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Jonathan Harkers Tagebuch
1. Oktober, abends. – Ich fand Thomas Snelling zuhause in Bethnal Green; leider war er aber nicht in der Verfassung, sich an irgend etwas zu erinnern. Allein die Aussicht auf reichliches Bier, die ihm mein angemeldeter Besuch eröffnete, hatte schon gewirkt, er hatte sich schon im voraus allzu viel gegönnt. Ich erfuhr aber von seiner Frau, daß er nur der Helfer Smollets, der verantwortlichen Persönlichkeit, war. Ich fuhr sofort nach Walworth und traf Smollet zu Hause an; er saß in Hemdärmeln und trank seinen Abendtee aus einer Saucenschüssel. Er ist ein höflicher, intelligenter Mensch, der Typus eines guten, zuverlässigen Arbeiters, von ganz besonderem Verstande. Er erinnerte sich genau an den Transport der Kisten und gab mir aus einem mit Eselsohren geschmückten Notizbuche, das er einem merkwürdigen Behältnis in der Nähe seines Hosenbodens entnahm und das mit dicken, halbverwischten Bleistifthieroglyphen vollgeschrieben war, Aufschluß über den Verbleib der Kisten. Es befanden sich in der Wagenladung, die er von Carfax abholte, sechs Kisten, die er in Chicksandstreet 197, Mile End New Town, und sechs andere, die er in Jamaika Lane, Bermondsey, ablud. Der Graf hatte scheinbar die Absicht, seine Zufluchtsstätten über ganz London auszubreiten; dies waren die ersten Stationen, von denen aus er dann das weitere Verteilungswerk vornehmen wollte. Die systematische Art, in der er vorging, brachte mich zu der Überzeugung, daß er jedenfalls nicht daran dachte, sich nur auf zwei Seiten Londons zu beschränken. Bis jetzt war er an den äußersten Osten des nördlichen, an den Osten des südlichen Viertels und an den Süden gebunden. Der Norden und der Westen lagen sicher nicht außerhalb des Bereiches seiner teuflischen Pläne, ebenso wenig wie die City selbst und das Herz des vornehmen London im Westen und Südwesten. Ich wandte mich nochmals an Smollet und fragte, ob er nichts davon wisse, daß noch mehr Kisten aus Carfax geholt worden seien.
Er antwortete:
»Nun, Herr, Sie haben mich so nobel belohnt« – – ich hatte ihm einen halben Sovereign gegeben – – »ich werde Ihnen alles sagen, was ich weiß. Ich hörte einen Mann, namens Bloxam, vor vier Tagen im Wirtshaus ›Zum Hafen und zu den Hunden‹ in der Pinchers Allee sagen, daß er und noch jemand eine recht staubige Arbeit in einem alten Hause in Purfleet zu verrichten hatten. Sehr oft kommen ja solche Sachen nicht vor; ich glaube, daß Ihnen vielleicht Sam Bloxam einiges wird sagen können.« Ich bat ihn mir zu sagen, wo ich jenen wohl treffen würde, und fügte hinzu, daß er sich noch einen halben Sovereign verdienen könne, wenn er mir die genaue Adresse des Mannes verschaffe. Er verschluckte den Rest seines Tees und versprach mir, daß er sein Möglichstes tun werde. An der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte:
»Es hat ja gar keinen Sinn, wenn ich Sie hier aufhalte. Entweder finde ich Sam bald oder ich finde ihn überhaupt nicht; es kann aber auch sein, daß er heute abend nicht in der Verfassung ist, Ihnen viel zu erzählen. Er macht gern Bierreisen. Wenn Sie mir ein Kuvert mit einer Marke geben, auf dem Ihre Adresse steht, will ich mich auf die Suche machen und die Mitteilung heute abend aufgeben. Aber Sie müssen morgen recht früh bei der Hand sein, oder Sie werden seiner nicht habhaft, denn Sam ist ein Frühaufsteher trotz der Bierreise vom Abend vorher.«
Das schien mir praktisch, weshalb ich ein Kind mit einem Penny fortschickte, um einen Bogen Papier nebst Umschlag zu holen; das Übrigbleibende sollte ihm gehören. Als es zurückkam, schrieb ich die Adresse, klebte eine Marke auf und begab mich dann, nachdem Smollet noch wiederholt versprochen hatte, mir sofort die gefundene Adresse mitzuteilen, auf den Heimweg. Wieder eine Spur mehr. Ich bin recht müde und bedarf des Schlafes. Mina liegt in tiefem Schlummer, sie sieht mir fast ein wenig zu blaß aus; ihre Augen sehen verweint aus. Arme Frau! Sie leidet zweifellos darunter, daß sie im Dunklen gehalten wird, und ist doppelt ängstlich um mich und die anderen. Aber es ist am besten so. Es ist besser, sie sorgt und kränkt sich darüber, als daß ihre Nerven Schaden leiden. Die Ärzte haben ganz recht, wenn sie darauf bestehen, daß sie dieser entsetzlichen Geschichte ferngehalten wird. Ich muß stark sein, denn auf mir lastet diese Pflicht des Schweigens besonders schwer. Ich darf unter keinen Umständen über die Dinge mit ihr sprechen. In einer Hinsicht erleichtert sie mir ja die Durchführung meines Vorsatzes, denn sie schweigt standhaft und hat, seit sie von unserem Beschlusse weiß, mit keinem Worte mehr des Grafen und seiner Missetaten Erwähnung getan.
