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Dreizehntes Kapitel.

Dr. Sewards Tagebuch.

(Fortsetzung.)

Die Beerdigung war für den übernächsten Tag angeordnet worden, damit Lucy mit ihrer Mutter zusammen begraben werden könnte. Ich besorgte all die nötigen Formalitäten, und der höfliche Begräbnisunternehmer versicherte mir mit der ihm eigenen süßlichen Unterwürfigkeit, daß sein ganzes Personal tief ergriffen sei. Sogar die Frau, die der Toten die letzten Dienste erwies, sagte, als sie das Zimmer der Toten verließ, in vertraulicher, kollegialer Weise zu mir:

»Sie ist eine wunderschöne Leiche, Herr Doktor. Es ist eine wahre Auszeichnung, sie bedienen zu dürfen. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, sie wird unserem Institut alle Ehre machen.«

Es fiel mir auf, daß Van Helsing zugegen blieb. Es war auch erklärlich, wenn man sich die Unordnung im ganzen Haushalt vergegenwärtigte. Verwandte waren nicht anwesend, und da auch Arthur am nächsten Tage zurück mußte, um dem Begräbnis seines Vaters beizuwohnen, so war es uns unmöglich zu erfahren, wen wir hätten herbeirufen sollen. Unter diesen Umständen unternahmen es Van Helsing und ich, selbst in die Papiere Einblick zu nehmen. Die Durchsicht von Lucys Papieren behielt er sich vor. Ich fragte ihn nach dem Grunde, denn ich fürchtete, daß er als Fremder die englischen Gesetzesbestimmungen nicht kenne und deswegen vielleicht unnötige Verwicklungen herbeiführen könne. Er antwortete:

»Ich weiß, ich weiß. Sie vergessen, daß ich ebensogut Rechtsanwalt bin wie Arzt. Aber unsere Sache ist nichts für Juristen. Sie wissen das selbst am besten; warum hätten Sie sich sonst so sehr bemüht, eine gerichtliche Leichenschau zu vermeiden? Ich habe noch mehr zu vermeiden als diese. Es müssen noch andere Papiere vorhanden sein, solche wie diese hier.«

Während seinen Worten hatte er aus seinem Taschenbuch das Schreiben hervorgeholt, das Lucy an der Brust getragen und das sie im Schlafe zerrissen hatte.

»Wenn Sie etwas finden, das für den Sachwalter der verstorbenen Frau Westenraa von Bedeutung sein könnte, so versiegeln Sie es und machen Sie ihm heute noch Mitteilung. Ich bleibe in diesem und in Lucys Zimmer die ganze Nacht auf und forsche selbst nach allem, was ich brauche. Ich möchte nicht, daß ihre innersten Gedanken zur Kenntnis Fremder gelangen.«

Ich machte mich sofort an die übernommene Arbeit und hatte nach einer halben Stunde Namen und Adresse von Frau Westenraas Sachwalter gefunden und an ihn geschrieben. Sämtliche Papiere der Frau waren in Ordnung; genaue Weisungen bezüglich der Beerdigung waren darin enthalten. Kaum hatte ich den Brief versiegelt, da trat zu meinem Erstaunen Van Helsing ein und sagte:

»Kann ich Ihnen behilflich sein, Freund John? Ich bin nun frei und stehe zu Ihrer Verfügung.«

»Haben Sie gefunden, was Sie suchten?« fragte ich, worauf er antwortete:

»Ich habe eigentlich nach etwas Bestimmten nicht gesucht. Ich hoffte lediglich irgend etwas zu finden, und habe auch alles gefunden, was vorhanden war; einige Briefe, ein paar Notizzettel und ein eben erst angefangenes Tagebuch. Ich habe sie hier bei mir und wir wollen vorerst keinerlei Erwähnung davon tun. Ich werde den Bräutigam morgen Abend sehen und mit seiner Zustimmung von einigem Gebrauch machen.«

Als wir alles Nötige geordnet hatten, sagte er: »Und nun, Freund John, denke ich, gehen wir zu Bett. Wir beide bedürfen des Schlafes und müssen unsere Ruhe wiedergewinnen. Morgen gibt es wieder viel zu tun, aber heute Nacht sind wir vollkommen unnötig. Leider!«

Ehe wir uns zu Ruhe begaben, sahen wir noch einmal nach der toten Lucy. Der Begräbnisunternehmer hatte tatsächlich sein Bestes geleistet, das Zimmer glich einer Trauerkapelle. Es war ein ganzer Garten wundervoller Blumen um die Tote, der Tod war so wenig abstoßend gemacht als irgend möglich. Das Ende des Leichentuches hatte man ihr über das Antlitz gelegt. Als der Professor sich über die Leiche beugte und das Tuch leise zurückschlug, waren wir beide erstaunt über die Schönheit, die sich uns darbot. Die dicken Wachskerzen gaben genügend Licht, um uns zu zeigen, daß all ihre Schönheit im Tode zurückgekehrt war. Die vergangenen Stunden, anstatt mit grausamen Finger die Spuren der Vernichtung in das Antlitz zu graben, hatten die ganze Lieblichkeit der Lebenden wiederhergestellt, so daß ich es nicht für möglich hielt, daß es ein Leichnam sei, der vor uns lag.

