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Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Dr. Sewards Tagebuch

11. Oktober, abends. – Jonathan Harker hat mich gebeten dies niederzuschreiben, da er sich, wie er sagte, dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlt und dennoch wünscht, daß die Berichte vollständig sind.

Keiner von uns wird wohl überrascht gewesen sein, als wir kurz vor Sonnenuntergang zu Frau Harker gerufen wurden. Wir haben in letzter Zeit die Erfahrung gemacht, daß sie zur Zeit des Sonnenaufganges und des Sonnenunterganges am freiesten ist; dann zeigt sich ihr wahres Ich, ohne daß eine über sie herrschende Macht sie einschränkt oder zum Schweigen bringt oder ihr ein besonderes Handeln vorschreibt. Dieser Zustand beginnt eine halbe Stunde oder mehr vor der genauen Zeit des Sonnenauf- oder -unterganges und dauert, bis die Sonne hoch steht oder bis die letzten Strahlen der scheidenden Sonne auf den Abendwolken verglühen. Zuerst ist es ein mehr negativer Zustand, als ob sich eine Fessel löse, dann aber folgt rasch die vollkommene Freiheit. Wenn dieser Zustand der Freiheit aufhört, kommt der Rückfall in kürzester Zeit; nur eine längere Pause zeigt die Rückkehr des Zwanges an.

Als wir abends zusammenkamen, war sie etwas bedrückt und trug alle Zeichen inneren Kampfes. Ich sagte es ihr, damit sie sich so rasch als möglich aufraffen könne. Nach wenigen Augenblicken hatte sie schon wieder die Herrschaft über sich gewonnen. Sie bat ihren Gatten, sich neben sie aufs Sofa zu setzen, auf dem sie halb zurückgelehnt lag. Wir Übrigen sollten uns in ihrer Nähe niederlassen. Sie ergriff die Hand ihres Gatten und begann:

»Wir sind hier alle zusammen, vielleicht zum letzten Mal! Ich weiß, Liebster, ich weiß, daß du bis ans Ende bei mir bleiben wirst.« Dies sagte sie zu ihrem Gatten, der, wie wir sehen konnten, seine Hände in die ihrigen verschlungen hielt. »Morgen ziehen wir aus, unserer Aufgabe entgegen; nur Gott allein weiß, was jedem von uns beschieden ist. Ihr habt in eurer Güte den Entschluß gefaßt, mich mit zu nehmen. Ich weiß, daß Ihr alles tun werdet, was Ihr für die arme, schwache Frau tun könnt, deren Seele vielleicht verloren ist, wenn auch nicht sogleich, so doch in einiger Zeit. Ihr müßt bedenken, daß ich nicht so bin wie ihr. In meinem Blut, in meiner Seele ist ein schleichendes Gift, das mich zerstören muß, das mich vernichtet, wenn uns nicht Hilfe von oben kommt. Meine Freunde, Ihr wißt recht wohl, genau so wie ich, daß meine Seele in Gefahr ist, und obgleich ich einen Weg kenne, der mich davor retten könnte, so dürft Ihr, so darf auch ich ihn nicht einschlagen.« Sie sah betrübt in die Runde und ließ ihren Blick auf ihrem Manne haften.

»Welchen Weg meinen Sie?« fragte Van Helsing heiser. »Welches ist der Weg, den wir nicht einschlagen dürfen, nicht einschlagen werden?«

»Daß ich jetzt sterbe, entweder durch meine eigene Hand oder durch die eines Anderen, ehe das größere Übel eintritt. Ich weiß es und Ihr wißt es, daß Ihr, wenn ich tot bin, meine unsterbliche Seele retten könnt und retten werdet, wie Ihr es bei der lieben Lucy schon getan habt. Wäre der Tod oder die Furcht vor dem Tode das einzige, was im Wege stünde, ich würde keinen Augenblick zögern, hier mitten unter euch zu sterben. Aber der Tod ist nicht alles. Ich kann nicht glauben, daß es Gottes Wille ist, mich jetzt sterben zu lassen, wo uns die Hoffnung leuchtet, unsere bittere Aufgabe zu erfüllen. Deshalb gebe ich für meinen Teil die Gewißheit, die ewige Ruhe zu erlangen, auf und gehe mit euch hinaus ins Ungewisse, wo die schlimmsten Dinge unser warten, die die Erde und die Hölle erzeugt.« Wir schwiegen, denn wir fühlten, daß dies nur eine Einleitung war. Unsere Gesichter waren finster, das Harkers war aschgrau. Vielleicht erriet er besser als wir andern, was kommen mußte. Sie fuhr fort:

»Das ist es, was ich beisteuern kann. Was gibt jeder von Euch dazu? Euer Leben, das glaube ich gern«, setzte sie rasch hinzu. »Das ist eine Kleinigkeit für einen tapferen Mann. Euer Leben gehört Gott, Ihr könnt es ihm zurückgeben, aber was wollt Ihr es mir geben?« Sie sah fragend im Kreise umher, vermied es aber diesmal, ihren Mann anzusehen. Quincey schien zu verstehen und nickte; ihr Gesicht leuchtete auf. »Dann will ich Euch offen sagen, was ich meine, denn es darf in dieser Hinsicht keine Unklarheit zwischen uns bestehen. Ihr müßt mir versprechen, alle ohne Ausnahme – auch du, mein lieber Mann – daß Ihr mich, wenn es nötig werden sollte, töten wollt.«

»Wann wird diese Zeit kommen?« Quincey war es, der fragte, aber seine Stimme klang leise und gepreßt.