2. Oktober, Abends. – Ein langer, ermüdender, aufregender Tag. Mit der ersten Post erhielt ich das von mir adressierte Kuvert, in dem ein schmutziger Zettel war; auf ihm stand, von einer ungefügen Hand mit einem Zimmermannsstift geschrieben:
»Sam Bloxam, Korkrans, 4, Poters Cort, Bartel Street, Walworth.
Fragen Sie nach dem Stellvertreter.«
Ich erhielt den Brief im Bett und stand sofort auf, ohne Mina zu wecken. Sie sah müde, abgespannt und bleich aus und schien nichts weniger als wohl zu sein. Ich nahm davon Abstand sie aufzuwecken, beschloß aber, wenn ich von diesem Gange zurück sei, schleunigst die Vorbereitungen zu ihrer Heimkehr nach Exeter zu treffen. Ich glaube, sie wird in ihrem eigenen Heim sich glücklicher fühlen als hier unter uns und in völliger Unwissenheit; zu Hause hat sie ihre Haushaltungssorgen, die ihre Gedanken in Anspruch nehmen werden. Ich sah niemand als Dr. Seward, und auch diesen nur auf einen Augenblick. Ich sagte ihm, was ich vorhabe, und versprach ihm, sofort nach meiner Rückkehr alles zu erzählen, was ich erkundet habe. Ich fuhr nach Walworth und fand nicht ohne Schwierigkeiten Potters Court. Herrn Smollets Schreibweise hatte mich etwas irregeführt, denn ich fragte immer nach Poters statt nach Potters Court. Nachdem ich aber doch Potters Court gefunden, war es nicht mehr schwer, Corcorans Herberge zu entdecken. Ein Mann erschien unter der Tür. Ich fragte ihn nach dem »Stellvertreter«, er schüttelte den Kopf und fragte: »Den kenne ich nicht. So einer wohnt nicht hier; ich hab meiner Lebtag nichts von ihm gehört. Ich glaube nicht, daß hier oder in der Nähe ein solcher wohnt.« Ich zog Smollets Brief heraus, und als ich ihn durchlas, kam mir der Gedanke, daß auch hier die ungeschickte Ausdrucksweise des Briefschreibers vielleicht ein Mißverständnis erzeugt habe. »Wer sind denn Sie?« fragte ich ihn.
»Ich bin der Verwalter«, antwortete er. Ich wußte sofort, daß ich auf der richtigen Spur war. Eine halbe Krone Trinkgeld, und alles, was der Verwalter wußte, stand zu meiner Verfügung. Ich erfuhr, daß Bloxam, der die Folgen seiner gestrigen Bierreise in Corcorans Herberge verschlafen hatte, heute früh fünf Uhr auf seine Arbeitsstelle in Poplar gegangen sei. Er konnte mir den Platz nicht genau angeben, aber er wußte ungefähr, daß es ein neumodisches Warenhaus sei. Mit diesem mehr als ungenügenden Aufschluß begab ich mich nach Poplar. Es war zwölf Uhr geworden, bis ich ein derartiges Gebäude erfragt hatte; ich war in eine kleine Kaffeekneipe gegangen, wo mehrere Arbeiter ihre Mahlzeit einnahmen. Einer von ihnen erinnerte sich, daß an der Ecke der Croß Angel Street ein Lagerspeicher errichtet wurde. Da diese Beschreibung einigermaßen dem entsprach, was ich mir unter dem »neumodischen Warenhaus« vorstellen konnte, fuhr ich sofort dorthin. Eine Unterredung mit dem groben Aufseher und dem noch gröberen Vorarbeiter, die ich mit etwas Reichsmünze milder stimmte, brachte mich Bloxams Spuren immer näher. Ich versprach dem Vorarbeiter, ihm den ganzen Tageslohn auszuzahlen, wenn er mir einige Worte mit Bloxam in einer Privatsache zu sprechen erlaubte; daraufhin schickte er nach ihm. Er war ein kluger Bursche, etwas rauh im Sprechen und Benehmen. Nachdem ich ihm versprochen, für die Auskunft gut zu zahlen, und ihm den Ernst dieses Vorhabens bewiesen hatte, erzählte er mir, daß er zweimal von Carfax nach einem Hause in Piccadilly gefahren sei und von dem ersteren nach dem letzteren Hause neun große, gehörig schwere Kisten transportiert habe; Wagen und Pferd habe er eigens zu diesem Zwecke gemietet. Ich fragte ihn um die Nummer des Hauses in Piccadilly und er erwiderte:
»Herr, die Nummer habe ich vergessen, aber es war nur ein paar Türen von einer großen, weißen Kirche oder so etwas, das neugebaut war, entfernt. Es war ein staubiges, altes Haus, aber noch lange nicht so schlimm wie das Haus, aus dem wir die verflixten Kisten abholten.«
»Wie kamen Sie denn in die Häuser, wenn sie doch beide, wie Sie sagen, leer waren?«
»Der alte Herr, der mir den Auftrag erteilt hatte, erwartete mich im Hause in Purfleet. Er half mir, die Kisten heraustragen und auf den Wagen laden. Hol's der Teufel, er war der stärkste Mann den ich meiner Lebtage gesehen; und er war doch schon sehr alt, mit weißem Schnurrbart und so mager, daß man meinen konnte, er werfe keinen Schatten.«
Wie es mir da kalt über den Rücken lief!
