Rudolph Stratz
Das deutsche Wunder
Rudolph Stratz

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IV.

Heute erwarte ich nun meinen Filius hier in Wiesbaden!« sagte der Generalmajor z. D. Isebrink, während er mit zwei anderen alten Generalen in Zivil die Wilhelmstraße hinabging.

»Welchen denn von Ihren Vieren?«

»Wenn ich von ›dem‹ Filius spreche, meine ich immer meinen Generalstäbler, das Paulchen!«

»Na – Ihr Vaterstolz ist nicht von Pappe!«

». . . Habe auch allen Grund dazu!«

Ringsum Fahnen, Menschen, Musik. Die Bäderstadt feierte in dieser grünen Maienmitte von 1914 den alljährlichen Frühlingsbesuch des Kaisers. Eben klang von ferne die wohlbekannte Hupen-Fanfare. Tausendstimmiges Hurrah hinterdrein. Tausend Hüte hoben sich. Weiße Tücher winkten. Der Kaiser kehrte von einem Nachmittagsausflug nach der Saalburg in das Stadtschloß zurück.

Er dankte mit freundlichem Ernst.

»Hurrah! Hurrah! Hurrah!«

Es verklang. Die drei alten Soldaten hatten ehrfurchtsvoll Front gemacht. Das schwarz-weiße Band von 1870 leuchtete, als sie weiterschlenderten, auf ihren schlichten schwarzen Röcken. Sie grüßten fortwährend einstige Waffenkameraden, Grauköpfe wie sie. Hunderte dieser strengen, gefurchten Gesichter sah man in Wiesbaden. Sie hoben sich aus dem Jubel und Trubel, dem Lachen der Kurgäste, dem Lärm der Ausländer um sie her als stumme Zeugen einer ehernen, fernliegenden, dem neuen Friedensgeschlecht schon halb unwahrscheinlich gewordenen Zeit.

»Wo geht Majestät eigentlich von hier hin?«

»Nach Konopischt! Zum Erzherzog-Thronfolger von Österreich!«

»Bravo!«

Sie kamen in dem Gedränge an der Ecke der Museumsstraße kaum vorwärts. Rings um sie wurde Französisch, Englisch, Russisch gesprochen.

»Ich weiß nicht: Soviel Ausländer waren doch noch nie da!«

»Seit gestern ist doch hier der große Internationale Kongreß!« sagte General Isebrink. »Ich glaube, die Mediziner. Oder die Physiologen. Bei meinem Nachbar, dem Geheimrat Tillesen, ist jedenfalls ein Riesenbetrieb!«

»Ja, an die Feste hier muß man sich gewöhnen!«

Die Sonne schien hell vom blauen Frühlingshimmel. Bunt bauschten sich die Banner. Farbig leuchteten drüben durch das lichte Grün der Parkanlagen die Damenkleider, die Sonnenschirme, die Blumenhüte und die Blumenbeete. Die Kurkapelle schmetterte. Deutschland lud die Welt zu sich zu Gast, wie ein fröhlicher, kraftstrotzender, arbeitsstarker Mann am Feierabend die Nachbarn um sich versammelt und sich von ihnen keines Bösen versieht, weil er selbst dem Nächsten ja nur Gutes wünscht, Gutes erweist, Gutes aufdrängt.

Das war dies warmherzige, weichmütige Deutschland, das seine Sparbüchsen für die Buren leerte und den hungernden Indern das Scherflein der Witwe sandte, das liebevoll den Verschütteten von Messina Asbesthäuser baute und die abgebrannten Russen mollig und warm kleidete, das mit ganzen Schiffsladungen die notleidenden Norweger nährte und bettete und dabei schon nachdachte, wie es Yankees und Japanern eine Freude bereiten könne, dies Deutschland, dessen Herz so groß war wie sein Geist, und das aus dieser Unendlichkeit heraus Alles umfaßte, viel verstand und viel zu viel verzieh.

Ausländer überall. Sieche, durch Salvarsan genesende Russen in Rollstühlen, durch Röntgenstrahlen geheilte Angelsachsen am Stock, Italiener, in der Sonne sitzend, denen das Messer deutscher Chirurgen das Leben gerettet. Sie Alle fühlten sich hier zu Hause, schwatzten und lachten. Erst gegen die Bahnhofstraße hin wurde es allmählich um die drei alten Herren mit dem Eisernen Kreuz leerer.

»Na . . . Paul . . . zum Donnerwetter . . . Paul! Erkennste denn Deinen ollen Vater nicht mehr?«

Der Generalstabshauptmann mit dem dunkelroten Kragen und dem breiten dunkelroten Streifen an den Beinkleidern kam aus seinen Gedanken zu sich und blieb stehen. Das grauköpfige Kleeblatt begrüßte ihn mit Wohlwollen als eine kommende Leuchte der Armee.

»Was Neues aus Berlin, Herr Hauptmann?«

»Jawohl, Exzellenz! Die Russen haben drei Reservejahrgänge zu sechswöchigen Übungen einberufen . . .«

». . . und hier ist heute italienische Nacht!«

»Das sind zwei Millionen mehr auf den Beinen . . .«

». . . morgen großes Feuerwerk im Kurpark.«

»Dabei, ich glaube schon der zehnte russische Spionageprozeß vor dem Reichsgericht allein in diesem Jahr. Ich bewundere unsere Langmut gegenüber der Gesellschaft!«

»Na – Sie bringen eine andere Stimmung mit, Herr Hauptmann, als die hier!«

Eine Sekunde legte sich ein Schatten über die Sonne und die bunte Heiterkeit der Stadt und auch über die Gesichter der alten Herren.

»Auf Wiedersehen, Vater! Ich geh' schnell voraus. Ich muß doch gleich von zu Haus weiter!«

Der General schüttelte den Kopf. Als er heimkam, frug er seine Frau:

»Wo ist denn der Paul hin?«

»Na – das kannst Du Dir doch denken!«

Neben der kleinen Generalsvilla lag weiß und mächtig, den Säuleneingang dem Sumpfgrün des Kurparks zugewandt, in der Sonnebergerstraße das schloßartige Haus des Geheimrats Tillesen mit seinen Laboratoriums-Anbauten zwischen Teppichbeeten, Palmen und Zypressen.

