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Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Mina Harkers Tagebuch

1. November. – Den ganzen Tag setzten wir unsere Reise fort und zwar mit beträchtlicher Eile. Die Pferde scheinen es zu fühlen, daß sie gut behandelt werden, denn sie legen mit größtem Eifer ihre Etappen zurück. Wir haben nun schon oft Pferdewechsel gehabt und immer dieselbe Beobachtung gemacht, so daß wir wohl mit Recht annehmen dürfen, die Reise werde glücklich verlaufen. Dr. Van Helsing ist sehr wortkarg. Er erzählt den Bauern, daß er möglichst bald Bistritz erreichen wolle, und bezahlte sie gut, damit sie den Pferdewechsel beschleunigen. Währenddem nehmen wir heiße Suppe oder Tee oder Kaffee zu uns, dann geht es wieder weiter. Es ist ein wunderschönes Land, voll von Schönheiten aller erdenklichen Art, und die Leute dort sind mutig, stark und einfach und scheinen viele gute Eigenschaften zu besitzen. Sie sind sehr, sehr abergläubisch. In dem ersten Hause, wo wir abstiegen, bekreuzigte sich die Frau, die uns diente, als sie die Narbe auf meiner Stirn sah, und streckte zwei Finger gegen mich aus, um den bösen Blick zu bannen. Ich glaube, sie haben in ihrer Angst unser Essen mit einer doppelten Portion Knoblauch gewürzt, und Knoblauch kann ich gar nicht ausstehen. Seitdem habe ich es immer vermieden, meinen Hut und meinen Schleier abzunehmen, und habe mich so ihrer abergläubischen Bräuche erwehrt. Wir reisen sehr rasch, und da wir keinen Kutscher bei uns haben, der Gerüchte verbreiten könnte, so vermeiden wir ernste Schwierigkeiten. Knapp auf unseren Fersen aber folgt uns die Angst vor dem bösen Blick. Der Professor scheint unermüdlich; den ganzen Tag ruht er nicht, obgleich er mich lange Zeit schlafen ließ. Gegen Sonnenuntergang hypnotisierte er mich und sagte mir, daß ich antwortete wie immer: »Dunkelheit, plätscherndes Wasser und krachendes Holzwerk.« Unser Feind ist also immer noch auf dem Flusse. Ich habe Sehnsucht nach Jonathan, aber Furcht empfinde ich weder für ihn noch für mich. Ich schreibe dies, während wir in einem Bauernhause warten, bis die Pferde eingespannt sind. Dr. Van Helsing schläft gerade. Armer Mann, er sieht sehr abgemattet, alt und grau aus, aber um seinen Mund liegt, wie um den eines Siegers, ein Zug unbeugsamer Energie. Sogar im Schlafe verliert er nicht den Ausdruck festester Entschlossenheit. Nach unserer Abfahrt werde ich ihn veranlassen zu ruhen, während ich kutschiere. Ich werde ihm vorstellen, daß wir noch schwere Tage vor uns haben und daß er nicht in dem Augenblick versagen darf, wo wir aller seiner Kraft bedürfen … Es ist alles bereit; bald fahren wir ab.

2. November. Morgens. – Ich hatte Erfolg mit meinen Vorstellungen und wir kutschieren abwechselnd die Nacht über; nun steigt der Tag über uns herauf, freundlich aber kalt. Es liegt eine merkwürdige Schwere in der Luft; ich sage Schwere, weil mir augenblicklich kein besseres Wort einfällt. Ich will damit sagen, daß wir beide uns ziemlich bedrückt fühlen. Es ist sehr kalt, nur unsere warmen Pelze schützen uns einigermaßen. Bei Einbruch der Dämmerung hypnotisierte mich Van Helsing. Er fragte, ich habe geantwortet: »Dunkelheit, krachendes Holzwerk und rauschendes Wasser.« Der Fluß scheint sich also zu verändern, je weiter sie ihn hinauffahren. Ich hoffe, daß mein Gatte sich nicht in Gefahr begibt, jedenfalls nicht mehr, als nötig ist.

2. November. Nachts. – Den ganzen Tag über sind wir gefahren. Das Land wird wilder, je weiter wir kommen; die mächtigen Ausläufer der Karpathen, die uns in Veresti soweit entfernt und niedrig am Horizont erschienen, türmen sich nun ringsum vor uns. Wir sind in bester Laune; eines sucht das andere aufzuheitern und kommt dadurch selbst in bessere Stimmung. Dr. Van Helsing sagt, daß wir gegen Morgen den Borgopaß erreichen werden, Häuser gibt es sehr wenige hier; der Professor sagt, daß wir die zuletzt erhaltenen Pferde behalten müssen, da an ein Wechseln nicht zu denken ist. Er hat noch zwei weitere dazugekauft, wir fahren vierspännig. Die Tiere sind geduldig und gutmütig und machen uns keine Mühe. Wir werden von anderen Reisenden nicht gestört, deshalb kann auch ich zuweilen kutschieren. Es wird schon Tag sein, wenn wir den Paß erreichen; es ist nicht nötig, früher anzukommen. So können wir es uns bequem machen und wollen uns abwechselnd längere Ruhe gönnen. Was wird der morgige Tag uns bringen? Wir wollen den Ort aufsuchen, wo mein lieber Mann so Furchtbares erlitten hat. Gott führe uns den richtigen Weg und halte seine schützende Hand über Jonathan und die, die uns teuer sind; es drohen ihnen die entsetzlichsten Gefahren. Aber ich bin unrein vor Gottes Augen und werde es solange sein, bis er in seiner Gnade das Zeichen von mir nimmt, daß ich seinen Grimm erregt habe.

 

Abraham Van Helsings Memorandum.

4. November. – Dies meinem treuen Freund John Seward, Dr. med., von Purfleet, London, falls ich ihn nicht mehr sehen sollte. Es mag dann zur Aufklärung dienen. Es ist Morgen; ich schreibe beim Scheine eines Feuers, das ich – mit Frau Minas Hilfe – die ganze Nacht unterhalten habe. Es ist sehr kalt; so kalt, daß der graue Himmel ganz voll schwerer Schneewolken hängt, die, wenn sie herunterkommen, die Landschaft in ein dichtes Winterkleid hüllen werden, um so rascher, als auch der Boden schon hart gefroren ist. Frau Mina ist wahrscheinlich sehr angegriffen; sie ist die Tage her so ganz anders gewesen als sonst. Sie schläft und schläft und schläft. Sie, die sonst doch so eifrig ist, hat den ganzen Tag buchstäblich nichts getan; sogar ihren Appetit hat sie verloren. Sie macht keine Einträge in ihr Tagebuch, sie, die doch sonst jede Pause dazu benützte. Mir ist, als flüstere mir jemand zu, daß nicht alles in Ordnung sei. Heute abend ist sie aber wieder munterer. Ihr langer Schlaf den ganzen Tag über hat sie erfrischt und gestärkt, nun ist sie wieder lieb und fröhlich wie immer. Gegen Sonnenuntergang machte ich den Versuch sie zu hypnotisieren, aber leider vergeblich. Mein Einfluß auf sie ist von Tag zu Tag geringer geworden und heute fehlt er vollkommen.