»Wenn Ihr der Überzeugung seid, daß ich mich so verändert habe, um mich besser für den Tod als für das Leben erscheinen zu lassen. Wenn ich tot bin, dann müßt Ihr mir, ohne nur einen Augenblick zu zögern, einen Pfahl ins Herz treiben und mir den Kopf abschneiden, oder tut eben das, was Ihr für nötig haltet, um mich zu erlösen.«

Quincey war der erste, der sich wieder faßte. Er nahm ihre Hand und sagte feierlich:

»Ich bin nur ein rauher Mann, der vielleicht nicht so gelebt hat, wie ein Mann leben müßte, um sich solche Auszeichnung zu verdienen. Aber ich schwöre Ihnen bei allem, was mir lieb und heilig ist, daß ich, wenn die Zeit je kommen sollte, nicht vor der Pflicht zurückschrecke, die Sie uns da soeben auferlegt haben, Ich verspreche Ihnen sogar, um meiner Sache ganz sicher zu sein, daß ich es tun werde, wenn ich auch nur die geringsten Anhaltspunkte dafür habe, daß die Zeit gekommen ist.«

»Mein treuer Freund!« war alles, was sie unter Tränen sagen konnte. Sie beugte sich über ihn und küßte seine Hand.

»Ich schwöre Ihnen das Gleiche, teuerste Frau Mina!« sagte Van Helsing.

»Auch ich«, fügte Lord Godalming hinzu. Jeder leistete so den erbetenen Eid. Auch ich tat es. Dann wandte ihr Gatte sich ihr zu, so totenblaß, daß sein schneeweißes Haar fast nicht von seinem Gesicht abstach. Er sprach:

»Muß auch ich, mein liebes Weib, Dir dies Versprechen geben?«

»Auch Du, Geliebter!« sagte sie. »Du darfst nicht davor zurückschrecken. Du stehst mir am nächsten und bist mir am teuersten. Unsere Seelen sind eins für Zeit und Ewigkeit. Bedenke doch, daß es Zeiten gegeben hat, wo tapfere Männer ihre Frauen und Kinder getötet haben, damit sie nicht in Feindeshände fielen. Ihre Hände werden doch nicht deshalb mehr gezittert haben, weil ihre Lieben sie darum baten, sie zu töten. Es ist einfach die Pflicht des Mannes, die, welche er liebt, vor einem furchtbaren Lose zu schützen. Und, wenn es doch sein muß, daß ich durch eines anderen Hand falle, dann ist es sicherlich am schönsten, es geschieht durch die Hand dessen, den ich am meisten geliebt habe. Dr. Van Helsing, ich erinnere mich recht wohl, daß Sie im Falle von Lucy das Liebeswerk dem überließen, den sie« – sie hielt, flüchtig errötend, inne und vollendete dann ihren Satz – »der das nächste Unrecht dazu hatte sie zu erlösen. Wenn wieder einmal ein solcher Fall eintreten sollte, dann weiß ich, Ihr werdet meinem Manne das hohe Glück nicht streitig machen, derjenige gewesen zu sein, dessen liebende Hand mich frei machte von dem unheimlichen Fluche, der auf mir lastete.«

»Auch das schwöre ich Ihnen!« sagte der Professor mit vernehmlicher Stimme. Frau Harker lächelte; sie lächelte in der Tat, als sie sich mit einem Seufzer der Erleichterung zurücklehnte und sagte:

»Nun noch eine Warnung, die Ihr nimmermehr vergessen dürft: Die Zeit kann schnell und unerwartet kommen, in diesem Falle dürft Ihr keinen Augenblick zögern, Eure Schuldigkeit zu tun. Zu dieser Zeit könnte ich, vielmehr, wenn diese Zeit kommt, werde ich sogar sicherlich mit ihm gegen Euch verbündet sein.«

»Und zuletzt noch eine Bitte«, sie wurde sehr ernst, »es ist nicht so unbedingt erforderlich wie das andere, das ich erbat, aber es wäre mir lieb, wenn Ihr mir noch einen Gefallen erweisen wolltet.« Wir stimmten zu, aber keiner sprach ein Wort; es war auch nicht nötig, denn sie fuhr unmittelbar darauf fort:

»Ich bitte Euch, mir das Totengebet vorzulesen.« Ein tiefes Schluchzen ihres Mannes unterbrach sie. Sie ergriff seine Hand und sagte: »Einmal muß es doch über mich gelesen werden. Wie auch dieses entsetzliche Werk ausgehen mag, es wird uns allen oder einigen von uns ein Trost sein. Ich hoffe, daß Du, Geliebter, das Gebet lesen wirst, denn dann wird es zusammen mit deiner lieben Stimme für immer in meinem Gedächtnis haften, komme, was da will.«

»Aber, Liebste«, warf er ein, »der Tod ist Dir ja noch fern.«

»Wer weiß?« sagte sie, und erhob warnend den Finger. »Ich bin vielleicht in einem tieferen Tod, als wenn das Gewicht der Grabeserde auf mir ruhte.«

»Mein Weib, muß ich denn lesen?« sagte er, ehe er begann.

»Es ist mir ein Trost, mein Gatte«, war alles, was sie erwiderte. Sie hatte das Buch bereit gelegt, und er begann zu lesen.

Wie könnte ich diese seltsame Szene mit all ihrer Feierlichkeit, Unheimlichkeit, Traurigkeit und ihrem Schrecken schildern, schließlich war sie doch von eigenartiger Schönheit. Auch der härteste Mensch hätte bei diesem Anblick gerührt werden müssen, wie diese kleine Gruppe treuer und ergebener Treue um die unglückliche, gequälte Frau stand, wenn er die Liebe und das Leid in der Stimme ihres Mannes hätte zittern hören, der das einfache, herrliche Totengebet las. Ich kann nicht weiter erzählen, die Stimme und die Worte versagen mir.