Der Professor sah sehr ernst aus. Er hatte sie nicht so geliebt wie ich, und es war kein Grund dazu vorhanden, daß er Tränen in den Augen hatte. Er sagte: »Warten Sie, bis ich wiederkomme«, und verließ das Zimmer. Er kam mit einer Handvoll wildem Knoblauch zurück, den er der Kiste entnommen hatte, die auf dem Gang gestanden, aber noch nicht geöffnet war. Er mischte die Blüten unter die Blumen, die auf und um das Bett gelegt worden waren. Dann nahm er von seinem Halse ein kleines goldenes Kruzifix, das er direkt auf der Haut getragen, und legte es auf den Mund der Toten. Schließlich zog er ihr das Laken über das Gesicht und wir verließen das Zimmer.

Ich war gerade im Begriff, mich in meinem Schlafgemach auszuziehen, als Van Helsing eintrat und sagte:

»Morgen muß ich Sie bitten, mir, ehe es Abend wird, einen Satz Seziermesser zu bringen.«

»Müssen wir eine Sektion vornehmen?« fragte ich.

»Ja und nein. Ich habe eine Operation vor, aber nicht so, wie Sie denken. Zu Ihnen will ich sprechen, aber sagen Sie keinem Menschen ein Wort davon. Ich muß Lucy den Kopf abschneiden und das Herz herausnehmen. O, Sie wollen ein Arzt sein, und zittern! Sie, den ich mit fester Hand Operationen auf Leben und Tod vornehmen sah, daß die Kollegen schauderten. Allerdings, lieber Freund, darf ich nicht vergessen, daß Sie sie lieb gehabt haben. Ich habe es auch nicht vergessen, denn ich bin es, der die Operation ausführen wird, und Sie sollen mir lediglich helfen. Ich würde es am liebsten noch heute Nacht tun, aber wegen Arthur will ich es nicht. Er wird morgen nach der Beerdigung seines Vaters kommen und Lucy sehen wollen. Dann aber, wenn sie für den nächsten Tag fertig aufgebahrt ist, wollen wir, Sie und ich, beginnen, wenn alles schläft. Wir werden den Sargdeckel aufschrauben und die Operation vornehmen. Dann werden wir wieder alles in Ordnung bringen, so daß niemand außer uns beiden etwas weiß.«

»Aber warum tun Sie das alles? Sie ist doch tot. Warum unnötigerweise noch den Leib verstümmeln? Wenn eine Sektion keinen Zweck hat und keinen Gewinn bringt, weder ihr selbst noch uns, weder der Wissenschaft noch dem medizinischen Können, warum sollen wir es tun? Ohne solche Gründe wäre es ja etwas Ungeheuerliches.«

Anstelle einer Antwort legte er mir seine Hand auf die Schulter und sagte mit unbeschreiblicher Güte in der Stimme:

»Freund John, Ihr blutendes Herz tut mir leid, und ich habe Sie nur noch umso lieber, weil es so blutet. Wenn ich könnte, möchte ich gerne das Leid auf mich nehmen, das Sie bedrückt. Aber es gibt Dinge, die Sie nicht wissen, aber wissen werden. Sie werden mir einst danken, wenn ich sie Ihnen eröffne, wenn es auch gerade keine ergötzlichen Dinge sind. Mein lieber John, Sie sind nun so manches Jahr mein Freund gewesen; erinnern Sie sich, daß ich jemals etwas ohne Grund tat? Ich kann irren, ich bin auch nur ein Mensch; aber ich glaube an das, was ich tue. Haben Sie nicht darum mich gerufen, als die große Not und Sorge hereinbrach? Ja, waren Sie nicht erstaunt oder vielmehr entsetzt, als ich Arthur seine sterbende Braut nicht küssen lassen wollte und ihn mit aller Kraft wegriß? Ja! Sie haben auch gesehen, wie sie mit ihren wundervollen Augen im Sterben noch dankte, mit ihrer schwachen Stimme, und wie sie meine alte, rauhe Hand küßte und mich segnete! Ja! Und hörten Sie nicht das feierliche Versprechen, das sie von mir empfing, so daß sie voll Glück die Augen schloß?