Was das Historische betrifft, so muß ich, da Frau Mina keine stenographischen Aufzeichnungen mehr macht, dies in meiner altmodischen, schwerfälligen Weise besorgen, damit kein Tag ohne den üblichen Bericht vergeht.

Wir kamen gestern früh kurz nach Sonnenaufgang zum Borgopaß. Als ich die Zeichen der herannahenden Dämmerung bemerkte, traf ich die nötigen Vorbereitungen zur Hypnose. Wir hielten den Wagen an und stiegen ab, damit keine Störung einträte. Ich machte ein Lager aus Pelzen zurecht und Frau Mina legte sich nieder. Sie verfiel in hypnotischen Schlaf, der allerdings weniger lang und tief war als gewöhnlich. Wie bisher erhielt ich die Antwort: »Dunkelheit und wirbelnde Wasser«. Dann erwachte sie, munter und freudig. Wir setzten unseren Weg fort und erreichten den Paß. Von da an begann sie vor Eifer zu glühen; irgend eine neue Fähigkeit schien sich in ihr zu entwickeln, denn sie deutete auf einen Weg und sagte:

»Dorthin müssen wir fahren.«

»Woher wissen Sie das?« fragte ich.

»Ich weiß es ganz genau«, antwortete sie und fügte nach einer kleinen Pause hinzu: »Ist nicht mein Jonathan diesen Weg gefahren und hat seine Notizen darüber gemacht?«

Erst kam es mir ziemlich sonderbar vor, dann aber bemerkte ich, daß es der einzige Seitenweg war. Er ist nur wenig befahren und unterscheidet sich wesentlich von der Poststraße Bukowina-Bistritz, welche breiter und härter ist und größere Spuren der Benützung aufweist.

So schlugen wir diesen Weg ein; wenn andere Wege uns irre zu machen drohten – nicht immer wußten wir gewiß, ob es überhaupt Wege waren, denn sie waren vernachlässigt und eine leichte Schneedecke lag auf ihnen – so fanden sich doch die Pferde allein zurecht. Ich lasse ihnen einfach die Zügel, und geduldig laufen sie dahin. Nach und nach erkannten wir all die Dinge, die Jonathan in seinem merkwürdigen Tagebuche erwähnt. So geht es weiter, Stunde um Stunde. Ich riet Frau Mina zu schlafen; sie versuchte es, und es gelang ihr auch. Sie schlief die ganze Zeit; schließlich wurde ich aber mißtrauisch und bemühte mich sie zu wecken. Aber sie schlief weiter, und alle meine Versuche, sie ins Bewußtsein zurückzurufen, waren vergebens. Ich wollte nicht allzu gewaltsam verfahren, um sie nicht zu schädigen; denn ich weiß, daß sie viel ausgestanden hat und daß zeitweiliger Schlaf alles für sie ist. Ich glaube, ich schlafe selbst, denn plötzlich fühlte ich mich schuldig, als ob ich irgend etwas begangen hätte. Kerzengerade saß ich auf dem Wagen, die Zügel in den Händen, die Pferde trotteten dahin wie bisher. Ich sehe mich um und bemerke, daß Mina immer noch schläft. Es ist nicht mehr lange bis Sonnenuntergang; über den Schnee lagern sich die Sonnenstrahlen in breiten, goldigen Fluten, so daß wir lange, große Schatten werfen bis dahin, wo die Berge steil ansteigen. Bergan geht es, immer bergan, und alles ist so wild und felsig, als seien wir am Ende der Welt.

Dann aber weckte ich Frau Mina auf. Diesmal gelang es mir ohne besondere Schwierigkeit und ich versuchte sogleich, sie in hypnotischen Schlaf zu versetzen. Aber sie schlief nicht, gerade als ob ich nicht vorhanden wäre. Wiederum versuchte ich es, bis ich plötzlich bemerkte, daß es rings um uns dunkel geworden war. Wie ich umher schaute, sehe ich, daß die Sonne untergegangen war. Frau Mina lacht, ich drehe mich um und sehe nach ihr. Sie ist wieder ganz munter und sieht so wohl aus wie nie mehr seit jener Nacht in Carfax, als wir das erste Mal das Haus des Grafen betraten. Ich bin erstaunt, die Sache ist mir nicht geheuer; aber Frau Mina ist so freundlich und fürsorglich zu mir, daß ich alle Furcht vergesse. Ich zünde ein Feuer an, wir haben Holzvorrat mitgebracht. Sie bereitet das Essen, während ich die Pferde abschirre, an einem geschützten Platze festbinde und füttere. Als ich an das Feuer zurückkehrte, hatte sie das Essen schon fertig. Ich wollte ihr vorlegen, aber sie lächelte und sagte, daß sie bereits gegessen habe, daß sie vor Hunger nicht mehr habe warten können. Das gefiel mir gar nicht, ich habe meine schweren Bedenken; aber ich fürchte sie zu erschrecken und schweige deshalb still. Sie legt mir vor, ich esse allein. Dann wickeln wir uns in die Pelze und legen uns neben das Feuer, ich sage ihr, daß sie schlafen solle, während ich wache. Aber bald hatte ich meiner Wache vergessen. Wenn ich plötzlich auffuhr und mich erinnerte, daß ich ja wachen sollte, fand ich sie ruhig aber schlaflos liegen und mich mit fröhlichen Augen anblinzeln. Mehrere Male wiederholte sich dasselbe; ich habe auf diese Weise ziemlich viel geschlafen, ehe es Morgen wurde. Als ich mich erhob, versuchte ich sie zu hypnotisieren, aber leider konnte sie, obgleich sie gehorsam die Augen schloß, nicht einschlafen. Die Sonne stieg höher und höher; dann kam der Schlaf über sie, sehr spät zwar, aber so tief, daß sie nicht mehr aufzuwecken war. Ich mußte sie aufheben und schlafend in den Wagen legen, als ich die Pferde angespannt und alles zur Abfahrt vorbereitet hatte. Sie sieht in ihrem Schlummer noch gesünder und frischer aus als zuvor. Das ist es gerade, was mir nicht gefällt. Ich fürchte, ich fürchte! Ich fürchte alles, sogar das Denken; aber ich muß meinen Weg gehen. Es handelt sich um Leben oder Tod, oder um mehr als das, und wir dürfen nicht zurückschrecken.

5. November, Morgens. – Lassen Sie mich alles genau berichten. Obgleich wir beide manch seltsame Dinge erlebt haben, könnten Sie doch vielleicht zuerst auf den Gedanken kommen, daß ich, Van Helsing, verrückt sei, daß die mancherlei Schrecken und die lang andauernden Angriffe auf meine Nerven mich schließlich doch um meinen Verstand gebracht haben.