Sie hatte recht gehabt in ihrer unbewußten Ahnung. So seltsam auch die Szene war, so bizarr sie uns vielleicht später erscheinen wird, wenn wir daran zurückdenken, wie sehr sie uns alle ergriff, so sehr tröstete sie uns wenigstens. Das Schweigen, das dann dem Rückfall Frau Minas vorherging, schien uns nicht mehr so hoffnungslos, als wir gefürchtet hatten.

 

Jonathan Harkers Tagebuch.

15. Oktober. Varna. – Wir verließen Charing Croß am Morgen des 12., kamen in derselben Nacht noch nach Paris und nahmen dann unsere belegten Plätze im Orient Expreß ein. Wir reisten Tag und Nacht ohne Unterbrechung und kamen hier etwa um fünf Uhr an. Lord Godalming begab sich sofort aufs Konsulat, um zu fragen, ob kein Telegramm für ihn eingetroffen sei; wir übrigen begaben uns ins Hotel Odessa. Es kann sich ja unterdessen Verschiedenes ereignet haben; mich berührte es nicht, ich war zu sehr auf den Ausgang unserer Sache gespannt, als daß ich noch Interesse für etwas anderes gehabt hätte. Bis die »Czarina Catharina« in den Hafen einläuft, ist mir alles auf der weiten Welt gleichgültig. Zum Glück ist Mina wohl, es hat den Anschein, als kehrten ihre Kräfte wieder; auch Farbe scheint sie zu bekommen. Sie schläft sehr viel; während der Reise schlief sie fast die ganze Zeit. Vor Sonnenaufgang und Sonnenuntergang ist sie aber sehr lebendig und frisch; diese Zeit benützt Van Helsing stets, um sie zu hypnotisieren. Anfangs hatte es ihm viele Mühe gekostet, und es dauerte ziemlich lange, bis er zu einem Resultat kam, jetzt aber unterliegt sie ganz gewohnheitsmäßig rasch seinem Einfluß und hypnotische Striche sind fast gar nicht mehr nötig. Es scheint, als brauchte er in diesen Augenblicken nur zu wollen, um sich sofort ihre Gedanken Untertan zu machen. Er fragt sie immer, was sie sieht und hört. Zuerst antwortete sie:

»Nichts, alles ist dunkel.« Beim zweitenmal sagte sie: »Ich höre Wellen gegen das Schiff schlagen und das Wasser vorbeirauschen. Segel und Tauwerk sind angespannt und die Mäste und Raaen ächzen. Es weht ein frischer Wind, ich höre es in den Wanten knirschen und der Bug schneidet zischend den Schaum.« Offenbar ist also die »Czarina Catharina« noch auf hoher See und eilt mit vollen Segeln Varna zu. Soeben ist Lord Godalming zurückgekommen. Er hatte vier Telegramme erhalten, für jeden Tag, den wir unterwegs waren, eines, alle des gleichen Inhalts: die »Czarina Catharina ward dem Lloyd von nirgendsher gemeldet. Er hatte vor unserer Abfahrt den Agenten beauftragt, ihm jeden Tag ein Telegramm zu senden und ihm über die Fahrt des Schiffes Bericht zu erstatten. Er sollte auch dann telegraphieren, wenn über das Schiff keine Nachricht eingelaufen war, so daß man sicher war, nicht vergessen zu werden.

Wir aßen und begaben uns bald zu Bett. Morgen werden wir den Vizekonsul aufsuchen und uns, wenn möglich, die Erlaubnis einholen, sofort an Bord des Schiffes zu gehen, wenn es einläuft. Van Helsing sagte, daß es nur zweckmäßig sei, wenn es zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang geschehen könnte. Der Graf kann, auch wenn er die Gestalt einer Fledermaus annimmt, das fließende Wasser nicht ohne weiteres überfliegen und muß auf dem Schiffe bleiben. Da er sich aber auch, ohne Verdacht zu erregen, nicht in Menschengestalt zeigen kann, so muß er in seiner Kiste bleiben. Wenn es uns gelingt, nach Sonnenaufgang an Bord zu kommen, so ist er in unserer Gewalt; dann können wir die Kiste öffnen und ihn erlösen, ehe er wieder erwacht, wie wir es einst mit Lucy getan haben. Wir werden mit den Beamten und den Seeleuten keine besonderen Scherereien haben. Man kann in diesem Lande mit Trinkgeldern viel erreichen, und an Geld fehlt es uns ja nicht. Wir müssen darauf achten, daß das Schiff nicht nach Sonnenuntergang in den Hafen einläuft, ohne daß wir davon wissen, aber wir werden ja unterrichtet sein. Der Geldbeutel wird uns schon dazu behilflich sein.

16. Oktober. – Minas Aussage ist immer noch die gleiche; klatschende Wasser, rauschende Wellen, Dunkelheit und günstiger Wind. Wir sind offenbar frühzeitig genug daran, und wenn wir von der »Czarina Catharina« hören, werden wir mit unseren Vorbereitungen fertig sein. Sie muß ja die Dardanellen passieren, von dort muß unbedingt eine Nachricht eintreffen.