»Ja, und er hob die Kisten an einem Ende, als seien sie Teebüchsen, während ich pustend und blasend das andere Ende kaum heben konnte, und ich bin doch, weiß Gott, kein schwacher Kerl!«
»Wie kamen Sie in das Haus in Piccadilly?« fragte ich.
»Da war er auch. Er muß vor mir weggegangen und vor mir angekommen sein, denn als ich die Klingel zog, öffnete er selbst das Tor und half mir die Kisten in die Halle tragen.«
»Alle neun?« frage ich wiederum.
»Jawohl, in der ersten Ladung waren es fünf, in der zweiten vier. Es war eine verdammt trockene Arbeit; ich weiß nicht mehr so recht, wie ich eigentlich heimgekommen bin.« Ich unterbrach ihn:
»Sind die Kisten alle in der Halle geblieben?«
»Ja, es war eine große Halle, es stand nichts anderes darinnen.« Ich machte weitere Versuche, noch mehr zu erfahren:
»Sie hatten keinen Schlüssel?«
»Wir brauchten keinen Schlüssel oder etwas dergleichen. Der alte Herr öffnete die Tür, wenn ich kam, und verschloß sie wieder, wenn ich wegfuhr. Das letzte erinnere ich mich nicht mehr es wird wohl das Bier gewesen sein.«
»Und Sie können sich tatsächlich nicht mehr der Hausnummer erinnern?«
»Nein, Herr, aber es wird Ihnen nicht schwer werden, das Haus zu finden. Es ist hoch, aus weißen Steinen gebaut und hat einen Balkon; zum Tor führen hohe Treppen. Ich kenne die Treppen genau, denn ich hatte die schweren Kisten hinaufzutragen; drei Bummler halfen mir, weil sie sich einen Groschen verdienen wollten. Der alte Herr gab jedem einen Schilling, und als sie sahen, daß sie so gut entlohnt wurden, verlangten sie noch mehr; er aber nahm einen von ihnen bei der Schulter und warf ihn die Stiege hinab, worauf sie alle fluchend davonrannten.«
Die Beschreibung war so deutlich, daß ich hoffen durfte, das Haus zu finden; ich bezahlte den Mann für seine Auskunft und machte mich auf den Weg nach Piccadilly. Ich hatte eine neue schmerzliche Erfahrung gemacht, nämlich, daß der Graf offenbar imstande war, allein die Kisten zu tragen. Wenn es sich tatsächlich so verhielt, dann war die Zeit noch kostbarer; denn nachdem er die Verteilung der Kisten einmal in einer gewissen Weise vorgenommen hatte, konnte er das Weitere nach Gutdünken und allein vornehmen. Am Zirkus in Piccadilly entließ ich meinen Wagenlenker und ging zu Fuß westwärts. Jenseits der Junior Konstitutional fand ich das bezeichnete Haus, den von Dracula zunächst eingerichteten Schlupfwinkel. Das Haus sah aus, als sei es schon lange nicht mehr bewohnt. Die Fenster waren dick verstaubt und die Läden standen offen. Das gesamte Holzwerk war schwarz vor Alter, und von allen Eisenteilen hatte sich die Farbe fast völlig abgelöst. Augenscheinlich war bis vor kurzem an der Vorderwand des Balkons ein Reklameschild angebracht gewesen; jedenfalls war es in gewalttätiger Weise weggerissen worden; die Haken, an denen es befestigt gewesen war, ragten noch hervor. Hinter den Gitterstäben des Balkons bemerkte ich einige lose Bretter, deren Ränder weiß aussahen. Ich hätte viel darum gegeben, wenn ich die Reklametafel unbeschädigt hätte lesen können; vielleicht wäre es mir dadurch möglich geworden, einen Schluß auf den Besitzer zu ziehen. Ich erinnerte mich, wie ich Carfax ausfindig gemacht und gekauft hatte; ich wußte, daß wenn ich den früheren Eigentümer des Hauses in Erfahrung brachte, ich auch Mittel finden würde, mir Eintritt in das Haus zu verschaffen. Von dieser Seite aus war für heute nichts mehr zu sehen und zu erfahren; ich begab mich also auf die Rückseite des Gebäudes, um zu erkunden, ob sich vielleicht von hier aus etwas erspähen ließe. In der Hintergasse war es lebendig, wie ja die meisten Straßen in Piccadilly sehr dicht bewohnt sind. Ich fragte einige Grooms und Burschen, die herumstanden, ob sie mir etwas über das leere Haus sagen könnten. Einer von ihnen erzählte mir, daß es vor kurzem vermietet worden sei, an wen, wisse er nicht. Er fügte noch hinzu, daß noch vor wenigen Tagen ein Schild: »Zu verkaufen!« angebracht gewesen sei und daß vielleicht Mitchell, Söhne & Candy – er meinte, sich dieser Firma auf dem Schild zu erinnern – imstande wären, mir einige Aufschlüsse zu erteilen. Ich wollte nicht sehen lassen, wie erregt ich war, und mich auch sonst nicht verraten, deshalb bedankte ich mich in unauffälliger Weise und ging fort. Es begann schon zu dämmern und die Herbstnacht brach herein; ich hatte also gar keine Zeit zu verlieren. Ich hatte mir aus einem Adreßbuch noch rasch das Nötige über Mitchell, Söhne & Candy notiert und begab mich dann sofort in ihr Bureau in der Sackville Straße.