Wir reisten den ganzen gestrigen Tag und kamen immer weiter in das Gebirge hinein, in Landstriche, die immer wüster und wilder wurden, vorbei an tiefen, gähnenden Abgründen und vielen Wasserfällen. Es sah aus, als hätte Mutter Natur hier Karneval gefeiert. Frau Mina schläft und schläft, und obgleich ich Hunger hatte und mir etwas zubereitete, konnte ich sie nicht einmal zur Mahlzeit wecken. Ich begann zu fürchten, daß der unheimliche Zauber dieses Platzes auf sie einwirke, da sie doch schon die Vampyrtaufe empfangen. Wenn sie den ganzen Tag schläft, sagte ich mir, so muß ich es eben auch tun, damit ich wenigstens die Nacht über munter bin. Als wir die holperige Straße weiter entlang fuhren, – es war eine Straße von alter, unvollkommener Bauart – schlief ich ein. Wieder erwachte ich mit einem Gefühl der Schuld und versäumter Zeit. Frau Mina schlief noch immer, die Sonne war schon tief heruntergegangen. Aber alles hatte sich vollkommen verändert. Die drohenden Berge schienen in weitere Entfernung gerückt zu sein und wir befanden uns nahe der Spitze eines steil ansteigenden Hügels, den ein Schloß krönte, wie es Jonathan in seinem Tagebuch beschrieben hat. Frohlocken und Furcht bemächtigten sich gleichzeitig meiner, denn, ob gut oder schlimm, das Ende war nahe. Ich weckte Frau Mina auf und versuchte sie zu hypnotisieren. Leider vergeblich, wie immer in letzter Zeit. Dann, ehe die Dunkelheit hereinbrach – bisher hatten wir noch Zwielicht, das der von der untergegangenen Sonne noch gerötete Himmel zusammen mit dem frisch gefallenen Schnee erzeugte – spannte ich die Pferde aus und fütterte sie an einer geschützten Stelle. Dann zündete ich ein Feuer an, in dessen Nähe es sich Frau Mina, die nun vollkommen erwacht war und lieblicher aussah als je, inmitten ihrer Reisedecken bequem machte. Ich bereitete das Essen, aber sie wollte nichts zu sich nehmen, weil sie, wie sie sagte, keinen Hunger hatte. Ich nötigte sie nicht, da ich wußte, daß es doch vergebens gewesen wäre. Aber ich selbst aß, weil ich mir in aller Interesse meine Kräfte erhalten mußte. Dann, in Sorge um das, was sich ereignen könnte, zog ich einen schützenden Ring um den Platz, wo Frau Mina saß. Auf den Ring streute ich ein Teilchen der Hostien, so dicht als möglich, damit der Schutz ein recht ausgiebiger sei. Sie saß die ganze Zeit still, so still wie eine Tote. Dann wurde sie bleicher und bleicher, so daß sie schließlich so weiß war wie der Schnee ringsum, und sagte kein Wort. Aber als ich zu ihr trat, klammerte sie sich fest an mich, und ich fühlte, wie das arme Geschöpf vom Kopf bis zu den Füßen zitterte und bebte. Als sie sich etwas beruhigt hatte, sprach ich zu ihr:

»Wollen Sie denn nicht näher ans Feuer herankommen?« Ich wollte erfahren, ob sie dazu imstande wäre. Sie erhob sich, aber als sie einen Schritt getan hatte, blieb sie stehen wie festgebannt.

»Warum kommen Sie nicht näher?« fragte ich. Sie schüttelte den Kopf und begab sich auf ihren Platz zurück, wo sie sich niederließ. Sie sah mich mit weit offenen Augen an, als ob sie aus tiefem Schlafe erwacht wäre, und sagte leise:

»Ich kann nicht!« und schwieg dann. Ich war zufrieden, denn ich wußte nun, daß das, was sie nicht vermochte, auch keiner von denen konnte, die wir fürchteten. Mochte ihrem Leibe auch noch Gefahr drohen, ihre Seele war wenigstens gerettet!

Plötzlich begannen die Pferde zu wiehern und an ihren Halftern zu zerren; ich trat zu ihnen und beruhigte sie. Als sie meine streichelnden Hände fühlten, wieherten sie leise und freudig und leckten meine Hände. Mehrere Male mußte ich zu ihnen gehen, bis zu der kältesten Stunde der Nacht, in der sich alles Leben der Natur im Tiefstand befindet; jedesmal wirkte meine Nähe beruhigend auf sie ein. In dieser kalten Stunde erlosch das Feuer. Ich machte mich daran, ein neues anzuzünden, denn in wehenden Strichen kam der Schnee hernieder und mit ihm ein kalter Nebel. Sogar in der Dunkelheit bemerkte ich eine gewisse Helle, wie sie über Schneeflächen zu liegen pflegt. Es kam mir vor, als nähmen die flatternden Flocken und die Nebelfetzen die Gestalten von Frauen in wehenden Gewändern an. Alles lag in tiefem, düsterem Schweigen, nur die Pferde wieherten und stampften, als ob sie sich vor etwas Schrecklichem fürchteten. Angst bemächtigte sich meiner, entsetzliche Angst. Aber dann kam wieder das Gefühl der Sicherheit über mich, als ich mir vergegenwärtigte, daß ich mich ja innerhalb des schützenden Ringes befand. Meine Einbildungen waren doch wohl Kinder der Nacht und des Grausens, der immerwährenden Unruhe und furchtbaren Angst. Es war, als ob mich die Erinnerung an all die schauerlichen Erlebnisse Jonathans überfallen hätte. Die Schneeflocken und der Nebel tanzten und wirbelten im Kreise; ich glaubte wieder die durchsichtigen Schatten der gespenstischen Frauen zu erkennen, die Jonathans Mund geküßt hatten. Dann drängten sich die Pferde immer enger und enger zusammen und schrieen wie Menschen in Todesnot. Aber die Angst des Schreckens kam nicht so stark über sie, daß sie sich losgerissen hätten. Ich fürchtete für Frau Mina, als diese unheimlichen Schatten immer näher kamen und um uns herumtanzten. Ich sah mich nach ihr um, aber sie saß still da und lächelte mir zu. Als ich ans Feuer gehen wollte, um nachzulegen, hielt sie mich fest und flüsterte mit leiser Stimme, wie im Traum:

»Nein, nein! Gehen Sie nicht hinaus. Hier sind Sie sicher!« Ich sah sie an und sagte:

»Aber Sie? Für Sie habe ich Sorge!«, worauf sie lachte – ein tiefes, traumhaftes Lachen – und erwiderte:

»Sorge um mich? Warum Sorge um mich? Niemand in der Welt kann sicherer sein vor ihnen als ich.« Als ich mir den Sinn ihrer Worte klar zu machen suchte, ließ ein Windstoß die Flamme hoch aufflackern, so daß ich die rote Narbe auf ihrer Stirne erblickte. Da allerdings begriff ich. Immer näher und näher kamen die wirbelnden Gebilde aus Schnee und Nebel, hielten sich aber außerhalb des geweihten Kreises. Dann begannen sie sich zu materialisieren bis – Gott wird mir wohl den Verstand genommen haben, denn ich sah es mit sehenden Augen – in Fleisch und Blut die drei Frauen vor mir standen, die Jonathan in dem Saale des Schlosses gesehen hatte, als sie seinen Hals küssen wollten. Ich erkannte die schwellenden Formen, die klaren, grausamen Augen, die weißen Zähne, die frische Farbe, die wollüstigen Lippen. Sie lächelten Frau Mina zu, und als ihr Lachen durch das Schweigen der Nacht drang, winkten sie mit den Armen und deuteten auf sie. Dann riefen sie mit dem seltsamen, süßen, nervenerregenden Klang gestrichenen Glases:

»Komm, Schwesterchen, komm! Komm zu uns! Komm! Komm!« Angsterfüllt wandte ich mich Frau Mina zu. Mein Herz flackert froh auf wie die Flamme, denn in ihren schönen Augen lag ein solcher Ausdruck des Entsetzens und Abscheus, daß ich wieder Hoffnung zu fassen wagte. Gott sei gedankt, sie gehörte noch nicht zu jenen. Ich ergriff ein Stück Brennholz und ging, ein Stück der Hostie vor mich hinhaltend, auf das Feuer zu. Sie zogen sich vor mir zurück und lachten ihr schauerliches, tiefes Lachen. Ich legte das Holz in die Glut und fürchtete mich nicht, denn ich wußte, welch starker Zauber uns beschützte. Mir konnten sie nicht nahe kommen, solange ich solche Waffen trug, und Frau Mina nicht, solange sie sich in dem Ringe aufhielt, den sie selbst ebensowenig verlassen konnte, als jene in ihn einzudringen vermochten. Die Pferde hatten unterdessen zu wiehern aufgehört und lagen still auf der Erde. Der Schnee bedeckte sie langsam und leise, und ich bemerkte, daß sie immer weißer wurden. Da wußte ich, daß es für die armen Tiere fürderhin keine Furcht mehr gab.

So blieben wir, bis das Rot des Morgenhimmels durch das Schneegestöber drang. Ich war verzweifelt, erschreckt und voll von Schmerz und Angst; aber als die herrliche Sonne am Horizont emporstieg, durchzog es mich wie neues Leben. Bei den ersten Anzeichen der Morgendämmerung vermischten sich die Gespenster allmählich mit dem stöbernden Schnee und flatternden Nebel. Wie Wölkchen aus durchsichtigen Schatten flogen sie in der Richtung auf das Schloß davon und verschwanden.

Wie gewohnt, begab ich mich bei Beginn des Morgengrauens zu Frau Mina und wollte sie hypnotisieren; aber sie lag in tiefem Schlafe, aus dem ich sie nicht zu erwecken vermochte. Ich versuchte sie im Schlafe zu hypnotisieren, aber sie reagierte nicht. So wurde es Tag. Ich fürchte mich noch immer, den Platz zu verlassen. Ich habe mein Feuer angezündet und nach den Pferden gesehen, sie sind alle tot. Heute gibt es viel zu tun; ich will warten, bis die Sonne höher steht, denn ich muß einige Plätze finden, wo mir das Sonnenlicht, mag es auch durch Nebel und Schneegestöber verfinstert werden, einige Sicherheit gewähren wird. Ich will mich noch durch ein Frühstück stärken und dann an mein schweres Werk gehen. Frau Mina schläft noch immer; sie ist glücklicherweise ruhig in ihrem Schlafe …

 

Jonathan Harkers Tagebuch.

4. November, abends. – Der Unfall der Barkasse ist etwas Schreckliches für uns gewesen. Ohne ihn hätten wir das Boot schon lange überholt und jetzt wäre meine liebe Mina bereits frei. Ich denke mit heißer Sorge an sie, die drüben, jenseits der Wälder, nahe dem entsetzlichen Platze weilt. Wir haben Pferde genommen und folgen der Spur. Ich schreibe dies, während Godalming alles vorbereitet. Unsere Waffen haben wir mitgenommen. Die Zigeuner müssen gut aufpassen, wenn sie mit uns kämpfen wollen. Wenn nur Morris und Seward bei uns wären. Wir können nun nichts weiter tun als hoffen. Wenn ich nicht mehr zum Schreiben kommen sollte, so lebe wohl, Mina!

 

Dr. Sewards Tagebuch.

5. November. – Mit Anbruch der Morgendämmerung sahen wir den Zug der Zigeuner in Eile mit ihren Leiterwagen vom Flusse weg landeinwärts fahren. Sie umgaben ihn in einem dichten Schwarm und flogen dahin wie besessen. Leise fällt der Schnee, und in der Luft ist eine seltsame Unruhe. Unsere eigenen überreizten Gefühle mögen uns dies vielleicht glauben machen, jedenfalls liegt ein eigentümlicher Druck auf uns. In weiter Ferne höre ich das Bellen von Wölfen, der Schnee treibt sie von den Bergen herunter; sie sind eine Gefahr, die uns von allen Seiten umgibt. Die Pferde sind bereit, wir werden sogleich abreiten. Irgend jemandes Tod ist es, zu dem wir reiten.

 

Dr. Van Helsings Memorandum.

5. November, nachmittags. – Als ich Frau Mina verließ, die noch immer schlafend inmitten des geweihten Kreises lag, schlug ich den Weg zum Schlosse ein. Der Schmiedehammer, den ich im Wagen von Veresti mitgebracht hatte, war mir sehr nützlich. Obgleich die Türen alle offen waren, zertrümmerte ich deren rostige Angeln, damit nicht böser Wille oder böser Zufall nach meinem Eintreten die Türen zuwerfen und mich einsperren konnte. Jonathans schlimme Erfahrungen kamen mir sehr zu statten. Ich erinnerte mich des im Tagebuche beschriebenen Weges zu der alten Kapelle. Dort hatte ich, wie ich wußte, meine Aufgabe zu erfüllen. Die Luft war drückend; sie roch wie Schwefeldampf; mehreremale glaubte ich umsinken zu müssen. Ein dumpfes Dröhnen klang in meinen Ohren; ich wußte nicht gewiß, ob es nicht das ferne Heulen von Wölfen war. Dann gedachte ich wieder der Frau Mina und war in großer Sorge um sie. Ich hatte nicht gewagt sie mitzunehmen, sondern hatte sie, vor dem Vampyr durch den geweihten Kreis geschützt, zurückgelassen. Und nun drohte ihr Gefahr von den Wölfen! Ich war mir klar, daß ich hier mein Werk zu vollenden hatte; was die Wölfe betraf, so mußten wir eben Gottes Willen hinnehmen. Jedenfalls war es nicht mehr als der Tod und darüber hinaus die Erlösung. Hätte ich für mich zu wählen gehabt, so wäre mir die Wahl leicht gefallen: im Magen eines Wolfes wäre es jedenfalls besser gewesen als in der Gruft des Vampyrs. So mußte ich mich entschließen, mein Werk zu Ende zu führen.