17. Oktober. – Ich glaube, es ist nun alles aufs beste vorbereitet, um den Grafen bei seiner Landung würdig zu empfangen. Godalming erzählte dem Schiffseigentümer, er vermute, daß die an Bord befindliche Kiste Verschiedenes enthalte, was einem seiner Freunde gestohlen worden sei, worauf jener ihm halb und halb seine Zustimmung gab, die Kiste auf eigene Verantwortung zu öffnen. Er gab ihm einen Brief an den Kapitän mit, in dem er die Erlaubnis erteilte, an Bord alles zu tun, was wir für nötig hielten. Ein Schreiben gleichen Inhalts richtete er an seinen Agenten in Varna. Wir besuchten den Agenten, der von Godalmings hinreißender Liebenswürdigkeit ganz bezaubert war. Wir waren sehr zufrieden, als er uns versprach, alles zu tun, um die Erfüllung unserer Wünsche zu ermöglichen. Wir haben schon beratschlagt, was wir tun wollen, wenn wir die Kiste geöffnet haben. Wenn der Graf darin ist, werden Van Helsing und Seward ihm sofort den Kopf abschneiden und ihm einen Pfahl durch das Herz treiben. Morris, Godalming und ich sollen jeder Störung entgegentreten; wenn es sein müßte, mit der Waffe in der Hand. Van Helsing sagt, daß, wenn es uns gelingt, den Körper des Grafen in der angegebenen Weise zu behandeln, er sofort zu Staub zerfallen wird. In diesem Falle läge auch kein Beweis gegen uns vor, wenn eventuell der Verdacht eines Mordes auf uns fallen sollte. Aber selbst, wenn dies nicht der Fall wäre, wir stehen und fallen mit unserem Vorhaben; vielleicht rettet uns eines Tages diese Berichterstattung vor dem Galgen. Wir werden kein Mittel unversucht lassen, unseren Plan auszuführen. Wir haben mit mehreren Beamten verabredet, daß sie uns einen Boten schicken, sobald die »Czarina Catharina« in Sicht kommt.

24. Oktober. – Eine ganze Woche ungeduldigen Wartens. Täglich trifft ein Telegramm an Godalming ein, aber immer derselbe Inhalt: bis jetzt noch nicht gemeldet. Minas hypnotische Morgen- und Abendberichte sind unverändert gleich; klatschende Wasser, rauschende Wellen, krachende Mäste.

 

Telegramm.
Rufus Smith, Lloyd, London,
an Lord Godalming,
zu Händen des k. Vizekonsuls, Varna.

24. Oktober. – »Czarina Catharina« hat heute früh die Dardanellen passiert.

 

Dr. Sewards Tagebuch.

25. Oktober. – Wie ich meinen Phonographen vermisse! Das Tagebuch mit der Hand zu schreiben ist mir eine beschwerliche Arbeit. Aber Van Helsing sagt, es muß sein. Wir waren alle in größter Erregung, als Godalming gestern sein Lloydtelegramm erhielt. Ich weiß jetzt, was der Soldat fühlen mag, wenn er in der Schlacht die Trompeten zum Angriff rufen hört. Frau Harker war die einzige, die kein Zeichen der Aufregung merken ließ. Es ist auch begreiflich, daß dies so war, denn wir hatten ihr die Neuigkeit verheimlicht und bemühten uns, in ihrer Gegenwart nicht das geringste merken zu lassen. Vor einiger Zeit noch hätte sie trotz aller unserer Bemühungen, es ihr zu verbergen, doch den Zusammenhang erraten; aber in dieser Hinsicht hat sie sich in den letzten drei Wochen seltsam verändert. Eine große Gleichgültigkeit bemächtigt sich ihrer. Obgleich sie stark und gesund aussieht und wieder etwas Röte ihre Wangen färbt, sind Van Helsing und ich mit ihrem Zustande doch nicht recht zufrieden. Wir beide sprechen oft über sie, den anderen gegenüber aber haben wir noch kein Wort verlauten lassen. Wir würden Harkers Nerven einen gewaltigen Stoß versetzen, wenn wir ihn wissen ließen, daß wir einen solchen Verdacht hegen. Van Helsing beobachtet, während sie im hypnotischen Schlafe liegt, genau ihre Zähne. Er meint, daß keine unmittelbare Gefahr einer Veränderung vorliegt, so lange diese sich nicht in auffälliger Weise schärfen. Wenn aber diese Veränderung eintreten sollte, dann sei es nötig, Schritte zu tun … Wir beide wissen wohl, welche Schritte damit gemeint waren, obgleich wir unseren Gedanken darüber keine Worte verleihen. Keiner von uns würde vor der Aufgabe zurückschrecken, so furchtbar sie auch erscheint.

Die »Czarina Catharina« hat nur noch etwa 24 Stunden zu fahren, vorausgesetzt daß sie dieselbe Geschwindigkeit beibehält, die sie für die Reise von London bis zu den Dardanellen hatte. Sie wird also am Morgen eintreffen. Da sie aber vorher auf keinen Fall hier sein kann, werden wir alle früh zu Bett gehen. Wir wollen um ein Uhr aufstehen, um rechtzeitig zur Stelle zu sein.

25. Oktober. Mittags. – Kein Anzeichen, daß das Schiff kommt. Der hypnotische Bericht Frau Harkers war heute früh derselbe wie bisher; es ist also möglich, daß wir jeden Augenblick etwas erfahren. Wir Männer befinden uns in einem förmlichen Fieber der Erregung, außer Harker, der eine merkwürdige Ruhe zeigt. Seine Hände sind kalt wie Eis; vor einer Stunde sah ich ihn sein langes Gurkamesser schleifen, das er jetzt nicht mehr von der Seite läßt. Es ist eine schlechte Aussicht für den Grafen, die scharfe Schneide dieses »Kukri«, das von dieser entschlossenen, eiskalten Hand geführt wird, an seiner Kehle zu fühlen.