»Vorhin ist sie da herausgekommen!« sagte die kleine energische Generalin Isebrink. »Ganz flott und fidel, Kopf im Genick. Kleid, Hut, Schirm, Schuhe – Alles weiß! Und er hier auch davon, als ob's brennte! Dann sind sie zusammen fort! Er wird noch ganz verdreht. Es muß 'mal ein Ende nehmen mit der jahrelangen Katzbalgerei!«

Es gab da, in der Richtung nach der einsamen Villenkolonie Eigenheim verlorene Wege zwischen Ackergrün und Obstblüte, auf die sich der Fremdenstrom nicht verirrte. Paul Isebrink und Inge Tillesen kletterten da vorsichtig einen steilen Kartoffelhang abwärts. Sie lehnte seine dargebotene Hand ab.

»Natürlich!«

»Was denn: natürlich?«

». . . daß Sie sich nicht helfen lassen! Immer die, die's am nötigsten haben!«

»Bleiben Sie nur nicht selber mit den Sporen in den Brombeeren hängen!«

Er sprang hinter ihr über den Graben auf die staubige Landstraße.

». . . Also, was meinten Sie vorhin . . .«

». . . Was ich meinte? Lieber Freund: Ich bin doch ein vernünftiger Mensch . . .«

»Nee, ganz und gar nicht!«

»Ich bin doch nicht mehr ganz jung . . .«

»Grün sind Sie, Inge – grün!«

»Ich hab' Manches gesehen! War lang in Amerika!«

»Leider Gottes!«

»Sie waren jedenfalls nicht dort!«

»Ich kenne das Land nicht und möchte es nicht kennen lernen! Militärisch ist da nichts zu holen, und im Übrigen sind mir diese Dollarfritzen zuwider!«

Inge Tillesen blieb stehen, lang, schlank und weiß, und faltete zornig die Hände über dem Griff des Sonnenschirms.

»Wenn man Ihnen nur beikäme . . . Wenn man Ihnen nur begreiflich machen könnte . . . Aber Sie wollen ja nicht! Ums Totschlagen nicht . . .«

»Zum Totschlagen sind wir ja da!«

»Da haben wir's! Das ist ja eben das Gräßliche! . . . Alle Ihre Gedanken drehen sich immer nur darum, daß ein Mensch dem andern die Zähne zeigen muß und ein Volk dem andern an die Gurgel springen. Wir leben doch nicht im Raubtierkäfig. Aber das ist Ihnen so in Fleisch und Blut übergegangen . . . Sie merken gar nicht mehr, daß Sie das mit neun Jahren schon als Kadett in Ihr Kinderhirn eingetrommelt bekommen haben!«

»Dafür bin ich meinen militärischen Erziehern noch jetzt dankbar!«

»Wert hat doch nur die Weltanschauung, die man sich selbst erwirbt!«

»Wie Sie in Amerika . . .!«

»Ja. Gerade als Frau! . . . Daß man drüben anders denkt, das ist in erster Linie dort der Einfluß der Frauen. Ich bin bei meinem Geschlecht gar nicht so für das Wissen, als für die Charakterbildung. Ich habe nicht studiert. Ich gehe meinem Vater nur so freiwillig zur Hand. Deswegen hat mir die Stellung der Frau da drüben so wohlgetan. Sie ist ein Mensch wie der Mann . . .«

»Das heißt, er steht, scheint's, mordsmäßig unter dem Pantoffel!«

»Sie kann Demokratin sein und er Republikaner . . . Sie mag für Silberwährung sein . . .«

». . . und er verdient inzwischen das Gold . . .«

»Können Sie denn nicht ernsthaft bleiben?«

»Ach – ich bin ernster, als es scheint, Inge!«

»Und die Folge: Reden Sie einmal mit einem Amerikaner über den Krieg! Er versteht Sie einfach nicht!«

»Dann tut er mir leid!«

»Überall auf der Welt sagt man sich: Wozu denn Streit? Uns Alle umfängt doch eine gemeinsame Kultur – mein Vaterhaus da hinten ist auch ein Stück davon und nicht das schlechteste! – Krieg ist sinnwidrig, weil er Kultur zerstört. Also geht er gegen alles moderne Denken!«

». . . Na – ich freue mich, daß die Menschen so viel besser geworden sind, als früher!«

»Besser nicht. Aber vernünftiger. Sie sehen ein, daß der Krieg keinen Vorteil bringt. Also leben sie miteinander in Frieden. Darin liegt die menschliche Freiheit! Namentlich für die Frau. Krieg ist Männerhandwerk. Er heißt Unterdrückung der Frau!«

»Er heißt Beschützung der Frau, liebes Kind! Beschützung vor dem Feind!«

»Ach – ewig der Feind!«

»Warum stampfen Sie denn dabei so mit dem Fuß, Inge?«

»Das ist's ja, was mich so erbittert. Das Leben ist so schön. So reich. So friedlich. Es bietet einem so viel. Ich möchte es genießen. Mich daran freuen. Kann ich denn das an der Seite eines Mannes, der das ganze Leben, so wie ein frommer Christ als Vorbereitung auf das Himmelreich, nur als Vorbereitung für den Krieg betrachtet? Dabei kommt der Krieg nie mehr! Gottlob! Seit einem halben Jahrhundert ist Ruhe!«

»Warte nur, balde . . .«

»Das sagen Sie! Das sagt Ihr immer! Müßt Ihr ja sagen! Das ist ja eben der Unterschied zwischen Ihnen und mir! Ihnen hat man von Jugend auf eine düstere Vorstellung von dem ›Erbfeind‹ beigebracht. Wenn ich, seit meiner Backfischzeit, an Franzosen denke, so sind das freundliche Gelehrte, die bei meinem Vater zu Gast waren und er bei ihnen . . .«

»Ihr werdet Euch noch über die Freundschaft wundern, Kinder!«

»Sie kriegen einen roten Kopf, wenn Sie 'was von Engländern hören! Meine eigene Schwester ist an einen Engländer verheiratet. Es ist der harmloseste Professor der Physiologie, den man sich denken kann. Er tut in Oxford keiner Fliege etwas zu Leid!«

»Das sind Alles Gemütsmenschen, da drüben!«

»Ewig malen Sie Einem die Russen als Schreckgespenst an die Wand. Da konnt' ich es doch nun einmal feststellen, weil ich doch eben in Moskau war. Die Russen denken an nichts Böses. Sie waren gutmütig wie die Bären. Sie haben uns mit Geschenken überhäuft!«

»Besonders die Kosacken – nicht?«

»Und so ging es meinem Vater immer und überall. Wie er noch Universitätslehrer war, haben Inder und Japaner zu seinen Füßen gesessen. Heute Abend versammeln sich bei ihm Gelehrte aus ganz Europa. Auf der ganzen Erde hat er seine Schüler, bekommt Besuche von ihnen, steht mit ihnen im Briefverkehr. Es ist wie eine große Familie!«