Ich wußte, daß mindestens drei Gräber vorhanden seien – belegte Gräber. So suchte ich und fand eines von ihnen. Da lag eines der Weiber in seinem Vampyrschlaf, so voll Leben und wollüstiger Schönheit, daß es mich kalt überlief, als sei ich gekommen um zu morden. Ich begreife nun, daß, wenn in vergangenen Zeiten jemand eine solche Aufgabe zu erfüllen sich vornahm, er schließlich nicht den Mut dazu fand oder daß ihm die Nerven versagten. So zögerte er und zögerte, bis die Schönheit und der Zauber der arglistigen Un-Toten ihn gebannt hatte; und er bleibt, bis die Sonne untergegangen und der Vampyrschlaf vorüber ist. Dann öffnen sich die herrlichen Augen des Weibes und erstrahlen in heißer Liebe, der wollüstige Mund bietet sich zum Küssen dar und der Mensch ist schwach. Und wieder ist ein Opfer mehr dem Vampyrtum verfallen; wieder eines mehr, das in die entsetzlichen, grausigen Reihen der Un-Toten tritt!

Es war ohne Zweifel ein Zauber, daß ich durch die Gegenwart einer dieser Frauen in Erregung geriet, die in ihrem vom Alter zerfressenen und dicht mit jahrhundertealtem Staub bedeckten Sarge schlief, obgleich der gräßliche Geruch auch hier herrschte wie in den Schlupfwinkeln des Grafen. Ja, ich war erregt – ich, Van Helsing, mit allen meinen Vorsätzen und all dem grimmen Haß; es erfüllte mich ein Verlangen, das meine Kräfte zu lähmen und auf meiner Seele zu lasten schien. Vielleicht war es das natürliche Schlafbedürfnis, vielleicht auch die seltsam drückende Luft, was mich überwältigte. Jedenfalls verfiel ich in Schlaf, in einen Schlaf mit offenen Augen, wie einer, der sich einem süßen Zauber hingibt. Da ertönte durch die klare Schneeluft ein langgezogener Weheruf, so voll Angst und Schmerz, daß ich emporfuhr, wie vom schmetternden Klang einer Trompete. Es war die Stimme Frau Minas, die ich vernahm.

Da raffte ich mich auf, um mein furchtbares Werk zu vollenden. Ich fand, als ich die Sargdeckel abhob, eine andere der Schwestern, die zweite Dunkelhaarige. Ich wagte es nicht sie anzusehen, wie ihre Schwester, damit ich nicht wieder diesem bestrickenden Zauber verfiele. Ich suchte schnell weiter und fand in einem großen, erhöht gestellten Sarge, wie man wohl einen besonders lieben Toten bettet, die dritte schöne Schwester, die ich wie seinerzeit Jonathan, sich aus den Nebelatomen hatte entwickeln sehen. Sie war so schön anzuschauen, von so bestrickendem Liebreiz, daß der Instinkt, der den Mann zwingt, das weibliche Geschlecht zu lieben und zu beschützen, mich in neue heiße Erregung versetzte. Aber der Weheruf Frau Minas klang mir immer noch in den Ohren. Ich machte mich, ehe noch der Zauber sich meiner vollständig bemächtigen konnte, an die weitere Durchführung meines grausamen Vorhabens. Ich hatte nunmehr alle Gräber der Kapelle durchsucht, soweit ich es zu beurteilen vermochte, und da uns in der Nacht nur diese drei Gespenster erschienen waren, nahm ich an, daß nicht mehr als drei Un-Tote hier in Tätigkeit seien. Noch ein Grabmal war da, auffallender als die übrigen. Es war sehr groß und schön ausgeführt. Nur ein Wort stand darauf:

 

Dracula.

 

Das also war die unheimliche Ruhestätte des Königs der Vampyre, dem so viele untertan sind. Das Grab war leer; dies bewies mir in beredter Weise das, was ich ohnehin schon wußte. Ehe ich daran ging, diese Frauen durch mein grauenhaftes Werk dem natürlichen Tode zu überliefern, legte ich in Draculas Grab etwas von der Hostie und verbannte ihn, den Un-Toten, für immer daraus.

Dann begann ich mein schweres Werk, vor dem ich mich wirklich fürchtete. Wäre es wenigstens nur eine Frau gewesen, es wäre mir leicht erschienen. Aber drei! Wenn ich einmal das Entsetzliche getan, es noch zweimal wiederholen! War es schon schrecklich bei der guten Lucy, wie mußte es dann bei diesen werden, die Jahrhunderte überlebt, die ihre Kräfte im Lauf der Zeiten ins Ungeheure verstärkt haben mußten, die, wenn es ihnen möglich gewesen wäre, für ihre gespenstische Existenz gekämpft hätten.

Lieber Freund John, es war wirklich Fleischerarbeit. Hätte mir nicht der Gedanke an andere Tote und an die Lebenden, über deren Häuptern eine furchtbare Gefahr schwebte, die Kraft gegeben, ich wäre unterlegen. Ich zitterte, und zittere heute noch, obgleich meine Nerven aushielten, bis alles vorüber war. Hätte ich nicht den Frieden im Gesicht der ersten gesehen und die Freude, die vor der endgiltigen Auflösung noch darüber hinhuschte wie eine Bestätigung, daß die Seele nun erlöst sei, ich hätte die blutige Arbeit nicht zu Ende führen können. Ich hätte das entsetzliche Knirschen, das der Pfahl beim Einschlagen in den Leib verursachte, nicht zu ertragen vermocht, ebenso wenig wie den Anblick der sich windenden Gestalt und der Lippen voll blutigen Schaums. Ich wäre entsetzt geflohen und hätte mein Werk unvollendet gelassen. Aber nun ist alles geschehen und ich kann die armen Seelen nun bedauern. Ich trage keinen Groll mehr gegen sie, jetzt, da ich weiß, daß sie ihren vollen Todesschlaf schlafen. Denn, Freund John, kaum hatte mein Messer den Kopf abgetrennt, da schwanden die Leiber dahin und zerfielen zu Staub, aus dem sie geworden. Es war, als machte der Tod, der einige Jahrhunderte früher hätte kommen sollen, jetzt sein Recht besonders geltend und sagte: »Hier bin ich!«

Ehe ich das Schloß verließ, sicherte ich die Eingänge, sodaß der Graf als Un-Toter sie nicht mehr betreten kann.

Als ich wieder in den Kreis zurückkam, in dem Frau Mina wieder schlief, erwachte sie: Wie sie meiner ansichtig wurde, weinte sie darüber, daß ich so viel hätte ertragen müssen.