Der Herr, der mich empfing, war ebenso außerordentlich liebenswürdig wie er zugeknöpft war. Nachdem er mir einmal gesagt hatte, daß das Haus in Picadilly – er nannte es während unserer ganzen Unterredung »Herrensitz« – verkauft sei, schien er meine Aufgabe als erledigt zu betrachten. Als ich ihn fragte, wer es erworben habe, öffnete er seine Augen eine Spur weiter und antwortete nach einer mehrere Sekunden langen Pause:
»Es ist verkauft, mein Herr.«
»Verzeihen Sie,« sagte ich eben so höflich, »aber ich habe einen besonderen Grund, mich dafür zu interessieren, wer es gekauft hat.«
Die Pause wurde noch länger und seine Augenbrauen zogen sich noch höher. »Es ist verkauft, mein Herr«, war wieder seine lakonische Erwiderung.
»Ich glaube,« sagte ich, »Sie haben die Absicht, mich nichts darüber wissen zu lassen.«
»Gewiß habe ich diese Absicht,« antwortete er. »Die Angelegenheiten der Klienten sind in den Händen der Firma Mitchell, Söhne & Candy gut aufgehoben.« Er war ein Geck von reinstem Wasser, und ich sah, daß mit ihm nicht zu rechten war. Ich hielt es für das beste, ihm in seiner Art zu begegnen und sagte:
»Ihre Klienten, mein Herr, dürfen glücklich sein, einen so zuverlässigen Hüter ihrer Privatangelegenheiten zu besitzen. Ich verstehe das um so besser, zu würdigen, als ich selbst Fachmann bin.« Ich überreichte ihm meine Karte. »In dieser Sache handle ich nicht aus Neugierde. Ich handle im Auftrage des Lord Godalming, der einiges über das Grundstück, das bis vor kurzem zu verkaufen war, wissen möchte.« Diese Worte brachten einen auffallenden Wechsel in seinem Verhalten hervor. Er sagte:
»Ich möchte Ihnen gern gefällig sein, Herr Harker, und ganz besonders auch Seiner Lordschaft. Wir haben früher schon einmal einen kleinen Mietsauftrag für ihn erledigt, als er noch nicht Lord Godalming war. Wenn Sie die Güte haben wollen, mir Seiner Lordschaft Adresse zu hinterlassen, will ich die Firma in dieser Angelegenheit konsultieren und werde auf jeden Fall Seiner Lordschaft mit der heutigen Abendpost Nachricht zukommen lassen. Es wird uns ein Vergnügen sein, ausnahmsweise von unserem Geschäftsprinzip abzugehen, um Seiner Lordschaft gefällig sein zu können.«
Ich wollte ihn lieber als Helfer gewinnen wie ihn mir zum Feinde machen, deshalb bedankte ich mich, gab Dr. Sewards Adresse an und empfahl mich. Es war schon dunkel und ich war müde und hungrig. Ich ging in ein Kaffeehaus und fuhr dann mit dem nächsten Zuge nach Purfleet.
Alle Freunde waren schon zu Hause. Mina sah müde und blaß aus, aber sie bemühte sich tapfer, fröhlich und frisch zu sein. Es tat mir weh, daß ich etwas vor ihr zu verbergen hatte und ihr dadurch Leid verursachen mußte. Gott sei Dank, es ist heute die letzte Nacht, daß sie unseren Konferenzen zusehen muß, ohne daß wir sie, so leid es mir tut, einweihen können. Ich mußte alle meine Willenskraft zusammennehmen, um dem vernünftigen Beschluß, sie von unserem Unternehmen fernzuhalten, nicht zuwider zu handeln. Sie scheint sich ja schon mit dieser Tatsache abgefunden zu haben oder aber die ganze Angelegenheit ekelt sie an; denn wenn eine zufällige Anspielung gemacht wird, schaudert sie förmlich. Ich bin froh, daß wir den Entschluß noch frühzeitig gefaßt haben, denn dies Gefühl des Abscheues würde mit unserer sich immer mehr erweiternden Kenntnis nur noch größer geworden sein.
Ich konnte den Kameraden von den Erlebnissen des Tages erst erzählen, als wir allein waren. Nach Tisch – wir hatten ein wenig musiziert, um den Schein zu wahren – brachte ich Mina auf ihr Zimmer und bat sie, sich niederzulegen. Sie war leidenschaftlich erregt und klammerte sich an mich, als wolle sie mich nicht von sich lassen. Aber es war noch sehr viel zu erledigen, deshalb trennte ich mich bald von ihr. Glücklicherweise hat dieses Schweigen noch keinen Schatten auf unsere Liebe geworfen.
Als ich wieder hinunterkam, waren die Anderen schon alle im Arbeitszimmer versammelt. Ich hatte mein Tagebuch aufs laufende gebracht und las es ihnen vor, weil ich es für das beste hielt, sie rasch mit dem bekannt zu machen, was ich festgestellt hatte. Als ich mit dem Vorlesen fertig war, sagte Van Helsing:
»Das war ein schönes Stück Tagewerk, Freund Jonathan. Zweifellos sind wir den fehlenden Kisten auf der Spur. Wenn wir sie alle in jenem Hause beieinander finden, ist unsere Arbeit ihrem Ende nahe. Sollten aber einige fehlen, so müssen wir suchen, bis wir sie gefunden haben. Dann führen wir unsern Hauptstreich und hetzen den Verruchten in den natürlichen Tod.« Wir saßen eine Weile schweigend da, plötzlich sagte Morris:
»Sagt einmal, wie kommen wir denn in jenes Haus?«
»Wir sind ja in das andere auch gekommen,« antwortete Lord Godalming rasch.