Van Helsing und ich waren heute etwas beunruhigt über Frau Harker. Nachmittags verfiel sie in eine Art Lethargie, die uns nicht recht gefallen wollte. Obgleich wir mit den anderen nicht darüber sprachen, waren wir doch sehr unglücklich darüber. Am Morgen war sie sehr unruhig gewesen, so daß wir anfänglich froh waren, als sie endlich schlief. Als aber dann ihr Mann erwähnte, seine Frau schlafe so tief, daß er sie nicht aufwecken könne, gingen wir in ihr Zimmer, um selbst nachzusehen. Sie atmete regelmäßig und sah so frisch und friedlich aus, daß wir übereinkamen, daß für sie der Schlaf das beste sei. Frau Mina hat so viel zu vergessen, daß es kein Wunder ist, daß der Schlaf, wenn er wirklich Vergessenheit bringt, auch eine Erholung für sie bedeutet.

Später. – Unsere Ansicht war gerechtfertigt, denn als sie aus dem tiefen Schlaf nach mehreren Stunden erwachte, war sie heiter und wohler, als sie seit Tagen gewesen war. Bei Sonnenuntergang erstattete sie wie gewöhnlich ihren hypnotischen Bericht. Wo immer der Graf auch im Schwarzen Meer schwimmen mag, er schwimmt seinem Verhängnis entgegen. Ich hoffe, sein Untergang ist nahe.

26. Oktober. – Wieder ein Tag vorbei und noch keine Nachricht über die »Czarina Catharina«. Sie müßte eigentlich schon hier sein. Daß sie noch irgendwo herumfährt, geht aus den hypnotischen Mitteilungen Frau Harkers hervor, die immer noch gleich lauten. Es könnte ja sein, daß das Schiff durch Nebel zum Stilliegen gezwungen ist. Mehrere der in den letzten Tagen einlaufenden Dampfer berichten von dichten Nebelwänden nördlich und südlich des Hafens. Wir dürfen in unserer Wachsamkeit keinen Augenblick nachlassen, da das Schiff jeden Augenblick gemeldet werden kann.

27. Oktober. Mittags. – Zu merkwürdig; immer noch keine Nachricht von dem Schiff. Frau Harker berichtete gestern abend und heute früh wie sonst: »klatschende Wellen; sehr schwach.« Auch die Telegramme von London bringen immer dasselbe; »keine weitere Meldung«. Van Helsing ist in großer Sorge und vertraute mir an, er glaube, daß der Graf uns entwischen werde. Er fügte bedeutsam hinzu:

»Diese Lethargie Frau Minas gefiel mir vom ersten Augenblick an nicht recht. Die Seele und das Gedächtnis macht im Trance die seltsamsten Sprünge.« Ich wollte ihn eben noch etwas fragen, da kam Harker herein und erhob abwehrend die Hand. Wir müssen heute abend bei Sonnenuntergang, wenn sie in hypnotischem Schlaf liegt, den Versuch machen, noch mehr aus ihr herauszubringen.

 

Telegramm.
Rufus Smith. Lloyd, London,
an Lord Godalming,
zu Händen des k. Vizekonsuls, Varna.

28. Oktober. – »Czarina Catharina« ist heute um ein Uhr vor Galatz eingetroffen.

 

Dr. Sewards Tagebuch.

28. Oktober. – Als das Telegramm eintraf, das uns die Ankunft des Schiffes vor Galatz meldete, waren wir alle weit weniger erschreckt, als man hätte vermuten können. Allerdings wußten wir nicht, woher, wie und wo der Blitzstrahl nun auf uns herunterzucken würde, aber sicherlich erwarteten wir alle, daß etwas Besonderes eintreffen müsse. Schon der Umstand, daß sich die Ankunft des Schiffes dermaßen verzögerte, ließ uns ahnen, daß nicht alles so kommen werde, wie wir es uns vorgestellt hatten. Trotzdem waren wir überrascht. Die Natur läßt uns die Dinge oft gegen unseren Willen so voraussehen, wie sie kommen müssen, nicht wie wir glauben, daß sie kommen sollen. Transzendentalismus ist für die Engel ein Leitstern, für die Menschen aber ein Irrlicht. Es war merkwürdig, wie jeder von uns die Sache anders trug. Van Helsing rang die Hände, als kämpfe er mit dem Allmächtigen selbst; aber er sagte kein Wort und stand nach einigen Augenblicken wieder innerlich gefestigt da. Lord Godalming wurde kreidebleich und saß schwer atmend auf seinem Stuhl. Ich selbst war vollkommen bestürzt und sah erstaunt einen nach dem anderen an. Quincey Morris zog mit rascher Bewegung seinen Gürtel fester; ich weiß aus unseren Wanderjahren, daß das »vorwärts« bedeutet. Frau Harker war von gespenstischer Blässe, so daß die Narbe auf ihrer Stirn zu brennen schien. Sie faltete demütig die Hände und blickte wie im Gebet empor. Aber Harker lächelte – er lächelte wirklich – das finstere, bittere Lächeln derer, die alle Hoffnung aufgeben. Aber seine Bewegung strafte seine Mienen Lügen, denn seine Hand suchte instinktiv nach dem Griffe seines Kukrimessers und klammerte sich dort fest. »Wann geht der nächste Zug nach Galatz?« fragte uns plötzlich Van Helsing.

»Morgen früh 6.30.« Wir waren äußerst überrascht, denn die Antwort war aus Frau Minas Mund gekommen.

»Wie um Himmels willen wissen Sie das?« fragte Arthur.