»In Familien ist immer der meiste Skandal!«

»Mein anderer Schwager, der Reichstagsabgeordnete, geht jetzt zum internationalen Friedenskongreß . . . Alle Menschen wollen einander näher kommen! Alle Menschen suchen sich zu verstehen! Nie war man sich so nahe wie jetzt. Nur Ihr steht finster abseits! Ihr allein wollt von nichts wissen. Das ist eine Härte und eine Enge und eine Armut – ach, du lieber Gott – ich kann da doch nicht hinein! Ich kann nicht. Es nimmt kein gutes En . . .«

»Ein Unteroffizier, dreizehn Mann sechster Kompagnie auf dem Rückmarsch vom Felddienst!«

Der über und über verstaubte Sergeant meldete es, während er auf der Landstraße stillstand, vorschriftsgemäß und dröhnend dem Hauptmann.

»Danke! Weiter! . . . Sehen Sie, Inge . . . da ist Ihnen eben unvermutet mitten auf der Chaussee der Krieg erschienen!«

»Warum schrie denn der Mann so furchtbar?«

». . . weil Ihr taube Ohren habt!«

»Lieber Freund: die Bauern auf dem Feld schauen zu uns herüber!«

»Die können es auch hören! Jeder! Merken Sie es denn in des Geiers Namen nicht, daß wir allein es Euch möglich machen, Euer wertes Ich und Eure Freiheit zu kultivieren, wir, die Leute, die ohne viel Mucksen in aller Stille ihre verfluchte Pflicht und Schuldigkeit tun?«

»Es wird bald ganz ohne Soldaten gehen!«

»Es hat schon lange nicht gebrannt! Da kündige ich die Versicherung! Ihr seid wirklich schlau!«

»Vielleicht klüger, als Sie glauben!«

». . . müssen Sie das so wegwerfend sagen?«

». . . genau mit dem Hochmut, an dem bei Ihnen Alles abprallt!«

»Liebe Inge! Wenn Jemand an geistigem Dünkel leidet, dann sind Sie's! Schlagen Sie doch schon diesen amerikanischen Deubel in sich tot!«

»Das müßten neun Zehntel der Menschheit tun. Sie und die Ihren – das sind ja nur eine Handvoll . . .«

». . . aber die einzig vernünftigen Leute! Ja, weinen Sie nur, Inge! Das ist sehr recht! Vielleicht kommen Ihnen dann bessere Gedanken!«

»Ich werde Ihnen nicht den Gefallen tun, zu weinen!«

»Dabei laufen Ihnen schon die dicken Thränen herunter!«

»Höchstens aus Zorn, daß man so gar nicht . . . Es preßt Einem das Herz zusammen . . . Es könnte Alles so schön und gut sein. Es ist eigentlich nur ein großes Mißverständnis zwischen uns . . .«

»Mir scheint: überall auf der Welt, Inge!«

»Aber wenn Sie Einem so gar nicht entgegenkommen . . .«

»Nicht einen Zoll breit!«

»Sehen Sie – da ist schon wieder dieses Schneidende. Das Herz wird Einem kalt dabei!«

»Meins nicht! Im Gegenteil: Inge . . . ich habe Sie von Berlin aus um diese Unterredung gebeten. Das muß aber die letzte sein. Ich muß wissen, woran ich bin. Vom Balkan aus geht es nicht mehr mit dem ewigen Hin und Her zwischen uns . . . Es nimmt Einem auch auf die Dauer die Nerven . . . Herrgott . . . rennen Sie nicht auf einmal so!«

Sie gingen stumm eine Strecke und blieben wieder stehen.

»Inge: Es ist ein verwünscht ernster Augenblick . . . Ich bin doch auch kein junger Dachs mehr! Seit drei Jahren stehe ich nun vor Ihnen und . . . Sie passen doch auch nicht für Jeden. Sie haben doch gewiß einen Haufen Leute heimgeschickt, in der Zeit! Nicht wahr? Na also! Das darf ich doch auf mich beziehen . . . In aller Bescheidenheit! . . . Inge, fassen Sie doch Mut! Wer wird sich denn so vor dem Leben fürchten? Es wird schon gehen! . . .«

Inge Tillesen durchschritt die kurze Strecke bis zu dem Haus ihres Vaters. Dort stellte er sich zwischen sie und das Gittertor des Gartens.

»Ich will doch sehen, ob Sie an mir vorbeikommen! . . . Inge: Sie finden nie wieder einen Mann, der Sie zugleich so kennt und so liebt wie ich! . . . Und wenn's anfangs eine Ehe mit Blitz und Donnerwetter giebt – na schön! Was sich liebt, das neckt sich! Wir sind Beide nicht von Pappe! Wir halten schon einen Puff aus!«

Inge Tillesen öffnete das Tor. Es klirrte zu. Sie stand drüben im Garten, durch das Gitter von ihm getrennt. Ein Schweigen.

»Gut, Inge – das ist auch eine Antwort. Also ich gehe. Ich lasse uns Beiden noch die letzte Möglichkeit: Ich bleibe bis morgen Mittag hier bei meinen Eltern. Überlegen Sie es sich bis dahin, ob Sie mir noch Etwas zu sagen haben!«

Ingeborg Tillesen trat in das Haus und ging in ihr Zimmer. Sie saß stumm, die Hände im Schoß. Ihr gegenüber an der Wand stand der schöne alte lübische Patrizierschrank. Auf dem Sims die Inschrift: »de Klock – de sleiht – de Tied, de geiht! – Ni so veel Quark – Frisch Hand an't Wark.«

Die Stunde geht – die Zeit verweht. Sie dachte sich: Nun ists vorbei . . . Eigentlich sollte ich froh sein . . . Aber ihr war nicht leicht ums Herz . . .

Dann kam ihre Schwester, Hannah Higgins, herein, eine kleine, frische, rosige Frau, um ihr einen Brief ihrer zwei in Oxford zurückgelassenen Jungen zu zeigen. Natürlich Englisch. Das »Fräulein« hatte ihn für den Acht- und Neunjährigen entworfen. Die Beiden waren in der Kirche gewesen. Sie hatten einem Cricket-Match der Eton-Knaben beigewohnt und guten Sport gesehen. Der ehrenwerte Talbot von Christ Church College, dritter Mann des siegreichen Oxford-Boots im großen Themserennen gegen Cambridge, hatte vorgestern ihnen Beiden in St. Giles Street die Hand gegeben. Sie waren rot vor Stolz geworden.