»Mein lieber Arthur, das ist doch ein Unterschied. Wir sind in Carfax eingebrochen, da war es aber Nacht und eine hohe Mauer schützte uns vor unberufenen Blicken. Es ist wesentlich anders, wenn wir in Piccadilly, bei Tage oder bei Nacht Einbruch verüben. Ich muß gestehen, ich sehe keinen Weg, wie wir hineinkommen sollten, außer dieser eingebildete Agent gibt uns irgend einen Aufschluß. Vielleicht gibst Du uns Nachricht, wenn morgen sein Brief einläuft.« Lord Godalming zog die Brauen zusammen, stand auf und ging im Zimmer auf und nieder. Dann blieb er stehen und sagte, indem er sich an uns der Reihe nach wandte:
»Quinceys Kopf ist hell. Diese Einbrechereien beginnen nachgerade gefährlich zu werden. Einmal sind wir ja mit heiler Haut davongekommen, aber nun haben wir eine etwas schwierigere Aufgabe vor uns, außer es gelingt uns, des Schlüsselbundes des Grafen habhaft zu werden.«
Da wir vor morgen nichts mehr tun konnten und es rätlich schien, zu warten, bis Lord Godalming von der Firma Mitchell Nachricht bekäme, beschlossen wir, vor dem Frühstück keinen entscheidenden Schritt zu tun. Eine Zeit lang blieben wir noch bei einander, indem wir die Angelegenheit von allen Seiten beleuchteten und alle Möglichkeiten überlegten. Ich benützte die Gelegenheit, das Tagebuch zu ergänzen. Ich bin sehr schläfrig und werde mich zu Bett begeben.
Noch ein paar Worte. Mina liegt in tiefem Schlummer und atmet regelmäßig. Ihre Stirn ist in Falten gezogen, als ob sie sogar im Schlafe nachdenke. Sie ist immer so bleich, aber sie sieht nicht mehr so abgehärmt aus wie heute früh. Der morgige Tag wird, so hoffe ich, all dem ein Ende bereiten; sie wird dann wieder daheim in Exeter sein. Ich bin schläfrig!
Dr. Sewards Tagebuch.
1. Oktober. – Renfields Verhalten gibt mir wieder neue Rätsel auf. Die Stadien wechseln so rasch, daß es mir unmöglich ist, sie einzeln festzuhalten. Da sie aber immer mehr verraten, als es ihm selbst liebt ist, so bilden sie ein recht interessantes Studium. Heute früh, kurz nachdem er sich Van Helsing gegenüber so abweisend gezeigt, suchte ich ihn auf. Er trug die Miene eines Mannes zur Schau, der dem Schicksal gebietet. Und in der Tat gebot er – wenigstens subjektiv – dem Schicksal. Er kümmerte sich wirklich nichts um die Dinge, die auf dieser Erde vor sich gingen; er schwebte in den Wolken und sah mitleidig nieder auf all die Schwächen und Mängel der Sterblichen. Ich dachte die Gelegenheit wahrzunehmen und etwas zu lernen; ich frage ihn deshalb:
»Wie steht es denn jetzt mit den Fliegen?« Er lächelte mich überlegen an und antwortete:
»Die Fliege, verehrter Herr, hat einen auffallenden Zug: ihre Flügel sind typisch für die Gewalt der Psyche über die Luft. Die Alten wußten recht wohl, warum sie die Seele als Schmetterling darstellten.«
Ich wollte die Logik seiner Aussage prüfen und antwortete:
»Sie sind also jetzt hinter einer Seele drein, nicht wahr?« Sein Irrsinn ward wieder Herr über seinen Verstand und ein erstaunter Ausdruck trat in sein Gesicht. Er schüttelte den Kopf so energisch, wie ich es noch nie bei ihm gesehen und sagte:
»O nein, o nein! Ich brauche keine Seelen. Leben ist alles, dessen ich bedarf.« Jetzt wurde er fröhlicher. »Gegenwärtig ist mir alles gleichgültig. Leben habe ich genug; ich habe, was ich brauche. Sie müssen sich einen neuen Patienten suchen, Herr Doktor, wenn Sie noch weiter Zoophagie studieren wollen!«
Ich war ein wenig überrascht und fragte demnach:
»Dann befehlen Sie also über das Leben und sind ein Gott.« Er lächelte mit einer unaussprechlich gütigen, überlegenen Miene.
»O nein! Es sei ferne von mir, mir selbst die Attribute der Gottheit anzumaßen. Bin ich ja doch nicht einmal der geistigen Fähigkeiten Gottes teilhaftig. Wenn ich meine intellektuelle Stellung in rein irdischen Dingen präzisieren darf, so bin ich etwa auf der Stufe die Enoch in geistiger Hinsicht einnahm!« Das war mir nun eine recht harte Nuß. Ich konnte mir im Augenblick nicht ins Gedächtnis zurückrufen, welche Eigenschaften Enoch besessen hatte. Ich mußte also, wenn ich folgen wollte, direkt fragen, wenn ich mir auch darüber klar war, daß ich mir damit in den Augen des Kranken eine Blöße geben würde.