»Kommen Sie«, sagte sie. »Kommen Sie fort von diesem unseligen Platze! Wir wollen meinem Mann entgegeneilen, der, ich weiß es gewiß, auf dem Wege zu uns ist.« Sie sah schmal, bleich und krank aus, aber ihre Augen waren klar und glühten vor Eifer. Ihre Blässe und Schwäche zu sehen, war mir förmlich eine Wohltat, denn vor meinen Augen standen noch die Frauen mit ihrem frischen Aussehen im Vampyrschlaf.

Voll von Vertrauen und Hoffnung, aber auch von Furcht, zogen wir ostwärts, um unseren Freunden zu begegnen – und ihm, von dem mir Frau Mina sagte, daß wir ihn sicher treffen würden.

 

Mina Harkers Tagebuch.

6. November. – Es war spät am Nachmittag, als der Professor und ich gegen Osten aufbrachen, woher ich wußte, daß Jonathan kommen werde. Wir liefen nicht rasch, obgleich es steil bergab ging, denn wir hatten einige Decken und Pelze zu tragen, da wir uns der Kälte und dem Schnee nicht schutzlos aussetzen durften. Wir führten auch einige Lebensmittel mit, denn wir befanden uns ja in einer vollkommenen Einöde und konnten, soweit wir überhaupt durch den fallenden Schnee zu sehen vermochten, keine Spur einer menschlichen Wohnstätte entdecken. Als wir etwa eine Meile gegangen waren, fühlte ich mich von dem schwierigen Abstieg ermüdet und setzte mich nieder, um zu rasten. Dann wendeten wir die Blicke rückwärts und sahen Schloß Dracula liegen, das in klaren Linien vom Himmel sich abhob. Wir waren so tief unter der Spitze des Hügels, auf der es stand, daß es hoch über die oberen Konturen der schroffen Felsgebilde der Karpathen emporragte. Wir sahen es in seiner ganzen imponierenden Größe, tausend Fuß über uns am Rande eines ungeheuren Abgrundes; eine tiefe Schlucht trennte es auf einer Seite von dem nächstliegenden Berge. Der Platz hatte etwas Wildes und Unheimliches an sich. Wir konnten das ferne Heulen von Wölfen vernehmen. Sie waren wohl noch weit entfernt, aber dennoch war uns der Klang ihrer Stimmen, obwohl gedämpft durch den dichten Schneefall, unbehaglich. Dr. Van Helsing suchte, wie ich aus seinen Bewegungen entnahm, einen geschützten Punkt, auf dem wir einem Angriff weniger ausgesetzt wären. Der steinige Weg führte immer noch weiter in die Tiefe; wir konnten ihn noch weithin durch die sich anhäufenden Schneemassen erkennen.

Nach einer Weile rief mir der Professor zu und ich stieg zu ihm hinauf. Er hatte einen prächtigen Platz entdeckt, eine Art natürlicher Höhle mit einem torartigen Eingang. Er ergriff mich bei der Hand und zog mich hinein: »Sehen Sie«, sagte er, »hier sind Sie vollkommen geschützt; und wenn die Wölfe kommen sollten, so können wir mit ihnen, einem nach dem anderen, abrechnen.« Er brachte unsere Pelze herbei und richtete ein behagliches Nest für mich ein; dann holte er etwas von unserem Proviant herbei und nötigte mich zu essen. Aber es war mir unmöglich; schon der Gedanke daran erregte mir Ekel. So gern ich es ihm zu Liebe getan hätte, konnte ich mich nicht einmal zu einem Versuch entschließen. Er sah traurig drein, machte mir aber keine Vorwürfe. Nachdem er seinen Feldstecher aus dem Koffer genommen, stieg er auf einen der Felsblöcke und begann sorgfältig den Horizont abzusuchen. Plötzlich rief er:

»Da! Frau Mina! Da! Sehen Sie!« Ich sprang auf und stellte mich an seine Seite auf den Felsen. Er gab mir sein Glas und deutete hinaus. In schweren Flocken fiel der Schnee herab und wirbelte in dem scharfen Winde, der sich erhoben hatte. Immerhin wurde es manchmal lichter in dem Gestöber und man hatte dann eine bessere Aussicht. Von der Höhe, auf der wir standen, bot sich ein weiter Ausblick. Weit draußen, mitten durch die weiße Schneewüste, sah ich den Fluß sich wie ein schwarzes Band in weiten Schleifen und Krümmungen dahin winden. Gerade vor uns und nicht allzuweit entfernt – in der Tat so nahe, daß ich gar nicht verstehe, warum wir sie nicht schon früher sahen – erblickten wir eine Gruppe berittener Männer, die in größter Eile heran flogen. In ihrer Mitte hatten sie ein Fahrzeug, einen langen Leiterwagen, der auf der gefrorenen, unebenen Straße von einer Seite zur anderen schwankte. Die Gestalten der Reiter hoben sich scharf vom Hintergrunde ab und ich konnte an ihrer Kleidung genau erkennen, daß es Bauern oder Zigeuner waren.

Auf dem Wagen befand sich eine große, viereckige Kiste. Mein Herz pochte, als ich sie sah, denn ich wußte, daß wir nun am Ziele waren. Der Abend senkte sich schon hernieder und ich wußte, daß bei Sonnenuntergang der Körper, der dort jetzt noch in der Kiste gefangen lag, seine Freiheit gewinnen und in irgend einer Gestalt unseren Nachstellungen entrinnen würde. In meiner Angst drehte ich mich nach dem Professor um, aber – o Schrecken – er war nicht da. Doch einen Augenblick später sah ich ihn am Fuße des Felsblockes. Er hatte einen Ring um diesen gezogen, gleich dem, der uns heute Nacht Schutz gewährt hatte. Als er sein Werk vollendet, kam er wieder zu mir herauf und sagte:

»Hier sind Sie wenigstens vor ihm sicher!« Er nahm mir das Glas aus der Hand und sah, als der Schnee einen Augenblick lang weniger dicht fiel, scharf hinaus. »Sehen Sie«, sagte er, »sie kommen rasch heran; sie peitschen ihre Pferde und galoppieren so rasch sie können.« Er schwieg und fuhr dann mit hohler Stimme fort:

»Sie eilen so sehr wegen des Sonnenunterganges. Wir werden wohl zu spät gekommen sein. Gott sei uns gnädig!«

Ein neuer Schauer wirbelnden Schnees kam hernieder und verhüllte die ganze Landschaft vor unseren Blicken. Es ging jedoch rasch vorüber, und wieder richtete er sein Glas hinaus gegen die weite Ebene. Plötzlich schrie er:

»Schauen Sie, Frau Mina, schauen Sie! Da kommen zwei Reiter rasch von Süden. Es müssen Quincey und John sein. Da, nehmen Sie mein Glas. Sehen Sie rasch, ehe der Schnee uns wieder die Aussicht nimmt.« Ich nahm das Glas und sah hinaus. Die zwei Männer mußten wohl Dr. Seward und Morris sein. Jedenfalls erkannte ich, daß keiner von beiden Jonathan war. Ich wußte aber auch gewiß, daß Jonathan nicht mehr fern sein konnte. Ich sah herum und bemerkte weiter nördlich zwei Männer, die mit verhängten Zügeln daher sprengten. Einer von ihnen war Jonathan, das wußte ich; der andere war ohne Zweifel Lord Godalming. Sie verfolgten die Bande mit dem Wagen. Als ich dies dem Professor sagte, sprang er vor Freude auf und sah scharf hinaus, bis ihm ein neuer Schneefall die Aussicht nahm. Dann ergriff er seine Winchesterbüchse und lehnte sie schußfertig gegen den Felsblock am Eingang unserer Höhle. »Sie kommen alle zusammen«, sagte er. »Wenn es Zeit ist, werden wir die Zigeuner von allen Seiten fassen.« Ich zog meinen Revolver heraus, denn während unseres Gesprächs wurde das Heulen von Wölfen in immer größerer Nähe vernehmbar. Der Schneesturm ließ ein wenig nach und wir konnten wieder sehen. Es war seltsam, in unserer nächsten Umgebung fiel der Schnee in schweren Flocken, während draußen die Sonne immer freundlicher schien, je weiter sie zu den fernen Bergspitzen herniederstieg. Ich suchte mit dem Glas die weite Schneefläche ab und bemerkte dunkle Punkte, die einzeln, zu zweien und dreien oder in noch größerer Anzahl sich gegen uns heran bewegten. Es waren die Wölfe, die sich sammelten, lüstern nach Beute.

Jeder Augenblick, den wir warten mußten, erschien uns wie eine Ewigkeit. Der Wind brauste in wilden Stößen heran und der Schnee wirbelte wie toll um uns. Zeitweise konnten wir keine Armeslänge vor uns schauen; dann aber wieder, wenn die heulenden Windstöße an uns vorbeigefegt waren, schien sich der Raum um uns aufzuhellen und wir hatten wieder weiten Ausblick. Wir waren seit langem daran gewöhnt, auf Sonnenuntergang und Sonnenaufgang zu achten, so daß wir auch heute genau wußten, wann die Sonne unterging, es mußte in ganz kurzer Zeit geschehen.

Wir konnten gar nicht glauben, daß weniger als eine Stunde vergangen war, während der wir das konzentrische Zusammentreffen der verschiedenen Abteilungen beobachtet hatten. Der Wind drang in wilderen und kälteren Stößen auf uns ein und kam mehr von Norden. Er hatte offenbar die Schneewolken von uns weggetrieben, denn nur ganz selten kamen neue Massen hernieder. Wir konnten jetzt deutlich die verschiedenen Abteilungen unterscheiden, die Verfolger und die Verfolgten. Es fiel mir auf, daß die Verfolgten nicht zu bemerken schienen, daß ihnen jemand auf den Fersen sei, oder sie machten sich nichts daraus. Sie vergrößerten aber ihre Eile, je weiter sich die Sonne den Bergspitzen näherte.

Immer kleiner wurde die Entfernung zwischen uns und ihnen. Wir kauerten uns hinter unserem Felsen nieder und hielten die Waffen schußbereit. Wir waren fest entschlossen, die Zigeuner nicht vorbei zu lassen. Jedenfalls hatten sie keine Ahnung von dem Hinterhalt, der ihnen gelegt worden war.

Plötzlich riefen zwei Stimmen: »Halt!« Die eine, vor Erregung hochklingende, war die meines Jonathan; die zweite, die des Herrn Morris, war laut und hatte einen befehlenden Klang. Die Zigeuner werden die Sprache wohl nicht gekannt haben; der Ton aber, in dem das Wort gerufen wurde, ließ keine Mißdeutung zu. Unwillkürlich hielten sie ihre Pferde an; im selben Augenblick sausten Lord Godalming und Jonathan von der einen, Dr. Seward und Herr Morris von der anderen Seite heran. Der Führer der Zigeuner, ein hübscher Bursche, der mit seinem Pferde fast verwachsen schien, gab seinen Leuten einen Wink und befahl ihnen mit tönender Stimme weiter zu reiten. Sie hieben auf ihre Pferde ein, die sich aufbäumten; aber die vier Angreifer rissen ihre Winchesterbüchsen heraus und gaben so in unzweideutiger Weise den Befehl zum Halten. Zugleich sprangen auch Dr. Van Helsing und ich hinter dem Felsen hervor und legten unsere Waffen auf sie an. Als die Zigeuner sahen, daß sie vollständig umzingelt waren, zogen sie die Zügel an und hielten. Der Führer rief ihnen etwas zu, worauf jeder die Waffe, die er führte, Messer oder Pistole, heraus zog und sich kampfbereit machte. Nun mußte die Entscheidung fallen.

Der Führer riß mit flinker Bewegung sein Pferd herum und rief seinen Leuten etwas zu, was ich nicht verstand, nachdem er zuerst auf die Sonne – sie mußte sogleich hinter den den Horizont begrenzenden Höhenzügen versinken – und dann auf das Schloß gedeutet hatte. Daraufhin warfen sich die vier Männer unserer Partei von ihren Pferden und drangen gegen den Wagen vor. Ich hätte eigentlich furchtbare Angst empfinden müssen, als ich Jonathan in solcher Gefahr sah; aber der Kampfeseifer hatte mich ebenso ergriffen wie die übrigen. Ich fühlte keine Furcht, sondern nur ein wildes Verlangen zu handeln. Als der Führer der Zigeuner unsere Absicht erkannte, gab er seinen Leuten einen Befehl. Diese scharten sich in undiszipliniertem Eifer um den Wagen, einer den anderen stoßend und verdrängend, um den Befehl auszuführen.

Ich konnte sehen, wie Jonathan von der einen und Quincey von der anderen Seite versuchten, sich einen Weg zum Wagen zu bahnen. Offenbar war es ihnen darum zu tun, ihre Aufgabe noch zu erfüllen, ehe die Sonne hinunterging. Unaufhaltsam drangen sie vorwärts. Weder die zielenden Pistolen und die blitzenden Messer der Zigeuner vor ihnen, noch das grimmige Heulen der Wölfe hinter ihnen schienen sie zu beachten. Jonathans Ungestüm und seine unerschütterliche Beharrlichkeit lähmten sichtlich den Mut der Gegner. Instinktiv wichen sie aus und gaben ihm den Weg frei. Im Nu hatte er sich auf den Wagen gestürzt, mit außergewöhnlicher Kraft die große Kiste ergriffen und über die Räder herabgeworfen. Unterdessen hatte auch Herr Morris seine ganze Kraft daran gesetzt, den Ring der Zigeuner zu durchbrechen. Ich hatte die ganze Zeit atemlos Jonathan zugesehen, zuweilen aber auch einen Blick auf Morris geworfen, und bemerkte, daß er wie ein Verzweifelter kämpfte. Ich hatte die Messer der Zigeuner aufblitzen und auf ihn herniederzucken sehen, als er sich einen Weg durch sie bahnte. Er hatte mit seinem langen Jagdmesser pariert, und ich glaubte, daß es ihm gelungen sei, unversehrt durchzudringen. Als er an Jonathans Seite sprang, der wieder vom Wagen herabgestiegen war, konnte ich bemerken, daß er mit der Hand nach seiner Brust griff und daß Blut zwischen seinen Fingern hervorspritzte. Trotzdem gab er nicht nach, sondern bearbeitete die Kiste mit seinem Jagdmesser wütend von der einen Seite, während Jonathan von der anderen mit seinem Kukridolch in verzweifelter Hast den Deckel von der Kiste wegzusprengen versuchte. Bald begann dieser den Anstrengungen der beiden Männer zu weichen, man vernahm das kreischende Herausziehen der Nägel aus dem Holz und der Deckel wurde zurückgeschlagen.