»Sind sie denn immer noch so ungezogen?« frug Inge zerstreut.

»Bill und Bob? Das sind kleine Gentlemen!«

»So? Na – hier waren's Lausbuben!«

»Ja, hier in Deutschland, da lassen sie sich leider gehen!«

Die kleine Frau Higgins hatte ganz krauses, aschblondes Haar, fidele hellblaue Augen und Grübchen von Komik um die Mundwinkel. Sie setzte sich der Schwester gegenüber.

»Ihr hier habt's gut: Ihr nennt einen Lausbuben einen Lausbuben! Bei uns drüben wäre das nicht respektabel! Du glaubst nicht, wie verlogen sie sind! Bis in die Knochen. Es gehört zur guten Erziehung, sich selber zu beschummeln. Bei meinen Jungen fängt's auch schon an . . .«

». . . wirklich?«

»Wenn der Eine einen Apfel vom Andern haben will, dann sagt er sich, daß so viel Obst für den Bruder nicht gut sei. Und daß es andererseits nicht weise sei, einen Apfel verderben zu lassen! Und dann opfert er sich erst und frißt ihn! So sind sie Alle! – Ich fasse sie in Gottes Namen humoristisch auf . . .«

»Das ist noch ein Glück!«

»Sonst könnt' man überschnappen! Behüte uns nur der Himmel vor einem Krieg zwischen uns und ihnen! Dann wüßt' ich wirklich nicht, was aus mir wird!«

Der Krieg . . . Schon wieder. Immer Isebrinks Geist. De Klock – de sleiht – de Tied, de geiht. – Es summte und brummte in Inge Tillesens Ohren wie von einem fernen Kirchturm durch die Lichterhelle, das Menschengewühl, das Stimmengewirr des großen abendlichen Empfangs der Kongreßgäste im Hause ihres Vaters. Eben hielt der kleine dicke weißbärtige Professor Roussillon von der Pariser Sorbonne seine Anrede an den Gastgeber, der gerade in diesen Tagen auch noch seinen sechzigsten Geburtstag feierte.

»Cher maître – mon cher confrère . . .« Er breitete die kurzen Ärmchen aus und fiel dem Geheimrat Tillesen beinahe um den Hals. Der stand schlicht und einfach da, ein äußerlich unscheinbarer Gelehrter, und lächelte still über Dinge und Menschen hinweg.

»Eccellenza!«

Professor Giovanelli aus Bologna warf sich in die Brust. Die Sprache Dantes rollte von seinen schwarzumbuschten Lippen. Seine Augen funkelten. Inge Tillesen setzte sich. Sie dachte: Jeder sagt dasselbe, nur mit einer andern Zunge. Jetzt wieder Professor Burchardt aus der Schweiz in einem rauhen und markigen Allemannisch . . .

»Guten Abend, mein Fräulein!«

Das klang in russisch gefärbtem Deutsch. Vor ihr war ein längliches, unruhiges und kluges Gesicht mit kühlen grauen Augen und dunkelblondem Schnurrbart. Eine vornehm-hagere Gestalt, den Kopf nach Slawenart lächelnd ein wenig zur Seite geneigt. Erst wußte sie nicht, wo sie ihn hintun sollte. Dann fiel ihr ein: Gott – das ist ja dieser Mensch aus Moskau! Und zugleich stellte er sich selbst vor: »von Schjelting!«

Dabei nahm er, ohne eine Aufforderung abzuwarten, neben ihr Platz. Sie rückte unwillkürlich ein wenig von ihm ab und sagte sich: . . . ›mein Fräulein . . .‹ – wahrscheinlich sparte er sich das ›gnädige Fräulein‹ für den Gothaer Almanach auf! Der Dünkel leuchtete ihm aus allen Poren, trotz seiner liebenswürdigen, weichen Art. Dabei – komisch: Eine gewisse Unsicherheit in den Augen. Die entging ihr nicht.

»Ich habe Sie heute Nachmittag schon einmal gesehen, Fräulein Tillesen! Sie standen vor Ihrem Haus, mit einem Offizier!«

Die Stunde geht . . . die Zeit verweht . . . Einmal ist es zu spät! . . . Dann dachte sie sich: Nein! – Er reist ja erst morgen Mittag ab!

»Die Welt ist doch klein: Zufällig sah ich denselben Herrn vor einiger Zeit schon einmal in Belgien. Ich habe ihn sofort wieder erkannt.«

Dabei zuckte es nervös auf seinen Zügen. Er wandte plötzlich den Kopf und sah sie starr an.

»Wissen Sie denn überhaupt noch, wer ich bin?«

Den Gefallen tat sie ihm nicht und machte nur ein zweifelndes Gesicht.

»Wir sind alte Bekannte aus Moskau! Das heißt . . . Sie haben mich da eigentlich hinauskomplimentiert. Ihr Vater schlief . . .«

»So?«

»Nun – und ich habe Ihren damaligen Rat befolgt, nach Wiesbaden zu gehen! Me voilà! Heute Nachmittag war ich schon in der Sprechstunde!«

Er beugte den blassen Kopf vor und sprach so leise und eindringlich, als handelte es sich um ein Staatsgeheimnis.

»Und: imaginez-vous, quel hasard . . . beim Weggehen treffe ich zwischen Tür und Angel Professor Smoljanoff von der Universität in Odessa – den, der da eben die miserable deutsche Ansprache radebrecht –. Seiner Vorstellung verdanke ich die Einladung für heute Abend . . . comme étranger de distinction . . . als Eindringling in der Wissenschaft . . .«

»Oh bitte – Sie sind hier willkommen!«

Sie frug sich: Warum schaut er mich denn so sonderbar an? Nervös und . . .? Na ja – närrisch sind ja Vaters Patienten häufig! Ein leiser Hauch von Zigaretten, Kölnisch Wasser und ganz feinem Juchten wehte von ihm aus. Er rief in ihr wieder die Erinnerung an Moskau wach, an Glockengeläute von hundert Goldkuppeln in weißglitzerndem Schnee, an asiatische Weite.