»Warum vergleichen Sie sich mit Enoch?«
»Weil er mit Gott gehen durfte.« Ich begriff nicht ganz, was er meinte, wollte es aber auch nicht merken lassen. Ich griff deshalb noch einmal auf das zurück, was er schon verneint hatte, und fragte:
»So wollen Sie also nichts mehr mit dem Leben zu schaffen haben und bedürfen keiner Seelen? Warum denn nicht?« Ich stellte die Frage schnell und ziemlich strengen Tones, um ihn zu verblüffen. Die Absicht gelang; augenblicklich fiel er unbewußt in seine gewöhnlich kriechende Manier zurück; er verbeugte sich und schmiegte sich förmlich an mich, als er antwortete:
»Ich bedarf keiner Seelen, wirklich nicht! Ich brauche keine. Ich könnte ja auch keinen Gebrauch davon machen, wenn ich welche hätte. Ich könnte sie ja doch nicht essen oder –« er hielt plötzlich inne und der alte verschmitzte Ausdruck huschte über sein Gesicht, wie ein Windstoß über den Wasserspiegel. »Herr Doktor, was das Leben betrifft, was soll ich schließlich damit? Wenn ich doch weiß, daß ich so viel davon habe, als ich bedarf, und daß ich nichts weiter mehr wünschen werde. Ich habe Freunde, wie Sie, Herr Dr. Seward«, er sagte das mit einem unaussprechlich schlauen Blinzeln, »und ich weiß, daß ich niemals an Lebenskraft Mangel leiden werde.«
Ich glaube, er hat durch die Wolken seines Irrsinnes doch die Abneigung erkannt, die er mir einflößte, denn plötzlich verfiel er auf das letzte Zufluchtsmittel, das die Irren anwenden, ein hartnäckiges Schweigen. Nach kurzer Zeit war ich mir im klaren darüber, daß es augenblicklich zwecklos sei, mit ihm weiter zu sprechen. Er ist ein eigensinniger Patron, deshalb ging ich fort.
Etwas später schickte er aber nach mir. Unter gewöhnlichen Verhältnissen hätte ich ja diese Bitte nicht erfüllt, aber sein gegenwärtiger Zustand interessiert mich derartig, daß ich die Mühe nicht scheute. Außerdem bin ich froh, daß ich etwas habe, um mir die Zeit zu vertreiben. Harker ist ausgegangen, um die Spuren des Grafen weiter zu verfolgen, ebenso Quincey und Lord Godalming. Van Helsing sitzt in meinem Arbeitszimmer und brütet über den von den Harkers zusammengestellten Akten. Er meint, daß eine genaue Kenntnis sämtlicher Details imstande sei, mehr Licht in das Dunkel zu bringen, das uns noch umgibt. Er hat gebeten, man möchte ihn in seiner Arbeit nicht stören, ohne daß ein wichtiger Grund vorliegt. Ich hätte ihn ganz gern wieder zu meinem Patienten mitgenommen, dachte mir aber, daß er nach der erfahrenen Zurückweisung keine Lust dazu mehr haben werde. Außerdem hatte ich noch einen anderen Grund: Renfield würde in Gegenwart eines Dritten nicht so frei sprechen, als wenn wir beide allein sind.
Als ich bei ihm eintrat, saß er mitten im Zimmer auf seinem Stuhl, eine Gewohnheit, aus der ich immer auf eine geistige Arbeit bei ihm schließen konnte. Kaum hatte ich die Tür geschlossen, da sagte er schon, als habe er die Frage schon auf den Lippen gehabt:
»Wie ist es mit den Seelen?« Ich hatte also in meiner Mutmaßung recht gehabt. Das Gehirn hatte unbewußt weitergearbeitet. Ich beschloß, der Sache noch weiter auf den Grund zu gehen. »Wie steht es denn bei Ihnen damit?« fragte ich ihn. Er antwortete nicht sofort, sondern sah um sich herum, bald nach aufwärts, bald nach abwärts, als besänne er sich auf irgend eine Antwort.
»Ich bedarf keiner Seelen!« sagte er in einem schwachen, entschuldigenden Tone. Die Sache schien sich doch seines Denkens bemächtigt zu haben und ich beschloß, die Situation auszunützen, deshalb sagte ich:
»Sie lieben das Leben und bedürfen der Lebenskraft?«
»Ja, aber das ist alles in Ordnung; Sie brauchen sich darum gar nicht zu sorgen.«
»Aber«, sagte ich, »wie können wir das Leben nehmen, ohne die Seele auch zu nehmen?« Dies schien ihn zu verwirren, und ich fuhr absichtlich in dieser Tonart weiter:
»Eine hübsche Himmelfahrt werden Sie einmal machen, wenn die Seelen der Tausenden von Fliegen, Spinnen, Vögel, Katzen rings um Sie summen, zwitschern und miauen. Sie haben ihnen das Leben genommen und müssen sich nun mit ihren Seelen abfinden.« Das schien seine Phantasie zu packen, denn er steckte die Finger in die Ohren, schloß die Augen und preßte sie fest zusammen, wie ein unartiger Junge, dem man das Gesicht seift. Es lag etwas Ergreifendes in dieser Geste, zugleich kam mir der Gedanke, daß ich es nur mit einem Kinde zu tun habe, – einem Kinde, obgleich seine Züge verwittert und die Stoppeln auf seinem Kinn grau waren. Ich wollte in erster Linie sein Vertrauen gewinnen und fragte ihn deshalb ziemlich laut, damit er es durch seine verschlossenen Ohren hören konnte:
»Möchten Sie nicht gern etwas Zucker haben, um wieder Fliegen einfangen zu können?« Er schien plötzlich zu erwachen und schüttelte den Kopf. Lachend antwortete er:
»Nicht besonders. Die Fliegen sind schließlich armselige Geschöpfe!« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich möchte ihre Seelen auch nicht um mich summen hören.«
»Oder Spinnen?« fuhr ich fort.