Ich habe gute Gründe für das, was ich tun muß. Sie haben mir viele Jahre lang Ihr Vertrauen geschenkt; Sie haben mir noch vor wenigen Wochen geglaubt, als sich Dinge ereigneten, die wohl Ihren Zweifel hätten wachrufen können. Glauben Sie noch eine kleine Weile an mich, Freund John. Wenn sie mir nicht trauen, so muß ich Ihnen alles offenbaren, was ich denke; das wäre jetzt nicht gut. Und wenn ich seziere – geschehen muß es, ganz gleich, ob ich Vertrauen finde oder nicht – ohne daß mein Freund an mich glaubt, so muß ich mit schwerem Herzen arbeiten und werde mich sehr verlassen fühlen, wo ich doch aller erdenklichen Hilfe und Aufmunterung bedürfte.« Er schwieg einen Augenblick und fuhr in feierlichem Tone fort: »Freund John, die kommenden Tage werden uns seltsame, schreckliche Dinge bringen. Lassen Sie uns nicht zwei, sondern eins sein, damit unser Werk ein gutes Ende finde. Wollen Sie mir nicht Ihr Vertrauen schenken?«

Ich reichte ihm die Hand und versprach es ihm. Als er mich verließ, lauschte ich noch ein paar Augenblicke seinen Schritten und hörte, daß er in sein Zimmer ging und die Tür hinter sich abschloß. Als ich so bewegungslos an der offenen Türe stand, sah ich ein Mädchen lautlos den Gang entlang huschen – sie wandte mir den Rücken und konnte mich deshalb nicht bemerken – und in Lucys Sterbezimmer verschwinden. Ich war gerührt von diesem Anblick. Anhänglichkeit ist etwas so Seltenes, daß wir denen dankbar sind, die sie unaufgefordert unseren Lieben erweisen. Das gute Mädchen mißachtete die Scheu, die ihr der Tod naturgemäß einflößen mußte, und wollte allein an der Bahre der geliebten Herrin wachen, damit die sterbliche Hülle nicht verlassen daliegen müsse, bis sie zur ewigen Ruhe getragen würde.

Ich muß lange und tief geschlafen haben, denn es war heller Tag, als Van Helsing in mein Zimmer trat und mich weckte. Er stand neben meinem Bette und sagte:

»Sie brauchen sich wegen der Messer nicht mehr bemühen; es ist nicht mehr nötig.«

»Warum nicht?« frage ich. Die Feierlichkeit seines Wesens hatte mich gestern Abend tief ergriffen.

»Weil es zu spät ist«, sagte er traurig, »oder zu früh. Sehen Sie!« Er hielt mir das goldene Kruzifix hin. »Das ist heute Nacht gestohlen worden.«

»Wie, gestohlen? Sie haben es doch aber noch?« fragte ich verwundert.

»Weil ich es dem nichtswürdigen Geschöpf, das den Diebstahl vollbrachte, wieder abgenommen habe, dem Frauenzimmer, das die Toten und Lebenden gleichmäßig beraubt hat. Ihre Strafe wird nicht ausbleiben, aber nicht ich werde sie bestrafen. Sie hat ja nicht gewußt, was sie tat, und nur deswegen, weil sie es nicht wußte, hat sie gestohlen. Nun heißt es wieder warten.«

Dann ging er fort und hinterließ mir ein neues Geheimnis, um darüber nachzugrübeln, ein neues Rätsel, um mir den Kopf daran zu zerbrechen.

Der Vormittag war schrecklich trostlos. Gegen Mittag kam der Sachwalter, Herr Marquard von der Firma Wholemann Söhne, Marquard & Lidderdale. Er war sehr aufgeräumt und äußerte sich sehr anerkennend über unsere bisherige Tätigkeit, nahm uns aber die Sorge um die weiteren Details ab. Während des Lunch erzählte er, daß Frau Westenraa schon seit geraumer Zeit sich auf einen raschen Tod infolge ihres Herzleidens gefaßt gemacht und deshalb alle ihre Angelegenheiten in peinlichste Ordnung gebracht hatte. Er teilte uns ferner mit, daß, mit Ausnahme eines kleinen, von Lucys Vater seinerzeit eingebrachten Vermögens, das nun, nachdem eine Willensäußerung hierüber fehlte, an entfernte Verwandte der Familie fiel, die ganze Verlassenschaft Arthur Holmwood gehöre. Als er uns das eröffnet hatte, fuhr er fort:

»Offen gesagt, haben wir unser Möglichstes getan, um eine derartige letztwillige Verfügung zu verhindern, und brachten gewisse Fälle vor, die ihre Tochter entweder vollkommen vermögenslos machen oder sie wenigstens in ihren Entschließungen bei Auswahl eines Gatten beeinträchtigen könnten. Wir brachten sie tatsächlich so weit, daß wir fast mit ihr zusammengerieten, denn sie fragte uns, ob wir bereit wären, ihre Wünsche zu erfüllen oder nicht. Es blieb dann nichts weiter übrig, als ihren Willen zu erfüllen. Wir hatten im Prinzip vollkommen recht, in 99 von 100 Fällen wäre durch die Tatsachen die Logik unserer Erwägungen dargelegt worden. Offen gestanden muß ich zugeben, daß so, wie jetzt die Dinge liegen, jede andere Form der Verfügung die Ausführung ihrer letzten Wünsche betreffend unmöglich geworden wäre. Denn da sie vor ihrer Tochter starb, wäre diese in den Besitz der Hinterlassenschaft gekommen. Dann wäre beim Mangel eines Testaments – ein solches wäre im vorliegenden Falle vollständig eine Unmöglichkeit gewesen – das Vermögen nach dem Erbschaftsgesetz behandelt worden, d. h. Lord Godalming hätte, so eng er auch mit der Familie verbunden war, nicht den geringsten Anspruch gehabt, und die Erben, entfernte Verwandte, hätten gutwillig und aus Pietät wohl kaum auf ihre Rechte zu Gunsten eines vollkommen Fremden verzichtet. Ich versichere Ihnen, meine Herren, ich freue mich über das Ergebnis, freue mich wirklich herzlich.«

Er war sonst ein guter Mensch, aber seine Freude – er war zwar offiziell dabei interessiert – anläßlich einer solchen Tragödie schränkte unsere freundschaftlichen Gefühle gegen ihn doch ein.

Er blieb nicht lange und versprach, später noch einmal zu kommen und Lord Godalming zu besuchen. Seine Anwesenheit war uns immerhin ein gewisser Trost, denn wir konnten nun damit rechnen, daß unsere bisherigen Maßnahmen keiner abfälligen Kritik ausgesetzt waren. Arthur hatte für 5 Uhr sich angesagt und wir gingen deshalb kurz vor dieser Zeit in das Sterbezimmer. Es verdiente wirklich diesen Namen, denn zwei Gestorbene, Mutter und Tochter, lagen dort aufgebahrt. Der Begräbnisunternehmer hatte seine Geschicklichkeit in das beste Licht gerückt und von allem Trauerprunk, über den er verfügte, reichlich Gebrauch gemacht; es lag eine feierliche Trauerstimmung über allem, die uns tief ergriff. Van Helsing ordnete an, daß das frühere Arrangement wieder hergestellt würde und begründete dies damit, daß es für Lord Godalmings Gefühle weniger deprimierend sei, wenn er die irdischen Überreste seiner Braut ganz allein sähe. Der Unternehmer schien über seine eigene Dummheit sehr erschrocken und machte sich eigenhändig daran, die Dinge wieder so herzurichten, wie sie am Abend vorher gewesen waren. Wir hofften, auf diese Weise den Gefühlen Arthurs am besten Rechnung zu tragen.

Der schwer geprüfte Mann sah verzweifelt traurig und gebrochen aus; seine stahlharte Männlichkeit schien unter der Wucht der furchtbaren Eindrücke zusammenbrechen zu wollen. Er war, wie ich wußte, seinem Vater in aufrichtiger Liebe ergeben; ihn zu verlieren, und gerade zu dieser Zeit, war eine schwere Prüfung für ihn. Gegen mich war er so herzlich wie immer, und gegen Van Helsing von einer feinen Liebenswürdigkeit; allerdings entging mir etwas Gezwungenes in seinem Wesen nicht. Auch der Professor bemerkte es und veranlaßte mich, ihn hinaufzuführen. Ich folgte diesem Wink und begleitete ihn bis zur Tür des Sterbezimmers. Wie ich ihn verlassen wollte, weil ich meinte, er wolle allein mit ihr sein, ergriff er meinen Arm, zog mich hinein und sagte dann heiser:

»Sie haben sie ja auch geliebt, mein Freund. Sie hat mir davon erzählt, von all unseren Freunden standen Sie ihrem Herzen am nächsten. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen alles das danken soll, was Sie an ihr getan haben. Ich kann es noch nicht glauben.«

Hier verließ ihn seine Fassung. Er schlang seine Arme um mich, lehnte den Kopf an meine Brust und weinte:

»O Jack, Jack! Was soll ich tun? Mein ganzer Lebensinhalt ist auf einmal von mir gegangen; ich weiß nichts mehr in der weiten Welt, für das ich noch zu leben hätte.«