»Kommen Sie jetzt aus Rußland?«

»Nein. Aus Belgien!« sagte er hastig. »Wahrscheinlich reise ich von hier nach Montenegro.«

Seine Augen gingen unstät im Kreis. Er war plötzlich irgendwo anders mit seinen Gedanken. Dann kam er zu sich und schlug lächelnd die Fingerspitzen aneinander. Sein Landsmann Smoljanoff hatte seine Rede mit einem Hoch auf die deutsche Wissenschaft geschlossen. Nicolai Schjelting frug:

»Wer ist denn der schlanke, blonde Herr, der jetzt das Wort ergreift?«

»Ein Schwede. Professor Solander aus Upsala!«

»Er kann vorzüglich Deutsch!«

»Er war jahrelang Assistent meines Vaters, ebenso wie mein Schwager Higgins. Der Japaner auch, der nach ihm kommt!«

Der Asiate im Frack sah winzig neben dem langen Skandinavier aus. Inge Tillesen sagte sich: Was soll ich den ganzen Abend neben dem Russen sitzen? Sie stand plötzlich auf und überließ ihn, der sie verblüfft ansah, sich selbst. Drüben, auf der anderen Seite des Saales, war um sie ein Sprachengewirr des Turmbaus von Babel. Dann eine Stille. Professor Schefik Bey, der bebrillte Osmane vom großen Militärhospital in Stambul, pries in einem reinen und guten Deutsch als einstiger Jünger der Ruperto-Carola und Georgia-Augusta vor diesen Männern vom Fuß des Fusyama und der Pyramiden, vom Goldenen Horn und Goldenen Thor die deutsche Wissenschaft.

Dann kam Professor Higgins aus Oxford, Hannah Tillesens Mann. Er sah mit der goldenen Brille über den bartlosen, schwammigen Zügen wie ein gelehrter Chinese aus. Er blinzelte gleich schalkhaft über sein bartloses Gesicht. Er sprach mit trockenem Witz wie ein englischer Klubredner. Er gestand es gleich zu Anfang: Er konnte doch nicht seinem Schwiegervater Komplimente machen! Nein: Vorwürfe! In der Tat: Man war ernstlich besorgt. Keine Frage war geeigneter, einen Mann schlaflos zu machen, als diese: Was würde denn schließlich aus der Menschheit, wenn man ihr das Sterben ganz abgewöhnte – durch die deutschen Gelehrten. ›And his Excellency, my father in law‹, an der Spitze! Sein näselndes und bekümmertes Halb-Deutsch und Halb-Englisch klang so komisch und zugleich so ungewollt freimütig und herzlich, daß Alles lachte und klatschte. Halblaut sagte seine Frau zu ihrer Schwester Inge:

»Dabei haßt er Deutschland wie die Sünde!«

»Was, Hannah . . .«

»Ja, neuerdings! Früher mißachtete er es nur und riß bösartige Witze über uns! Bob und Bill plappern sie ihm ja schon nach. Aber jetzt hat er unter dem Einfluß seines Bruders, des großen Sir William Higgins, auf Euch eine kalte Wut!«

»Und da schämt er sich nicht, hier so zu reden?«

»Ach, Inge – Du kennst das People noch lange nicht!«

»Aber Lügen ist doch kein Gesellschaftsspiel!«

»Nein, Schatz: bei uns drüben eine Kunst. Ein höchst ernsthaftes Ding. Eine Gemütsakrobatik, im gegebenen Augenblick erst sich zu belügen und dann seinen Nächsten!«

»Darüber lachst Du auch noch, Hannah?«

»Weißt Du: wenn ich drüben einmal nicht mehr lachen kann, dann werd' ich verrückt.«

De Klock – de sleiht – de Tied, – de geiht . . . Plötzlich klang es wieder wie die Warnung Isebrinks: Wir sind von Feinden umgeben! Dabei überall frohe Gesichter, freundliche Worte in fremden Sprachen. Diener gingen umher und boten ehrwürdigen Edelwein in geschliffenen Römern. Deutschland verschwendete seinen goldenen Überfluß vom Rhein. Ringsum ein Schmatzen, Schlürfen, Lachen. Es übertönte fast das sonderbare, das ›l‹ und ›r‹ verwechselnde Englisch Li's, des Mandarinen, der die Grüße Pekings überbrachte. Auf einmal stand Nicolai Schjelting wieder neben Inge. Er tat, als bemerkte er ihre etwas befremdete Zurückhaltung nicht, oder übersah sie wirklich in einer inneren Erregung, die immer wieder zuckend über sein Gesicht lief. Dabei bewahrte er doch sein gewohntes hochmütiges und gewinnendes Lächeln.

»Deutschland hat zwei Gesichter!« sagte er. »Hier ist der preußische Janustempel geschlossen. Hier ist das Reich der Geister, das wir seit Jahrhunderten kennen und schätzen!«

Sie schwieg. Er fuhr fort, im lässigen Ton eines Mannes, der gewohnt ist, sich zu hören:

»Weimar . . . Bayreuth . . . Wissen Sie, was für mich eine der geweihtesten Stätten ist: der kleine, rote Sandsteinbau hinter dem Wredeplatz in Heidelberg, wo Bunsen und Kirchhoff die Spektral-Analyse entdeckten! Das sind die wahren Welteroberungen des germanischen Genius: durch den Weltenraum!«

Er war offenbar bemüht, ihr, der Tochter dieses Gelehrtenhauses, etwas Verbindliches zu sagen. Dabei war für sie immer ein Klang von Herablassung in seinem harten Deutsch. Ein Wink an das Volk der Dichter und Denker: die Erde ist vergeben! Mond und Sterne sind für Euer Fernrohr frei!

»Die Macht des Gedankens!« sagte er mit seinem lächelnden Blick über die festlich bewegte Menge aller Völker und Zonen. »Ich liebe dies Deutschland. Alles, was bei Ihnen alt ist: die Burgen am Rhein . . . den Kölner Dom . . . die Loreley . . . die Romantik . . . Ah – diese Höhenluft tut wohl! Ich wünschte nur einmal die Feinde Deutschlands hier herbei, damit sie erkennen, daß Deutschland nicht bloß an Krieg und Welteroberung denkt!«

»Wir? . . . Kein Mensch bei uns!«

Nicolai Schjelting lächelte.

