Attackensignal. Mit jugendlichem Eifer erklärte er den Seinen die Lage. Blau und Rot rangen hier zwischen Sambre und Maas. Der Oberstleutnant Grégoire war so nahe herangeritten, daß die Vorderhufe seines Schimmels fast den weißen belgischen Grenzstein rührten und wies, ein Auge zukneifend, mit dem Reitstock nach Links. Dort lag das Schlachtfeld von Malplaquet. Dort waren die Engländer schon früher einmal gewesen. Und der blonde, gefährliche Leutnant Schouman, der bis dahin still mit Ghislaine geliebäugelt, verriet es durch ein Lächeln: Man konnte sich auch noch eine dritte Armee vorstellen, eine khaki-gelbe, die den Blauen von der Nordsee her in die Flanke fiel. Aus ihren Reihen sang es: ›Are you down-hearted?‹ und die Dudelsackpfeifer spielten die Schottenmärsche ihres Clans.

Der General de Rigolet begleitete die Seinen zu einem kurzen Besuch nach Brüssel. Er hatte noch Augen wie ein Luchs. Nah von Namur veranlaßte er durch einen Zuruf den Chauffeur zu halten und lachte aus vollem Hals.

»Ah . . . auf der Schmetterlingsjagd, Mr. Nicholson?«

Der Hauptmann Nicholson vom Londoner Nachrichten-Departement, der unvermutet aus dem Wiesengrund neben der Straße auftauchte, trug eine grüne Botanisiertrommel über dem graugewürfelten Sportanzug und einen Käscher in der Hand. Er sagte ganz ernst, nach der Begrüßung und Vorstellung:

»Sollte man glauben, General, daß Sphinx nerii hier vorkommt? Es müssen Oleanderbäume in der Nähe sein. Sonst sah ich diesen Schwärmer am meisten bei Pola und Cattaro.«

»Verstehen Sie denn wirklich etwas davon?«

»Wissen ist Macht! Ich entsinne mich, daß ich einmal bei Wilhelmshaven einem Gendarm den seltenen Apollo vorweisen konnte. Aus der Familie Parnassus. Der Gendarm war sehr befriedigt. Immer besser, man hat ein Ziel. Es war ja schimpflich: die Deutschen dachten anfangs, ich wollte da spionieren.«

Der greise Troupier mußte lachen. Er klopfte dem Britten jovial auf die Schulter.

»Und was machen Sie denn hier?«

»Er ist ein ganz harmloser Entomologe!« erklärte Nicolai Schjelting. Unter dem Zahnbürstenschnurrbart des Captain zuckte es von einer freimüthigen Heiterkeit.

»Schmetterlingssammler sind wir schließlich alle!« sagte er zu den Andern. »Es ist eine liebliche Gegend! Ist sie's nicht? . . . Nun, leben Sie wohl! . . . Ich muß weiter . . .«

»Einen Augenblick!«

»Was denn?«

»Sie haben hier ein Blatt mit Ihren wissenschaftlichen Notizen verloren!« sagte Nicolai Schjelting. Er hatte es aus dem Staube aufgehoben und scheinbar unwillkürlich lasen dabei seine Augen die ersten Zeilen in englischer Sprache: »Vorwärts über Fosse bis Floreffe 65 Kilometer gute Straße. Kein Überblick mehr. Keine Gelegenheit, Artillerie in Stellung zu bringen. Vorsicht vor der Steilfeuerwirkung von Fort St. Heribert . . .«

»Oh – geben Sie bitte!«

». . . Fliegeraufklärung von Charleroi aus wegen der Luftwirbel im Sambre-Thal schwieriger als über Givet-Dinant längs der Maas. Elf Eisenbahnbrücken zwischen Namur und . . .«

»Oh – geben Sie doch! . . . Danke! danke sehr!«

Der Naturfreund barg eilig das Blatt in seiner grünlackierten Trommel. General de Rigolet nickte.