Ich sprach ihm Trost zu, so gut ich es vermochte. In solchen Fällen bedarf es ja nicht vieler Worte. Ein Druck der Hand, eine Umarmung, ein gemeinsamer Seufzer sind ein hinreichender Ausdruck des Mitgefühls. Ich verhielt mich schweigend und wartete, bis sein Weinen ruhiger wurde. Dann sagte ich leise zu ihm:

»Kommen Sie, wollen Sie Lucy nicht ein letztes Mal sehen?«

Wir gingen beide zum Totenbett und ich hob das Laken auf. Gott, wie schön sie war! Jede Stunde schien sie schöner zu werden. Ich war überrascht, und dabei überlief es mich kalt. Arthur zitterte, wie vom Fieber geschüttelt, und Zweifel bemächtigten sich seiner. Schließlich sagte er nach einer langen Pause ganz leise:

»Jack, ist sie denn wirklich tot?«

Traurig versicherte ich ihm, daß es so sei und redete ihm ein – ich hatte das Gefühl, man dürfe einen so furchtbaren Zweifel keinen Augenblick länger bestehen lassen – daß es öfter sich ereigne, daß nach dem Tode die Gesichtszüge wieder weicher würden und sogar manchmal ihren jugendlichen Reiz zurückgewönnen; das sei besonders der Fall, wenn dem Tode ein akutes, nicht lange dauerndes Leiden vorherging. Seine Zweifel schienen beseitigt zu sein, und nachdem er eine Zeit lang vor ihrem Bette gekniet und sie liebevoll angesehen hatte, ging er weg. Ich sagte ihm, daß dies der Abschied sein müsse, da der Sarg bereit stünde. Er trat noch einmal an das Totenbett, ergriff die kalte Hand seiner Braut und drückte einen Kuß darauf; dann beugte er sich über sie und küßte sie auf die Stirn. Darauf ging er fort, indem er sich noch einmal wehmütig nach der Toten umsah.

Ich verließ ihn, nachdem er sich in das Wohnzimmer begeben hatte, und teilte Van Helsing mit, daß er nun Abschied genommen habe. Dieser ging nun in die Küche und forderte das Personal des Begräbnisunternehmers auf, ihre Arbeit aufzunehmen und den Sarg zuzuschrauben. Als er wieder zurück kam, erzählte ich ihm von Arthurs Bedenken, und er entgegnete:

»Das wundert mich gar nicht. Gerade im Augenblick hätte ich beinahe selbst gezweifelt.«

Wir speisten alle zusammen und ich bemerkte, daß Arthur sich Mühe gab, gefaßt zu erscheinen. Van Helsing war das ganze Diner über äußerst schweigsam gewesen, als wir aber unsere Zigarren angezündet hatte, sagte er:

»Lord – – –« aber Arthur unterbrach ihn:

»Nein, nein; nicht so, um Gottes Willen! Jetzt noch nicht! Um keinen Preis! Verzeihen Sie, Herr Professor, ich habe zu heftig gesprochen; aber mein Verlust ist eben noch zu neu.«

Der Professor erwiderte sehr freundlich:

»Ich gebrauchte den Titel nur, weil ich im Zweifel war. Ich werde Sie nicht mehr ›Lord‹ nennen, denn ich habe Sie lieben gelernt – ja, wirklich lieben – als Arthur.«

Arthur hielt seine Hand hin und drückte die des alten Mannes.

»Nennen Sie mich, wie Sie wollen«, sagte er. »Ich hoffe, Sie werden mich immer als Freund bezeichnen. Und lassen Sie mich noch sagen, daß mir die Worte fehlen, um Ihnen meinen Dank zum Ausdruck zu bringen für all das, was Sie meiner lieben Lucy Gutes getan haben.« Er schwieg einen Augenblick und fuhr fort: »Ich weiß, daß sie Ihre Güte noch besser verstand als ich; und wenn ich aufbrauste oder aufbrausen wollte, damals wie Sie so an mir handelten, Sie wissen, was ich meine« – der Professor nickte – »so müssen Sie mir verzeihen.«

Van Helsing antwortete mit gütigem Ernst.

»Ich weiß wohl, es war hart für Sie, damals den Glauben an mich nicht zu verlieren; denn wenn man in einem solchen Fall glauben soll, möchte man vorher auch die Gründe wissen. Ich nehme auch jetzt an, daß Sie mir nicht vertrauen – nicht vertrauen können, denn Sie verstehen mich noch nicht. Es werden auch fernerhin Zeiten kommen, wo ich von Ihnen Vertrauen fordern muß, auch wenn Sie nicht können, nicht wollen und mich nicht begreifen werden. Aber dann wird der Tag kommen, da Sie mir voll und ganz vertrauen, wo Sie alles klar erkennen werden, als schiene Ihnen die Sonne nach langer Nacht. Dann werden Sie mich für alles segnen, was ich tat um Ihretwillen, um der Anderen und um deren willen, die Sie geliebt haben und der ich schwor, sie zu retten.«