»Sie vergessen – oder vielleicht wissen Sie es nicht, wie Jonathan und Dr. Van Helsing – daß ich darin Spezialistin bin. Zu Hause in Exeter pflegte ich mich stets für die Fahrpläne zu interessieren, um Jonathan behilflich sein zu können. Ich fand es so zweckmäßig, daß ich auch jetzt zuweilen die Fahrpläne studiere. Ich wußte, daß, wenn wir Schloß Dracula aufsuchen wollen, wir entweder über Galatz oder über Bukarest fahren müßten; deshalb habe ich mir diese Züge eingeprägt. Es war dabei nicht viel zu lernen, da der einzige Zug, wie ich schon sagte, morgen früh fährt.«

»Eine prächtige Frau!« murmelte der Professor.

»Können wir keinen Extrazug nehmen?« fragte Lord Godalming. Van Helsing schüttelte den Kopf: »Ich fürchte fast, nein. Dieses Land ist ganz anders wie das unsere; selbst wenn wir einen Extrazug bestellen, wird er wahrscheinlich nicht viel früher eintreffen wie der fahrplanmäßige. Außerdem haben wir doch noch Verschiedenes vorzubereiten. Wir müssen überlegen, dann wollen wir uns organisieren. Sie, Freund Arthur, gehen zur Bahn und besorgen die Fahrkarten; außerdem richten Sie alles so her, daß wir morgen früh abfahren können. Sie, Freund Jonathan, gehen zu dem Schiffsagenten und lassen sich von ihm einen Empfehlungsbrief an den Agenten in Galatz ausstellen, damit wir auch dort die Erlaubnis bekommen, das Schiff zu durchsuchen. Quincey Morris, Sie begeben sich zum Vizekonsul und bitten ihn, uns seinem Kollegen in Galatz zu empfehlen und uns die Wege so gut als möglich zu ebnen, damit wir keine Zeit verlieren, wenn wir jenseits der Donau sind. John bleibt bei mir und Frau Mina, wir wollen dann weiter beraten, denn alle die Dinge würden Euch aufhalten. Es hat aber nichts zu sagen, wenn darüber die Sonne untergeht, denn ich bin ja zur Stelle und nehme die hypnotischen Mitteilungen Frau Minas entgegen.«

»Und ich«, sagte Frau Harker fröhlich, fast so wie in vergangenen Tagen, »ich werde mich bemühen, Ihnen in jeder Beziehung nützlich zu sein, für Sie zu denken und zu schreiben, wie ich es bisher getan. Es ist mir, als hebe sich irgend ein böser Einfluß von mir, ich fühle mich freier wie seit langer Zeit.« Die drei jüngeren Männer sahen ganz glücklich aus, weil sie meinten, den Sinn ihrer Worte günstig auslegen zu dürfen. Aber Van Helsing und ich sahen uns an und jeder blickte in ein paar ernste, bekümmerte Augen. Aber wir sagten nichts.

Als die drei an die Ausführung ihrer Aufträge gegangen waren, bat Van Helsing Frau Harker, die Kopien der Tagebücher zu holen und den Teil herauszusuchen, den Harker auf Schloß Dracula geschrieben. Als sie hinausgegangen war, um das Erbetene zu holen, sagte er:

»Sie vermuten dasselbe wie ich; sprechen Sie!«

»Es ist irgend eine Veränderung eingetreten. Diese Möglichkeit macht mich krank, wir können uns aber auch täuschen.«

»Ganz richtig. Wissen Sie, warum ich sie bat, mir das Manuskript zu holen?«

»Nein«, sagte ich, »höchstens, um eine Gelegenheit zu haben, mit mir allein zu sprechen.«

»Zum Teil haben Sie ja recht. Ich muß Ihnen etwas sagen. Ich übernehme ein großes, furchtbares Risiko; aber ich denke, es ist das Richtige. In dem Augenblick, als Frau Mina die Worte sagte, die uns beide stutzig machten, kam mir eine Eingebung. Vor drei Tagen hat ihr der Graf in ihrem Trance seinen Geist gesandt, um in ihrem Geiste zu lesen, deutlicher gesagt, er nahm sie zu sich in seine Erdkiste auf dem Schiff im rauschenden Wasser. Er erfuhr, daß wir hier seien, denn sie, mit ihren offenen Augen und hörenden Ohren, weiß ihm mehr zu erzählen, als er in seiner engen Kiste weiß. Nun macht er die größten Anstrengungen, uns zu entkommen. Gegenwärtig bedarf er ihrer nicht. Er ist sich seiner großen Macht wohl bewußt, daß er sie nur zu rufen braucht. Er hat sie augenblicklich frei gemacht, hat sie, wie es ja in seinem Belieben steht, auf einige Zeit aus seiner Macht entlassen, damit sie nicht zu ihm komme. Aber ich hege die Hoffnung, daß unsere Gehirne, die schon so lange als Menschengehirne wirken, doch den Sieg davontragen über sein Kindergehirn, das seit Jahrhunderten im Grabe liegt, das noch lange nicht die Fähigkeiten des unseren erreicht hat und nur eigennützige und daher kleinliche Werke verrichtet. Da kommt Frau Mina; nicht ein Wort von ihrem Trance! Sie weiß es nicht, und es würde sie zur Verzweiflung bringen, da wir sie doch gerade jetzt bei gutem Mut erhalten müssen, ihre Hoffnung nicht zerstören dürfen. Wir brauchen ihren Verstand, der geschult ist wie der eines Mannes, und doch ist sie nur ein zartes Weib. Aber sie verfügt noch über eine besondere Gabe, die der Graf ihr verlieh, die er – obgleich er glaubt nicht mehr ganz von ihr nehmen kann. Wir sind in einer bösen Klemme. Ich bin in Furcht, mehr als ich Ihnen sagen kann. Still, da kommt sie schon.«