Unterdessen hatten sich die Zigeuner, die die Mündungen der Winchesterbüchsen auf sich gerichtet sahen, Lord Godalming und Dr. Seward ergeben und wagten keinen ferneren Widerstand. Die Sonne berührte beinahe die Bergspitzen und die Gruppe warf lange Schatten über den Schnee. Ich sah den Grafen in der Kiste auf der Erde liegen, die ihn infolge des Sturzes vom Wagen teilweise bedeckte. Er war totenbleich, wie eine Wachsfigur, und die roten Augen glühten in dem unheimlichen sieghaften Feuer, das ich so genau kannte.

Als diese Augen die sinkende Sonne erblickten, wich der Ausdruck des Hasses aus ihnen und sie leuchteten in wildem Triumph.

Aber im gleichen Augenblick sauste blitzend Jonathans großes Messer hernieder. Ich erschrak, als ich sah, wie es im scharfen Schnitt die Kehle des Grafen durchhieb; kurz darauf durchbohrte Herrn Morris scharfes Jagdmesser das Herz Draculas.

Da geschah ein Wunder: vor unser aller Augen und ehe wir es noch recht fassen konnten, zerfiel der ganze Körper in Staub und entschwand unsern Blicken.

Ich werde mein ganzes Leben lang mit Freude daran denken, daß im Augenblick der endlichen Auflösung ein Schimmer von Glück über des Grafen Antlitz huschte, das ich eines solchen Ausdrucks gar nicht für fähig gehalten hätte.

Schloß Dracula lag im roten Lichte der untergehenden Sonne vor uns, jeder Stein der zerbrochenen Zinnen hob sich scharf gegen den Abendhimmel ab.

Die Zigeuner, die in uns die Urheber des seltsamen Verschwindens des toten Mannes erkannten, rissen ihre Pferde herum und ritten davon, als gälte es ihr Leben, die Unberittenen sprangen auf den Leiterwagen und riefen den Reitern zu, sie nicht zu verlassen. Die Wölfe, die sich vorsichtig zurückgezogen hatten, folgten jenen und ließen von uns ab.

Herr Morris, der zu Boden gesunken war, lag auf einen Arm gestützt und preßte die Hand auf die Brust. Das Blut floß immer noch zwischen seinen Fingern hervor. Ich eilte zu ihm, denn der geweihte Kreis hielt mich nun nicht mehr gebannt; auch die zwei Ärzte kamen heran. Jonathan hatte sich zu dem Todwunden gekniet und dieser legte sein Haupt an die Schulter des Freundes. Seufzend und mit großer Anstrengung nahm er meine Hand in die seine. Er muß die furchtbare Angst auf meinem Gesicht gesehen haben, denn er lächelte mir zu und sagte:

»Ich bin glücklich, daß ich Ihnen einen Dienst erweisen konnte! O Gott!«, schrie er plötzlich, indem er sich mühsam aufrichtete und mit dem Finger auf mich deutete, »das war des Sterbens wert! Seht! Seht!«

Die Sonne versank gerade hinter den Bergspitzen; die glühenden Strahlen fielen auf mein Gesicht und überfluteten es mit rosigem Licht. Wie auf ein Zeichen knieten alle Männer nieder, und ein tiefes, ernstes »Amen« kam von ihren Lippen als sie erkannt hatten, was der sterbende Morris meinte, indem er auf mich zeigte und sagte:

»Gott sei gelobt, nun ist doch nicht alles umsonst gewesen! Seht! Der Schnee ist nicht fleckenloser als ihre Stirn! Der Fluch ist von ihr gewichen!«

In heißem Schmerze umstanden wir ihn, als er, mit einem Lächeln auf den Lippen, schweigend hinüberging, der ritterliche, brave Mann.

 

Notiz.

Es sind nun sieben Jahre vergangen, seit wir so bittere Qualen erduldet haben. Das Glück, das einige von uns seitdem gefunden, wiegt all das Furchtbare jedoch reichlich auf. Es ist mir und Mina eine besondere Freude, daß der Geburtstag unseres Jungen gerade mit Quincey Morris' Todestag zusammenfällt. Ich weiß, daß seine Mutter im stillen die Überzeugung hegt, daß er einst unserm edlen, toten Freund ähnlich werden wird. Die Namen alle, die der Kleine trägt, erinnern uns an die Männer, die in jenen traurigen Tagen uns so treu zur Seite standen; aber sein Rufname ist Quincey.

Im Sommer dieses Jahres machten wir eine Reise nach Transsylvanien und besuchten die Stätten, mit denen uns so viel lebendige und furchtbare Erinnerungen verknüpften. Es war fast unmöglich zu glauben, daß all die Dinge, die wir mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört, nicht Traumgebilde waren. Jede Spur davon war ausgelöscht. Das Schloß stand noch wie damals, hoch emporragend über eine trostlose Wildnis.

Als wir nach Hause zurückgekehrt waren, plauderten wir viel über die vergangen Zeiten. Wir können auf sie zurückblicken, ohne zu verzweifeln, denn Godalming und Seward sind beide glücklich verheiratet. Ich nahm die Papiere aus dem feuerfesten Schrank, wo sie seit Vollendung unserer Aufgabe geruht hatten. Wir waren nachträglich erstaunt über den Umstand, daß in der ganzen Menge von Material, aus dem der Bericht sich zusammensetzt, kaum ein einziges authentisches Dokument sich befindet; nichts als eine Masse von Blättern voll Maschinenschrift, außerdem Notizbücher von Mina, Seward und mir selbst und ein Memorandum Van Helsings. Wir können von niemand verlangen, so lieb es uns auch wäre, daß er diese als vollgültige Beweisstücke für unsern unheimlichen Bericht gelten lasse. Van Helsing zog sein Resümee, indem er, unsern Knaben auf den Knieen schaukelnd, sagte:

»Wir brauchen keine Beweise; wir verlangen von niemand, daß er uns Glauben schenke! Aber dieser Junge hier wird eines Tages erfahren, welch tapfere und edle Frau seine Mutter ist. Jetzt kennt er ja erst ihre Güte und ihre liebevolle Sorgfalt; später aber wird er begreifen, warum wir alle sie so lieb hatten und so Schweres um ihretwillen unternahmen.«

Jonathan Harker.

 


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