»Und ich werde Ihnen unbegrenztes Vertrauen entgegenbringen, Herr Professor«, sagte Arthur mit Wärme. »Ich weiß es und glaube es, daß Sie ein edles Herz haben. Sie sind Jacks Freund und waren auch der ihre. Tun Sie, was Sie für nötig halten.«

Der Professor räusperte sich ein paar Mal, als wolle er eine Rede halten, und sagte schließlich:

»Darf ich Sie jetzt etwas fragen?«

»Gewiß.«

»Sie wissen, daß Frau Westenraa Ihnen ihr ganzes Eigentum vermacht hat?«

»Nein, daran hätte ich nie gedacht, die Gute!«

»Da nun alles Ihnen gehört, haben Sie das Recht, nach Ihrem Gutdünken darüber zu verfügen. Ich bitte um die Erlaubnis, alle Briefe und Papiere Lucys lesen zu dürfen. Glauben Sie mir, es ist nicht Neugierde, was mich zu dieser Bitte veranlaßt. Ich habe meine Gründe, die auch Lucy, wenn sie noch lebte, gern anerkennen würde. Ich habe alles hier. Ich nahm es an mich, ehe ich wußte, daß es Ihr Eigentum sei, damit keine fremde Hand es berühre, kein fremdes Auge die Geheimnisse von Lucys Seele schaue. Ich werde die Papiere bei mir behalten, wenn ich darf. Auch Sie sollen vorerst keinen Einblick nehmen, aber ich werde sie sicher aufbewahren. Wir wollen kein Wort darüber verlieren, und wenn dann bessere Zeiten kommen, geben ich Ihnen alles zurück. Es ist etwas Schweres, was ich da von Ihnen fordern muß; wollen Sie es mir um Lucys willen gewähren?«

Arthur rief herzlich, als sei seine alte Spannkraft wieder zurückgekehrt:

»Dr. Van Helsing, Sie können tun, was Sie wollen. Ich weiß, daß ich, indem ich dies sage, nur den Willen der teuren Toten zum Ausdruck bringe. Ich werde Sie nicht mit Fragen belästigen und mich gedulden, bis die Zeit da ist.«

Der Professor stand auf und sagte feierlich:

»Sie tun recht daran. Wir werden alle noch viel Leid zu ertragen haben. Wir und Sie – Sie am meisten – müssen durch bittere Wasser, ehe wir zu den süßen kommen. Aber wenn wir tapferen Herzens sind und selbstlos, und wenn wir unsere Schuldigkeit tun, dann wird alles gut werden!«

Ich schlief heute Nacht auf einem Sofa in Arthurs Zimmer. Van Helsing ging überhaupt nicht schlafen. Er ging ab und zu und ließ das Zimmer, in dem Lucy in ihrem Sarge schlummerte, nicht aus den Augen. Rings um die Bahre lag wilder Knoblauch verstreut, der durch den milden Duft der Lilien und Rosen hindurch einen schweren betäubenden Geruch in die stille Nacht hinaussandte.

 

Mina Harkers Tagebuch.

22. September. – Im Zuge nach Exeter. Jonathan schläft.

Mir ist, als sei es gestern erst gewesen, daß ich meinen letzten Eintrag gemacht habe; und doch, was liegt alles zwischen damals und heute! Es war in Whitby, und die ganze Welt lag noch vor mir; Jonathan war in weiter Ferne und ich hatte keine Nachrichten von ihm. Und nun bin ich mit Jonathan verheiratet, er ist Anwalt, reich, Chef seines Geschäftes, Herr Hawkins tot und begraben. Jonathan ist neuerdings leidend. Eines Tages wird er mich doch wohl fragen. Ich habe das Stenographieren beinahe verlernt – seltsam, daß unerwartetes Glück uns so beeinflußt –, ich werde mir wieder Übung verschaffen müssen.

Die Trauerfeier war einfach, aber sehr erhebend. Anwesend waren nur wir, die Dienerschaft, einige seiner alten Freunde aus Exeter, sein Londoner Vertreter und ein Herr, der in Vertretung des Herrn John Paxton, des Präsidenten des Juristenverbandes, erschienen war. Jonathan und ich standen Hand in Hand, und wir empfanden, daß unser bester und treuester Freund von uns gegangen war.