Ich befürchtete fast, der Professor bekäme wieder einen nervösen Anfall wie damals, als Lucy starb, aber er raffte sich mit der größten Anstrengung auf und hatte wieder sein vollkommenes seelisches Gleichgewicht, als Frau Harker ins Zimmer trat, fröhlich und glücklich. Sie schien über ihrer Arbeit ihr Elend völlig vergessen zu haben und gab Van Helsing eine Anzahl maschinengeschriebener Blätter. Er sah erst ziemlich ernst darauf hin, allmählich aber klärte sich sein Gesicht auf. Dann sprach er:

»Freund Jonathan, Ihnen, der schon so viel Erfahrung hat, und auch Ihnen, Frau Mina, die Sie noch so jung sind, es soll eine Lehre für Sie sein: fürchten Sie sich nie vor dem Nachdenken. Oft ist ein halber Gedanke in meinem Kopf herumgegangen, aber ich fürchtete mich, daß er seine Schwingen entfalte. Jetzt aber, mit mehr Kenntnissen, kehre ich dahin zurück, woher der halbe Gedanke kam, und ich erkenne, daß es gar kein halber Gedanke war, daß es ein ganzer Gedanke war, wenn auch noch zu jung, um den Flug zu wagen. Und wie es der ›häßlichen kleinen Ente‹ im Märchen meines Freundes Hans Andersen erging, nämlich, daß sie sich plötzlich auf stolzen Schwanesschwingen in die Lüfte erhob, als ihre Zeit gekommen war, so ergeht es auch meinem kleinen Gedanken. Hören Sie, ich lese Ihnen das vor, was Jonathan einst geschrieben:

»Dieser Andere seines Geschlechts, der später immer und immer wieder seine Scharen über den breiten Strom ins Türkenland einfallen ließ, kehrte, obgleich zurückgetrieben, als einziger von der blutigen Wahlstatt heim, auf der sein Stamm niedergemetzelt worden war. Dennoch kehrte er wieder, weil er wußte, daß er allein den Sieg erringen werde.«

»Was sagt uns das? Nicht viel? Nein! Des Grafen Kinderverstand sieht nichts, deshalb spricht er sich so frei aus. Ihr Mannesverstand sieht auch nichts; der meinige ebenfalls nicht, bis jetzt. Nein. Aber es kommt dann plötzlich ein Wort von irgend jemand, ganz ohne Hintergedanken ausgesprochen, weil er selbst nicht weiß, was es bedeutet – was es bedeuten könnte. Es gibt ja auch Elemente, die an sich tot sind; wenn sie aber im Lauf der Dinge sich berühren, dann flammen mächtige Lichtblitze auf, die blenden, töten und zerstören; aber sie erleuchten die Erde auf Meilen hinaus. Ist es nicht so? Ich will mich deutlicher ausdrücken. In erster Linie, haben Sie schon die Philosophie des Verbrechens studiert? Ja und nein. Sie, Freund Jonathan, ja, denn es hängt mit dem Studium des Irrsinns eng zusammen. Sie, Frau Mina, nein, denn mit dem Verbrechen hatten Sie nie zu tun, außer ein einziges Mal. Ihr Verstand arbeitet richtig und urteilt nicht vom Einzelnen auf das Ganze. Das Verbrechen ist ziemlich einseitig. Es ist dies eine so konstante Eigenschaft des Verbrechens in allen Ländern und zu allen Zeiten, daß sogar die Polizei, der doch die Philosophie ein Buch mit sieben Siegeln ist, erfahrungsmäßig darauf kommt, daß es überall so ist. Der Verbrecher geht nur auf eine Art des Verbrechens aus – das ist der wahre kriminalistische Typus, der zum Verbrechen prädestiniert erscheint – und will von keiner anderen etwas wissen. Der Verbrecher hat keinen vollkommenen Verstand. Er ist klug, schlau und erfinderisch, aber sein Gehirn ist doch nicht ausgereift. Er hat mehr ein Kindergehirn. Auch unser Verbrecher ist zum Verbrechen prädestiniert, auch er hat ein Kindergehirn und arbeitet wie ein Kind. Der junge Vogel, der junge Fisch, überhaupt das junge Tier lernt nicht theoretisch, sondern erfahrungsmäßig. Wenn Dracula etwas kennen gelernt hat, so ist das für ihn ein Anstoß, in derselben Weise weiter zu verfahren. ›Gib mir einen Stützpunkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln‹, sagte Archimedes. Das einmal Erreichte ist für das Kindergehirn der Stützpunkt, von dem aus es sich zum Mannesgehirn entwickelt, und bis es auf die Idee kommt, mehr zu erreichen, tut es immer das Gleiche, genau wie bisher. Frau Mina, ich sehe, Ihre Augen sind offen und erblicken den hellen Lichtstrahl, der meilenweit hinaus alles erhellt.« Denn Frau Mina begann in die Hände zu klatschen und ihre Augen glänzten. Er fuhr fort:

»Nun sollen Sie sprechen. Erzählen Sie uns trockenen Männern der Wissenschaft, was Sie mit Ihren leuchtenden Augen erblicken.« Er nahm ihre Hand und hielt sie fest, während sie sprach. Er umfaßte ihren Puls mit Daumen und Zeigefinger, wie ich glaubte instinktiv und absichtslos. Sie sprach:

»Der Graf ist ein Verbrecher und zwar ein Verbrechertypus. Nordau sowohl als Lombroso würden ihn so klassifizieren, und weil er Verbrecher ist, ist er auch von unvollkommen ausgebildetem Verstand. Er greift also unter schwierigen Verhältnissen zu dem, was ihm die Gewohnheit eingibt. Seine Vergangenheit mag uns vielleicht einen Anhaltspunkt geben. Das eine Blatt aus dem Buche seiner Vergangenheit, das wir kennen – es sind seine eigenen Worte – sagt uns, daß er früher schon, wenn er in der Klemme war, aus dem Lande, in das er eingefallen war, wieder in sein eigenes zurückkehrte. Von da aus bereitete er dann, ohne seinen Zweck einen Augenblick aus den Augen zu lassen, einen neuen Einfall vor. Er kam wieder, besser ausgerüstet, und gewann. So kam er auch nach London, um so sich ein neues Land Untertan zu machen. Er wurde zurückgeschlagen, und als er sah, daß alle seine Hoffnung auf Erfolg umsonst, daß seine Existenz in Gefahr war, flüchtete er über das Meer in sein Heimatland zurück, gerade wie er vor Jahren aus dem Türkenlande über die Donau entwichen war.«

»Sehr gut, o Sie kluge Frau!« sprach Van Helsing enthusiastisch, beugte sich nieder und küßte ihr die Hand. Einen Augenblick später sagte er zu mir, so still, als handle es sich um die Konsultation am Krankenbett:

»Nur zweiundsiebzig; und dabei tiefe Erregung. Ich beginne wieder zu hoffen.« Er wandte sich ihr wieder zu und sagte in froher Erwartung:

»Aber nun weiter. Sie können uns noch mehr erzählen, wenn Sie wollen. Seien Sie ohne Sorge; John und ich wissen alles. Ich auf jeden Fall, und ich werde es Ihnen sagen, wenn ich glaube, daß Sie recht haben. Sprechen Sie ohne Furcht!«

»Ich will es versuchen, aber Sie dürfen es mir nicht verübeln, wenn ich immer von mir spreche.«

»Sie brauchen keine Sorge zu haben. Sie interessieren uns speziell, deshalb dürfen Sie von sich selbst soviel reden als Sie wollen.«

»Ferner ist er ebenso selbstsüchtig als verbrecherisch, und da sein Intellekt minimal und sein Handeln nur auf Selbstsucht begründet ist, so beschränkt er sich nur auf eines. Dies Eine aber verfolgt er skrupellos. Wie er damals über die Donau entfloh und seine Heerscharen in Stücke hauen ließ, so ist er auch heute nur darauf aus, sich in Sicherheit zu bringen, ohne an andere zu denken. Auf diese Weise ist durch seinen Egoismus meine Seele frei geworden von der entsetzlichen Macht, die er seit jener Unglücksnacht über mich besitzt. Ich fühle es! Meine Seele ist freier als je seit jener grauenvollen Stunde; alles, was mich quält, ist nur die Sorge, er könnte meinen Trance oder meine Träume zu seinen Zwecken ausgenützt haben.« Der Professor stand auf:

»Er hat Ihren Geist auch in dieser Weise ausgenützt. Dadurch ist es ihm gelungen, uns hier in Varna festzuhalten, während das Schiff, das ihn trägt, mit Hilfe des umhüllenden Nebels nach Galatz fuhr, wo er sicherlich schon Vorbereitungen für seine Flucht getroffen hat. Aber sein kurzsichtiger Verstand hat nur bis hierher gereicht. Es ist leicht möglich, daß das, worauf der Bösewicht, als seinen egoistischen Zwecken am meisten dienlich, besonders rechnete, ihm gerade am schädlichsten ist. Der Jäger hat sich in den eigenen Fallstricken gefangen. Denn jetzt, wo er sich vor unserer Verfolgung sicher und uns mit einem großen Vorsprung entronnen zu sein glaubt, wird ihn sein egoistisches Kindergehirn in Ruhe wiegen. Auch denkt er, daß, weil er den Faden des Denkens zwischen sich und Ihnen zerschnitten hat, auch wir keine Kenntnis von ihm haben können. Da befindet er sich aber im Irrtum. Diese entsetzliche Bluttaufe, die er Ihnen gab, hat Ihnen die Fähigkeit gegeben, im Geiste zu ihm zu kommen, wie Sie es ja zur Zeit des Sonnenauf- und -unterganges schon mehrfach getan haben. Zu dieser Zeit gehen Sie nach meinem Willen und nicht nach dem seinen. Diese Fähigkeit, die Ihnen und anderen zum Heile gereicht, haben Sie durch das Leid gewonnen, das seine Hand Ihnen zugefügt. Das ist alles umso wertvoller, als er selbst es nicht weiß; seine Vorsicht hat ihm auch die Möglichkeit genommen, zu erfahren, wo wir uns befinden. Wir aber sind alle ohne jegliche Selbstsucht. Wir werden den Grafen verfolgen und nicht mit der Wimper zucken, selbst wenn wir zu Grunde gehen und werden sollten wie er. Freund Jonathan, das war eine gesegnete Stunde, wir sind ein gut Stück auf unserem Wege weiter gekommen. Sie müssen nun wieder alles zu Papier bringen, damit die anderen, wenn Sie von ihrem Werke heimkehren, alles gleich fertig finden. Dann wird es ihnen so klar werden wie uns.«

Ich habe dies niedergeschrieben, während wir auf die Heimkehr der Genossen warteten. Frau Harker hat alles mit der Maschine geschrieben.


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