»Hol der Teufel die Spinnen! Was soll ich denn mit Spinnen? Es ist ja nichts an ihnen zu essen oder zu – –.« Er hielt plötzlich inne, als fiele ihm ein, daß er einen Ausdruck nicht gebrauchen dürfe.
»So, so«, dachte ich bei mir selbst, »das ist das zweite Mal, daß er bei dem Worte »Trinken« unvermittelt stecken blieb; was kann das zu bedeuten haben?« Renfield schien gemerkt zu haben, daß er eine Dummheit gemacht, denn er fuhr eilig fort, als wolle er meine Aufmerksamkeit ablenken:
»Ich habe überhaupt keine rechte Freude an solchen Dingen. ›Ratten und Mäuse und das kleine Getier‹ könnte man mit Shakespeare ›Hühnerfutter der Speisekammer‹ nennen. Ich bin über jeden derartigen Unsinn hinaus. Sie könnten mit demselben Erfolg jemand auffordern, Moleküle mit dem Eßstäbchen zu verzehren, wie mich für die niederen Fleischfresser zu interessieren, da ich doch weiß, was ich zu erwarten habe.«
»Ich begreife«, sagte ich, »Sie wollen große Dinge, damit Sie Ihre Zähne ordentlich hineinschlagen können? Möchten Sie nicht einmal einen Elephanten frühstücken?«
»Was für lächerlichen Blödsinn Sie reden!« Er war mir schon wieder zu sehr Herr der Situation, und ich beschloß, ihn wieder zu verwirren. »Ich möchte wissen«, sagte ich nachdenklich, »wie die Seele eines Elephanten ist.«
Der von mir beabsichtigte Effekt war erreicht. Er stieg plötzlich von seinem hohen Roß herunter und wurde wieder ein kleines Kind.
»Ich brauche keine Elephantenseele, überhaupt keine Seele«, sagte er. Einige Minuten saß er mutlos da. Plötzlich sprang er auf, sein Gesicht war gerötet und trug alle Anzeichen äußerster, seelischer Erregung. »Zur Hölle mit Ihnen und Ihren verfluchten Seelen«, brüllte er. »Was quälen Sie mich mit den Seelen. Habe ich nicht schon genug gelitten, mich gekränkt und abgehärmt, auch ohne die Seelen!« Er sah mich so feindselig an, daß ich jeden Augenblick einen Mordanfall befürchten mußte; ich gab deshalb ein Signal mit einem Pfeifchen. Im gleichen Moment aber wurde er ruhig und sagte, indem er sich entschuldigte:
»Verzeihen Sie, Herr Doktor, ich habe mich vergessen. Sie bedürfen keiner Hilfe. Mein Gemüt ist dermaßen erschüttert, daß jede Kleinigkeit mich furchtbar aufregt. Wenn Sie eine Ahnung hätten von dem Problem, dem ich gegenüberstehe und das ich auszuarbeiten habe, würden Sie mich bemitleiden, mich verstehen und mir verzeihen. Ich bitte, lassen Sie mich nicht in die Zwangsjacke stecken. Ich muß nachdenken, denken kann ich aber nur, wenn mein Körper nicht beengt ist. Ich weiß, Sie werden mich begreifen.« Er hatte sich augenscheinlich wieder in der Gewalt. Als die Wärter herbeieilten, sagte ich ihnen, es sei nichts von Bedeutung und sie zogen sich wieder zurück. Renfield lauerte, bis sie gegangen waren; als der letzte die Tür geschlossen hatte, sagte er mit Würde und Liebenswürdigkeit:
»Dr. Seward, Sie haben sehr rücksichtsvoll gegen mich gehandelt. Glauben Sie mir, daß ich Ihnen sehr dankbar bin.« Ich hielt es für das beste, ihn jetzt in diesem Zustande zu verlassen und ging. Es ist im Verhalten dieses Mannes etwas, was zu denken gibt. Einzelne seiner Eigenheiten scheinen das zu ergeben, was der amerikanische Reporter »eine Geschichte« nennt, wenn man sie in den richtigen Zusammenhang zu bringen weiß. Hier folgen einige:
Will das Wort »trinken« nicht aussprechen.
Fürchtet sich vor dem Gedanken, mit der Seele von irgend etwas belastet zu werden.
Befürchtet nicht, in Zukunft Mangel an »Leben« zu haben.
Verabscheut die niederen Formen des Lebens, obgleich er fürchtet, von ihren »Seelen« verfolgt zu werden.
Logisch weisen alle diese Dinge auf einen Punkt hin. Er hat von irgend einer Seite die Zusage zu erhalten vermeint, daß er eine Art höheres Leben erringen werde. Er fürchtet die Konsequenz, von der Seele belastet zu werden. Dann ist es also ein menschliches Wesen, auf das er es abgesehen hat!
Und die Zusage? – – – – –
Offenbar ist der Graf bei ihm gewesen. Da ist etwas Neues, Entsetzliches im Gange!