Wir kehrten schweigend zur Stadt zurück und bestiegen den Omnibus nach Hyde Park Corner. Jonathan meinte, es könne mich interessieren, die Promenade zu besuchen, und so ließen wir uns ein wenig nieder. Aber es waren nur wenige Leute dort, und die vielen leeren Stühle machten einen trostlos langweiligen Eindruck auf mich. Wir mußten an den leeren Stuhl denken, der nun zu Hause unser wartete. Wir standen auf und wandelten Picadilly hinunter. Jonathan hatte sich in meinen Arm eingehängt, wie er es immer getan hatte, ehe ich Lehrerin wurde. Ich fand es etwas unpassend, denn man hat nicht jahrelang junge Mädchen in guter Sitte und Etikette unterrichtet, ohne daß die pedantische Beschäftigung auf einen einwirkte. Aber schließlich war es Jonathan, war es mein Mann, und außerdem war ja niemand in der Nähe, der uns gekannt hätte – es wäre uns auch ganz gleichgültig gewesen –, und so zogen wir unseres Weges. Ich betrachtete gerade ein wunderschönes Mädchen mit einem mächtigen Rembrandthut, das in einem Viktoria vor Giulianos Laden wartete, als Jonathan meinen Arm drückte, daß es mich schmerzte, und halb erstickt rief: »Mein Gott!« Ich bin immer in Sorge um Jonathan, denn ich fürchte, daß irgend ein Zufall wieder seine Nerven beunruhigen könnte. Ich wandte mich rasch ihm zu und fragte ihn, was denn geschehen sei.

Er war ganz bleich, und seine Augen traten fast aus ihren Höhlen, wie er, halb erstaunt, halb entsetzt, auf einen großen, mageren Mann mit einer Adlernase, weißem Schnurrbart und spitzem Kinn hinstarrte, der gleichfalls das schöne Mädchen beobachtete. Er sah so gespannt nach ihr hin, daß er uns beide nicht bemerkte, und so konnte ich ihn genau ins Auge fassen. Er hatte kein gutes Gesicht; es war hart, grausam und sinnlich, und seine weißen Zähne, die gegen die roten Lippen auffallend abstachen, waren spitzig wie die eines Raubtieres. Jonathan starrte ihn noch immer an, so daß ich befürchtete, der Fremde könne es bemerken. Ich fürchtete auch, er könne es unter Umständen meinem Manne verübeln, denn er sah böse und mürrisch aus. Ich fragte Jonathan, warum er so verstört sei, und er antwortete, offenbar in der Meinung, daß ich so viel wüßte wie er: »Weißt Du, wer es ist?«

»Nein, Liebster«, erwiderte ich, »ich kenne ihn nicht; wer ist es denn?« Seine Antwort erschreckte und durchschauerte mich, denn es war gerade, als ob er nicht zu mir, seiner Frau, spräche:

»Er ist es selbst!«

Jonathan war scheinbar über etwas entsetzt – furchtbar entsetzt; ich glaube, wenn ich nicht neben ihm gestanden und ihn gestützt hätte, er wäre umgesunken. Er hielt den Blick unverwandt auf den Fremden gerichtet. Ein Mann kam mit einem zierlichen Paket aus dem Laden; er gab es der Dame, die dann weiterfuhr. Der unheimliche Fremdling ließ sie nicht aus den Augen, und als das Fahrzeug Picadilly hinauffuhr, rief er eine Droschke herbei und folgte in der gleichen Richtung. Jonathan sah lange hinter ihm drein und sagte wie im Selbstgespräch:

»Ich glaube, es ist der Graf, aber er ist jünger geworden. Entsetzlich, wenn das wirklich so wäre! O mein Gott, o mein Gott! Wenn ich nur wüßte, wenn ich nur wüßte!« Er war in tiefster Erregung; ich fürchtete, durch eine Frage ihn noch länger an den Gegenstand zu fesseln, und schwieg deshalb. Ich zog ihn ruhig fort, und er folgte mir willig, indem er meinen Arm ergriff. Wir gingen weiter und kamen in den Green Park, wo wir uns ausruhen wollten. Es war ein warmer Herbsttag, und wir fanden eine hübsche Bank an einem schattigen Plätzchen. Einige Minuten starrte Jonathan ins Leere, dann schlossen sich seine Augen und er versank in einen ruhigen Schlummer, sein Haupt an meine Schulter gelehnt. Ich dachte mir, das sei das Beste für ihn, und störte ihn nicht. Nach etwa zwanzig Minuten wachte er auf und sagte heiter:

»Mina, ich habe wohl geschlafen? Entschuldige die Ungezogenheit. Komm, wir wollen irgendwo ein Glas Tee trinken.« Er hatte offenbar den finsteren Fremdling vollkommen vergessen. Mir gefällt dieses Versinken in Vergessenheit nicht recht; vielleicht könnte es dem Gehirn Schaden zufügen. Ich werde ihn nicht fragen, weil ich fürchte, ich könne damit mehr verderben als gut machen; aber ich muß irgendwie die Erlebnisse auf seiner Reise erfahren. Ich fürchte, die Zeit ist gekommen, daß ich das Paket öffnen und seinen Inhalt durchforschen muß. Jonathan, du wirst mir verzeihen, wenn es etwas Unrechtes ist, das ich zu tun im Begriff stehe, ich weiß es; aber es geschieht ja nur um deinetwillen, Geliebter.