»Die deutsche Disziplin ist bewundernswürdig. Das Geheimnis der Massenorganisation. Jeder will es. Aber Keiner giebt es zu.«

»Ich glaube, Sie träumen . . .«

»Wissen Sie, daß Sie darin den Japanern ähnlich sind? Ah – ce Grec-là.« In dem Stirnrunzeln gegen den in schallendem Französisch seine Ansprache haltenden Professor Aristides Papadopoulo von der Hochschule in Athen lag die Verachtung des russischen Beschützers gegen das slawische Völkergemengsel auf dem Balkan. »Aber es hilft Ihnen nichts, Fräulein Tillesen. Jedes Kind auf der Erde weiß, daß Bismarck noch lebt!«

»Natürlich lebt er in uns!«

». . . und daß sich Deutschland über kurz oder lang für Bismarck oder für Goethe entscheiden muß. Beides zugleich kann man nicht sein. Les esprits se rencontrent. Nun – unter diesem Dach sind wir auf Goethes Spuren!«

Schjelting merkte, daß seine Art, slawische Unbestimmtheit in gallische Klarheit zu pressen – dies geistreichlässige Obenhin, dem er bei den Weltdamen von Petersburg und Paris den Ruf eines bedeutenden Kopfs verdankte, an Inge Tillesens ruhiger deutscher Sachlichkeit abprallte. Sein Lächeln hatte auf einmal etwas Asiatisches. Erinnerte sie an Moskau. Der ganze Mensch war ihr einen Augenblick unheimlich. Sie ersah die Gelegenheit, da gerade Washington T. Walker vom Harvard College in den Vereinigten Staaten sein Sprüchlein aufgesagt hatte, und trat zu ihrem Vater. Er tauschte mit ihr einen lächelnden Blick. Sie wußte: Für ihn waren diese Ansprachen nur Geduldproben, diese Ehrungen nur Zeitverlust. Er erfüllte hier nur seine Pflicht als geistiger Statthalter Deutschlands.

»Du Vater – da hast Du einen komischen Patienten. Eben schaut er wieder herüber. Er scheint mir reichlich verdreht! . . . Was fehlt ihm denn?«

»Soweit ich heute sehen konnte, gar nichts. Er kommt morgen wieder.«

Ein zimmtbraunes, schwermütiges, von kohlschwarzem Vollbart umrahmtes Gesicht: der Inder Aughudimalo brachte die Grüße Ceylons. Er redete zuerst Englisch. Dann, zum Schluß, in klangvollem Sanskrit. Feierlich hallten, in der Sprache Buddhas, die Urlaute der Menschheit durch Raum und Zeit zu Ehren Deutschlands. Wie Quadern der Ewigkeit fügten sich in der Zunge Julius Cäsars die paar knappen lateinischen Sätze, die Exzellenz Tillesen zur Antwort sprach. Die Völker vermählten sich. Die Jahrhunderte flossen ineinander. Ein Bleibendes ragte aus dem Strom des Seins. Die Erkenntnis. Und Deutschland der Hüter des Horts.

Nicolai Schjelting war aufgestanden. Es glückte ihm nicht mehr, unauffällig in Inges Nähe zu kommen. Es schien ihm auch, daß sie ihn absichtlich vermied. Auf einmal sagte er sich: Pah – was tue ich hier? und fand sich schon mit umgeworfenem Sommermantel draußen in der Maikühle. In der fieberte er. Sein Herzschlag hämmerte. Er lief hastig die Sonnebergerstraße hinab und merkte dabei an dem harten Hall seiner Tritte, daß er seine Galoschen vergessen hatte, was ihm sonst nie geschah. Durch das Parkgebüsch zur Linken blinkten Hunderte von Glühwürmchen, die Lichter der italienischen Nacht. Die Wilhelmstraße war belebt wie am Mittag. Auf dem Schloßplatz daneben standen Massen vor dem Kaiserlichen Hoflager. Alle Fenster waren hell. Schwer bauschten sich ringsum die Fahnen. Vor dem Kurhaus knatterte es mit zischenden Raketen und dumpfen Donnerschlägen des Feuerwerks wie von einer Schlacht. Ein tausendfaches Ah hinterher. Er verzog ironisch die Lippen. Er dachte sich: Feiert nur Feste! Verplempert Euer Pulver! Wir halten unseres trocken. Wir sind am Werk! Ihr wißt nicht, wie nah! . . .

Plötzlich machte er Halt. Er griff sich an die Herzgegend, in einem Schrecken, wie er ihn noch nie in seinem Leben empfunden. Bei seiner methodischen Art, sich über Alles Rechenschaft zu geben, mußte er einmal klar darüber werden. Jetzt war der Augenblick da. Jetzt konnte er nicht länger dagegen ankommen und sagte sich, bleich geworden:

Was ist das? Ich will Deutschland vernichten und habe mich in eine Deutsche verliebt? . . .

Ich, ein verheirateter Mann. Und ein sehr wenig glücklich verheirateter Mann dazu!

Er bemühte sich, spöttisch zu lachen. Er zündete sich eine Zigarette an und sagte sich zwischen den zusammengebissenen Zähnen: Du träumst, mein Lieber! Das sind die deutschen Nebel! Voyons! ce n'est qu' une fantaisie! Er dachte auf französisch, seine Lieblingssprache, um sich gegen Inge Tillesen zu wehren. Dabei stand er schon wieder vor ihrem Haus. Drinnen war Musik. Der Schatten von Menschen an den Fenstern. Die Straße lag dunkel und leer. Sporen klirrten auf ihr. Ein Hauptmann in dunkelrotem Kragen kam des Wegs. Er ging langsamer als sonst Offiziere. Sein Gesicht war sehr ernst. Er sah nicht nach dem Lichterglanz des Festes hinüber, sondern gerade vor sich auf den Boden, bis er Schjeltings Blick auf sich gerichtet fühlte. Eine Sekunde waren die beiden Männer Aug' in Auge, erkannten sich gegenseitig, von der Begegnung in dem belgischen Eisenbahnabtheil her, maßen sich mit einem spöttischen und feindlichen Lächeln. Dann fiel im nächsten Haus das Tor ins Schloß. Nicolai Schjelting, der gefolgt war, las auf dem Messingschild: ›Isebrink‹. Wider seine kalte Natur flackerte ein jäher Haß in ihm auf. Er gestand es sich, wie er die Straße wieder hinunterlief: Eifersucht gegen diesen Mann. Er hatte ihn und Inge Tillesen diesen Nachmittag vor dem Haus zusammen stehen sehen . . .

Und während er diese Nacht noch weniger als sonst schlafen konnte, ging es ihm durch den Kopf: Schließlich stößt man in Deutschland immer auf den, der den Säbel an der Seite trägt! Er ist der Erste und er ist der Letzte. Der deutsche Säbel muß zerbrochen werden. Das gilt im Großen wie im Kleinen. Für die Erde und für mich selbst.