Später. – – Ich ging nach meiner Runde noch zu Van Helsing und berichtet ihm von meinem Verdacht. Er wurde sehr ernst, und nachdem er eine Weile über die Sache nachgedacht, bat er mich, ihn zu Renfield zu bringen. Ich erfüllte seinen Wunsch. Als wir an die Tür des Irren kamen, hörten wir ihn innen vergnügt singen, wie er es in der Zeit zuweilen zu tun pflege, die weiter hinter uns liegt. Bei unserem Eintritt bemerkten wir zu unserem Erstaunen, daß er, wie früher, seinen Zucker ausgestreut hatte; die Fliegen, die schon herbstmüde waren, summten herein. Wir versuchten, ihn über das Thema unseres vorhergegangenen Gesprächs zum Reden zu bringen, aber er schien nicht darauf zu achten. Er sang ruhig weiter, als seien wir nicht für ihn vorhanden. Er hatte ein Stückchen Papier in der Hand und legte es in Form eines Notizbuches zusammen. Wir zogen uns ebenso klug zurück, wie wir gekommen waren.
Jedenfalls eine ganz absonderliche Geschichte; wir müssen heute Nacht sehr auf ihn Obacht geben.
Brief.
Mitchell Söhne & Candy
an Lord Godalming.
1. Oktober.
Mylord!
Wir schätzen es uns zur außerordentlichen Ehre, Ihren Wünschen entsprechen zu können. Wir beehren uns, Ihnen Nachfolgendes über den Kauf und Verkauf des Hauses Nr. 347, Piccadilly, dem uns durch Herrn Harker übermittelten Auftrag Euer Lordschaft nachkommend, mitzuteilen. Die Verkäufer sind die Testamentsvollstrecker des verstorbenen Herrn Winter-Suffield. Der Käufer ist ein fremder Adliger, ein Graf de Ville, der den Kauf selbst perfekt machte und auch selbst das Kaufgeld in Noten »auf den Zahltische legte«, wenn Euer Lordschaft den populären Ausdruck anzuwenden gestatten. Weiteres wissen wir leider nicht von ihm. Wir verbleiben Euer Lordschaft ergebenste Diener
Mitchell Söhne & Candy.
Dr. Sewards Tagebuch.
2. Oktober. – Ich beauftragte einen Wärter, die Nacht über auf dem Korridor zu verbleiben und scharf auf jedes Geräusch zu achten, das aus Renfields Zimmer käme; ich instruierte ihn auch dahin, daß er mich bei irgend einem außergewöhnlichen Vorkommnis sofort rufen solle. Nach Tische waren wir alle im Arbeitszimmer versammelt – Frau Mina war zu Bett gegangen – und besprachen die Unternehmungen und Erlebnisse des Tages. Harker war der einzige, der wirkliche Resultate aufzuweisen hatte; wir hegen alle die bestimmte Hoffnung, daß wir auf der richtigen Fährte sind.
Ehe ich schlafen ging, trieb es mich, noch einmal nach meinem Patienten zu sehen. Ich schlich an seine Tür und sah durch den Beobachtungsschlitz hinein. Er lag im tiefsten Schlummer, seine Brust hob und senkte sich in regelmäßigen Zwischenräumen.
Heute früh erzählte mir der Wärter, daß Renfield kurz nach Mitternacht unruhig geworden sei und immerfort laut Gebete hergesagt habe. Ich fragte ihn, ob das alles sei. Er antwortete, das sei alles, was er gehört. Die Antwort schien mir verdächtig, weshalb ich ihn fragte, ob er denn geschlafen habe. Er verneinte es, gab aber zu, etwas »gedöst« zu haben. Es ist zu traurig, daß man den Menschen nur trauen darf, wenn man hinter ihnen her ist.
Heute ist Harker fort, um die Spuren weiter zu verfolgen, und Arthur und Quincey sehen sich nach Pferden um. Godalming ist der Ansicht, daß es zweckmäßig ist, immer Pferde in Bereitschaft zu haben, denn wenn wir die erwartete Information erhalten, wird keine Zeit zu verlieren sein. Wir müssen die fremde Erde zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang sterilisieren. Wir werden so den Grafen abfassen, wenn er am schwächsten ist und wenn er keinen Platz mehr hat, zu dem er flüchten kann. Van Helsing ist ins Britische Museum gegangen, um dort einige Autoritäten der alten Medizin einzusehen. Die alten Ärzte bezogen Dinge in ihre Wissenschaft ein, die von den heutigen nicht mehr anerkannt werden; der Professor sucht einiges über Hexen- und Dämonenkuren, das uns später vielleicht zu statten kommen kann.
Mir ist oft, als seien wir alle verrückt und würden in Zwangsjacken gesund wieder erwachen.
Später. – Wir sind wieder zusammen gekommen. Wir sind nun scheinbar auf der Spur, und das Werk des morgigen Tages wird wohl der Anfang vom Ende sein. Ich möchte wissen, ob Renfields Ruhe damit in irgend einem Zusammenhang steht. Sein Befinden hat sich immer in so auffallender Weise nach dem Verhalten des Grafen gerichtet, daß ihn sicher auch die kommende Vernichtung des Vampyrs nicht überraschen wird. Wenn wir nur irgend die geringste Vermutung hätten, was in seinem Geiste vorging von dem Augenblick an, wo ich mit ihm heute sprach, bis zur Wiederaufnahme seiner Fliegenfängerei; es konnte von unschätzbarer Bedeutung für uns sein. Er ist nun wohl für einige Zeit beruhigt. – – Ist er das? – Dieses wilde Schreien schien aus seinem Zimmer zu kommen.
Der Wärter kam in mein Zimmer gestürzt und berichtete daß Renfield von einem Unfall betroffen worden sein müsse. Er hatte ihn schreien hören, und als er sogleich herbeieilte, fand er ihn mit abwärts gerichtetem Gesicht blutüberströmt am Boden liegen. Ich muß sofort zu ihm.