»Ah – ich kenne diese wertvollen Winke!« sagte er befriedigt. »Es sind Auszüge aus dem geheimen Handbuch über militärische Operationen in Belgien, herausgegeben vom Englischen Nachrichtenamt! Ich hab' es auch daheim bei mir in Paris . . .«

»Hüten Sie es nur vor Unberufenen, General!«

»Parbleu – ich lasse es nicht in fremde Hände fallen! Es ist streng geheim! Ihr habts Euch sauer werden lassen – Ihr da drüben! Eine Riesenarbeit steckt darin!«

»Man sieht es!« sagte Nicolai Schjelting mit einer leichtverbindlichen und liebenswürdigen Kopfneigung gegen den Mann mit dem Schmetterlingsnetz. Alle Drei, der Engländer, der Russe und der Franzose lachten.

»Well! Gutes Jagdglück, Captain!«

»Angenehme Fahrt!«

Das Auto rollte dahin. Schjelting schaute dem schon wieder munter einen Hügel hinaufkletternden kleinen Gentleman nach und frug:

»Ist denn hier an dieser simplen Thalecke wirklich etwas Besonderes los?«

»Du bist ein Laie, mein teurer Nicolai! Von dieser Stelle aus sieht man ja alles!«

»Was denn, zum Beispiel?«

Der alte General legte den Kopf zurück und wies auf einen steil abfallenden, mit niederem Gestrüpp überwucherten Höhenrücken.

»Wo sich der Berg vom Himmel abhebt – siehst Du da nicht, kaum merklich, eine Wölbung im Erdreich?«

»Ja . . . und was ist das?«

»Ein fast uneinnehmbarer Punkt: das Fort Malonne!«

»So?«

»Nichts Geringeres als das Fort Malonne! Hut ab! Du bist vor einer der wichtigsten Stellen dieses bewunderungswürdigen kleinen Belgiens! Wir Franzosen haben unsere Maaslinie bis an die Zähne verschanzt. Aber nach unten, jenseits der französischen Grenze, war sie offen. Da sprangen unsere heroischen Nachbarn für uns in die Lücke. Sie bauten ihren Maasgürtel gegen die Teutonen! Das englische Heer kann unbehindert dahinter aufmarschieren!«

Beide blickten befriedigt und wohlwollend lächelnd auf Monsieur Lambert, in dem sich ihnen für diesen Augenblick Belgien verkörperte. Der fuhr aus einem kleinen Schläfchen auf. Er war etwas verwirrt. Er hatte sich nie viel um diese Dinge gekümmert. Festungsbau war nicht sein Geschäft. Man zerbrach sich hier zu Lande nicht gern unnötig den Kopf. Das war Sache der Regierung. Er saß zufrieden lächelnd da, selbst in seinem rosigen und etwas feisten Blond ein Abbild der Blüte des Landes, durch das sie dahinjagten. Sie umkreisten Namur, durchmaßen die prachtvollen Buchenwälder von Ottigny, näherten sich Brüssel. Aus fieberndem Menschen- und Autogewühl, dem Geschrei der Verkäufer, dem Lichtglanz der Läden schlug ihnen der heiße Hauch von Klein-Paris entgegen. Sie hielten vor dem Palasthotel am Bahnhof, um dort den General abzusetzen. Dabei zuckte Nicolai von Schjelting nervös zusammen.

»Da ist er wieder!« sagte er zwischen den Zähnen.

Ein Herr in den Dreißigern, in grauem Sommeranzug, den Strohhut auf dem gebräunten Kopf, den leichten Sommermantel über dem Arm, ging rasch und straff aufgerichtet über den Platz nach dem Bahnhof. Ein Hausdiener trug ihm seinen Reisekoffer hinterher. Beim Anblick Schjeltings flog ein Lächeln über sein schnurrbärtiges Gesicht. Die Andern schauten ihm nach.

»Da geht er nun heim in das Land Wilhelms!«

»Je nun: Hier in Brüssel ist neutraler Boden! Hier trifft sich Freund und Feind!«

»Das wissen wir, mein lieber Schwiegersohn! Ich wüßte lieber seinen Namen!«

»Janssen hat ihn mir neulich genannt!« sagte Nicolai von Schjelting finster. »Ein Hauptmann Isebrink!«

»Ah – der!«

»Kennst Du ihn?«

»Bei uns in Paris kennt man ihn wohl!«

»Sieh nur diese Haltung: Ein Preuße, wie er im Buch steht!«

Der General de Rigolet de Mezeyrac schwieg eine Weile. Dann sagte er.

»Ein Preuße – ja . . . aber ich wünschte, wir hätten noch mehr solche Kerle auch bei uns!«


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