Abgespannt und übernächtig saß er am nächsten Vormittag im Sprechzimmer dem Geheimrat Tillesen gegenüber. Der wiederholte:

»Sie sind nicht krank! Nichts als Nervenüberlastung. Beseitigen Sie deren Ursachen. Sie sind so verschieden wie die Menschen selber . . . Familienverhältnisse . . .?«

»Ich lebe in einer ungetrübten Ehe.«

»Geldsorgen . . .«

»Ich bin reich.«

»Unpersönliche Affekte: religiöse Zweifel . . . wissenschaftliche Skrupel . . . politischer Ehrgeiz . . .«

»Der ist mir nun ganz fremd, Exzellenz!«

»So? Da hat sich also Professor Burchardt gestern geirrt! Er erzählte mir von Ihnen: Er hatte sich gerade auf dem Baseler Bahnhof Ihr »Essai contre le Teutonisme« gekauft. Da liegt es. Ich las noch vor dem Einschlafen darin!«

Schjelting warf einen Blick auf die hellblaue Broschüre und schwieg betreten.

»Sie sind ein guter Hasser, Herr von Schjelting. Das hindert Sie, wie ich sehe, nicht, die Hilfe des Landes nachzusuchen, das Sie da in Ihrem letzten Kapitel aus der Liste der Völker streichen wollen. Ich hätte Ihnen auch gern geholfen . . .«

»Exzellenz . . . ich . . .«

»Aber gegen die Reinkultur von Deutschenhaß, die Sie da in sich und Anderen züchten, giebt es auch in meinem Laboratorium kein Mittel. Nehmen Sie statt dessen eine Warnung von mir mit auf den Weg: Sie laufen in Ihrem Büchlein Sturm gegen ein von Ihnen mechanisch konstruiertes Deutschland. Sie ziehen an Schnüren Gliederpuppen von Offizieren, Königen, unzufriedenen Arbeitern, Junkern, malen Kasernen und Fabriken. Was dahinter steht, ahnen Sie nicht: den deutschen Geist!«

Der Gelehrte begleitete Schjelting bis zur Schwelle.

»Sie waren gestern in meinem Hause zu Gast. Vielleicht haben Sie da einen Hauch davon gespürt. Ich könnte mir denken, daß das in Etwas Ihre Ansichten über die Ausrottung Deutschlands mildert. Und daß Sie dann auch besser schlafen . . . Ich wünsche es Ihnen. Leben Sie wohl!«

Nicolai Schjelting stand draußen auf dem Flur. Er lachte höhnisch auf und schritt davon, ohne auf den Weg zu achten, und verfehlte ihn und fand sich plötzlich in dem Seitengang zu dem Laboratorium.

Die Türe nach dem ersten Arbeitsraum stand offen. Drinnen war es groß, kahl, hell. Tausende von Glasplättchen und Reagenzgläsern an den weißen Wänden. Herren und Damen in weißen Kitteln an den weißen Tischen. Haufen von weißen Mäusen lagen darauf, lebten noch in Käfigen, wurden geimpft, gemessen, seziert, zu Hunderten in Tabellen eingetragen, in Fieberkurven protokolliert.

»Ach, geben Sie mir doch mal schnell den Milzbrand rüber!« sagte Dr. Käthe Cornelius. Dr. Irma Enderlin neben ihr meinte:

»Ich hab' ihn nicht! Ich steck' bis über die Ohren im Flecktyphus! Katsura feixt so rätselhaft: wahrscheinlich hat der ihn annektiert.«

»Hier, bitte!«

Der quittengelbe Zwerg schob das Gläschen hinüber und kniff wieder das rechte japanische Schlitzauge über dem schwärzlichen Aalgewimmel der Cholera-Kommas im Wassertröpfchen des Mikroskops. An seiner Seite präparierte Dr. Woinowitsch, der riesenhafte Sohn der Schwarzen Berge, mit einer Hand, die gewohnt schien, den Yatagan zu führen, das Kleinhirn eines chloroformierten Meerschweinchens in dünne Scheiben zum Serum gegen die Hundswut.

Es war in dem Laboratorium kühl, wie in einer Kirche. Eine sonderbare Luft, voll Äther und Zigarrenrauch, wehte zu Schjelting hinaus. Dann hörte er plötzlich Inges Stimme:

»Hat Niemand das Radium gesehen?«

Inge Tillesen war von dem Nebenraum her hereingekommen. Sie trug nicht wie die Andern den Assistentenkittel. Sie erschien von drüben nur im Auftrag ihres Vaters. Dr. Pfeiffer hob den bärtigen Kopf von einer Kartoffelscheibe voll Mäusepest.

»Das hat Exzellenz gestern hier auf dem Tisch liegen lassen!«

Inge umwickelte mit ihrem Taschentuch die kleine Kapsel, in deren Glasgehäuse, einem kleinen Korkflöckchen ähnlich, das Geheimnis der Welt unsichtbar und lautlos seine Energiemassen in die Weite schleuderte. Draußen im Gang knatterte es heftig. Märchenhafte blaue und grüne Flammen zuckten im Nebenraum aus dem Röntgenapparat. Davor stand Schjelting.

»Sie suchen wohl meinen Vater?«

Er verneinte mit slawisch-schmiegsamer Verbeugung.

»Man hat mich bereits wieder weggeschickt. On m'a traité comme un garçon: . . . Ich bin kein Schuljunge, dem man politische Lektionen giebt!«

»Mein Vater und Politik . . . Ach, Du lieber Gott!«

»Dann haben Andere ihm das suggeriert. Sie!«

»Was denn?«

»Sie haben ihn gegen mich aufgehetzt . . . Sie arbeiten gegen mich . . . schon in Moskau hielten Sie mich fern von ihm . . .«

»Ich verstehe Sie nicht!« sagte Inge und schaute ihn kopfschüttelnd an.

»C'est ridicule! Ich suche ärztliche Hilfe, und man giebt mir eine pangermanistische Vorlesung. Das tat nicht not. Ich weiß es, daß sich Deutschland überhebt!«

»So – nun habe ich Sie bis zum richtigen Ausgang gebracht. Nun gehen Sie mal heim und beruhigen Sie sich, Herr von Schjelting! Das ist doch keine Art!«

»Deutschland überhebt sich . . . Aber es mag sich hüten. Es steht vor dem Fall! . . .«

»Was . . .?«

»Ah: Was sag' ich da? . . . Enfin . . . Es macht nichts! Sie glauben es mir ja doch nicht! . . . Ihr Alle nicht! Umso besser!«

»Was ist denn nur mit Ihnen? Was soll das höhnische Lachen? Man könnt' sich ja fürchten!«

»Oh nichts! . . . Mes compliments!«

Noch als Inge Tillesen wieder oben in ihrem Zimmer war, sah sie dies verbissene und hochmütige Lächeln vor sich. Diesen vielwissenden und grausamen, plötzlich halbasiatischen Gesichtsausdruck. Vor ihr stand der alte Lübecker Schrank. De Klock – de sleiht – de Tied – de geiht . . . Nun war es höchste Zeit. Sie trat ans Fenster. Vor dem Nachbarhaus lud der Diener des Generals Isebrink Offiziersgepäck auf einen Handkarren und schob ihn in der Richtung nach dem Bahnhof. Automobile tuteten an ihm vorbei, schossen fröhlich hinaus in den grünen Rheingau. Die französische Tricolore flatterte über dem Kühler, die Sterne und Streifen Amerikas, der britische Union Jack . . . Lautes Russisch klang unter den bunten Sonnenschirmen vorübergehender Damen. Der Maihimmel war wolkenlos blau. Ein leiser Wind bewegte den Wald von schwarz-weiß-roten Fahnen. Inmitten dieser gastfrohen Lebensfreude war in Inge Tillesen ein Grauen. So als sei irgendwo auf der Nordseite ein Fenster offen, und es zöge Einem kalt und unsichtbar über den Rücken. Sie dachte sich: Eigentlich sagen Beide dasselbe, Isebrink und dieser unheimliche Russe . . . Sie sind wie zwei Geisterseher. Sie merken etwas, was wir nicht merken. Vielleicht sehen sie auch nur Gespenster . . .

Aber ist es nicht seltsam, daß zwei Gegner genau der gleichen Meinung sind? Daß bald Alles anders auf der Welt wird als bisher seit fast undenklicher Zeit? Seit Menschenaltern kennen wir ja nur den Frieden, lieben wir den Frieden, preisen wir den Frieden. Der Krieg ist uns ein böser Traum unserer Vorfahren . . .

Unbestimmt regte sich in ihr ein Schutzbedürfnis. Etwas von der Wehrlosigkeit der Frau in einer Welt voll Waffen. Es ging ihr durch den Kopf: Wenn das möglich wäre – es ist ja nicht so – Aber wenn es möglich wäre, wer stellt sich dann vor den Vater und mich und das Haus hier und Wiesbaden und Deutschland?

Vor der Nebenvilla leuchteten die breiten, dunkelroten Generalstabsstreifen. Der Hauptmann Isebrink verabschiedete sich auf der Schwelle von seinen Eltern und ging fest und rasch die Sonnebergerstraße hinab. Er wandte nicht den Kopf. Er schaute geradeaus vor sich hin. Sie hätte ihn anrufen müssen, damit er sie am Fenster sah. Sie kämpfte mit sich. Nun war er schon um die Ecke . . . Fort. Auf dem Weg nach Berlin . . .

Sie war sehr ernst und sehr bleich geworden. Als sie an einem der nächsten Tage im Getümmel vor dem Kurhaus Schjelting sah und er sie lächelnd begrüßte, trat sie unvermittelt auf ihn zu.

»Ich möchte Sie gerne Etwas fragen!«

»Bitte!«

»Wollen Sie mir versprechen, es mir auch wirklich zu beantworten? Nicht bloß mit irgend einer französischen Phrase?«

»Wenn ich kann . . .,« sagte er lächelnd.

»Was meinten Sie vorgestern damit: Deutschland steht vor dem Fall?«

»Erbarmen Sie sich: Ein kleiner Scherz!«

»Damit scherzt man doch nicht!«

»Oh doch! Sie kennen mich nicht! Man nimmt mich nirgends ernst!«

»Ich glaube sehr!«

»Ah – Sie schmeicheln!« sagte er liebenswürdig und belustigt und wurde plötzlich finster unter ihrem Blick. Den hielt er nicht recht aus. Zwischen ihnen war ein sonderbares, schweres Schweigen.

»Herr von Schjelting: Was hieß das: Deutschlands Fall?«

Er lächelte wieder.

»Mißtrauen Sie mir doch! Ich lüge immer! Que voulez-vous? C'est mon métier! Meine Art, die Wahrheit zu sagen!«

»Also soll man nun an Ihre Drohungen glauben oder nicht?«

Es zuckte spielerisch über sein undurchdringliches Gesicht. Er erinnerte sie jetzt wirklich an ein lauerndes Raubtier.

»Ihr werdet Alle untergehen!« sagte er sanft und dabei so nachlässig, als spräche er vom Wetter.

»Was?«

»Aber Sie nicht mit! Das möchte ich nicht! Dafür werde ich sorgen! Sie werden noch von mir hören!«

»Man glaubt, man träumt . . .«

»Aber erzählen Sie es nicht weiter!« Er hob die Schultern. Der affektierte Hochmut erschien auf seinen unruhigen Zügen. »Oder erzählen Sie's! Man glaubt es Ihnen ja doch nicht! Keiner von Euch glaubt daran!«

»Und ich am wenigsten!«

»Qui vivra, verra! Meine Mission bei Ihnen ist erfüllt!«

»Soll ich mir denn einbilden, daß Sie eigens nach Wiesbaden gekommen sind, um mir Ihre Staatsgeheimnisse zu verraten?«

»Natürlich bin ich Ihretwegen hierher gekommen!«

Inge Tillesen machte große Augen.

»Ihr Vater kann mir doch nicht helfen!« sagte er. »Das wußte ich vorher! C'était une farce! Ich bin und bleibe schlaflos. Aber Sie wollte ich sehen und sprechen! Das will ich immerwährend! Seit Moskau!«

Nun begriff sie auf einmal: Um Gotteswillen! Der Mensch ist in Dich verliebt. Wahnsinnig verliebt. Diese Erkenntnis gab ihr einen solchen Schrecken, daß sie sich umdrehte, ihn stehen ließ, mehr davonlief als ging. Erst nach Hunderten von Schritten kam sie auf der Wilhelmstraße zu sich.

»Halt, Fräulein Inge! Wo brennt's denn?«

Sie blieb stehen. Vor ihr war der General Isebrink.

»Ja – Sie haben immer zu tun!« sagte er. »Bei Euch Tillesens – da jagen sich die Feste. Mein Haus ist wieder still. Mein Paulchen weg! 'runter in die Türkei!«

»Er ist doch nicht schon unterwegs?«

»Nee – noch in Berlin! Aber in 'ner Woche fährt er!«

»Oh – Aber ich halt' Sie vom Mittagessen ab! Guten Tag, Herr General!« Inge Tillesen gab dem alten Herrn die Hand und ging langsam weiter.


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