Später. – Eine traurige Heimkehr in jeder Hinsicht. Im Hause fehlte die treue Seele, die so gut gegen uns war; Jonathan bleich und verstört unter dem Einfluß eines leichten Rückfalles, und nun ein Telegramm von einem Van Helsing; wer es ist, weiß ich nicht:

»Ich gestatte mir, Ihnen die traurige Mitteilung zu machen, daß Frau Westenraa vor fünf Tagen, Fräulein Lucy vorgestern gestorben ist. Beide sind heute beerdigt worden.«

O, welch eine Fülle von Elend in so wenigen Worten! Arme Frau Westenraa! Arme Lucy! Fort sind sie, fort, und werden niemals mehr zu uns zurückkehren! Und der arme Arthur, der das Süßeste aus seinem Leben verloren hat! Gott helfe uns allen, unser Leid geduldig tragen.

 

Dr. Sewards Tagebuch.

22. September. – Alles ist vorüber. Arthur ist fort und hat Quincey Morris mitgenommen. Was für ein prächtiger Mensch dieser Morris ist! Ich bin der felsenfesten Überzeugung, daß er über Lucys Tod ebensoviel Schmerz empfand als irgend einer von uns; aber er bezwang stolz sein Leid, wie ein Wikinger die Wogen des Meeres. Wenn Amerika fortfährt, solche Männer zu erzeugen, wie er ist, dann wird es einst eine Weltmacht darstellen. Van Helsing schläft unten und ruht sich für seine Reise aus. Er fährt heute Nacht noch nach Amsterdam, hat aber versprochen, morgen Abend wiederzukommen; er hat nur einiges zu besorgen, was er persönlich erledigen muß. Wenn es möglich ist, will er dann bei mir bleiben; er sagt, er habe in London eine Aufgabe zu erfüllen, die ihn längere Zeit in Anspruch nehmen werde. Armer alter Mann! Ich glaube, die Erregungen der letzten Wochen haben seine eiserne Kraft gebrochen. Während des ganzen Begräbnisses legte er sich, wie ich sehen konnte, äußerste Zurückhaltung auf. Als die Zeremonie beendet war, standen wir alle bei Arthur, der von seinem Anteil sprach an der Operation, in der man sein Blut in Lucys Adern geleitet hatte. Ich bemerkte, daß Van Helsings Gesicht abwechselnd blaß und rot wurde. Arthur sagte, er habe das Gefühl gehabt, als sei er seitdem mit Lucy verheiratet und sie vor Gott sein Weib gewesen sei. Keiner von uns ließ ein Wort über die anderen Operationen verlauten und es wird auch niemals geschehen. Arthur und Quincey fingen miteinander auf den Bahnhof, während ich mich mit Van Helsing hierher begab. Kaum waren wir allein im Wagen, als er einem regulären hysterischen Anfall unterlag. Er hat ja unterdessen bestritten, daß es ein hysterischer Anfall war, und behauptete steif und fest, es sei lediglich seine humoristische Veranlagung gewesen, die auf einmal mitten in diesen Schrecken hervorbrach. Er lachte und weinte, und ich mußte die Vorhänge zuziehen, damit uns niemand in diesem Zustande sehe. Dann weinte er, bis er wieder lachen mußte; und schließlich lachte und weinte er auf einmal, gerade wie es eine hysterische Frau macht. Ich behandelte ihn streng, wie man es bei einer Frau unter solchen Umständen tut; aber es war umsonst. Männer und Frauen sind so sehr verschieden in den Äußerungen nervöser Stärke oder Schwäche! Als sein Gesicht dann wieder ruhig und ernst wurde, fragte ich ihn, woher diese Heiterkeit komme und gerade zu dieser Zeit. Seine Antwort war durchaus charakteristisch, denn sie war logisch, treffend und geheimnisvoll. Er sagte:

»Aha, Sie verstehen nicht, Freund John. Glauben Sie ja nicht, ich sei nicht traurig, weil ich lache. Sehen Sie, ich habe geweint, während es mich vor Lachen schüttelte. Noch weniger aber dürfen Sie glauben, daß ich traurig bin, wenn ich weine, denn ich lache ja zu gleicher Zeit. Glauben Sie mir, das Lachen, das erst bescheiden an die Tür klopft und fragt: ›Darf ich herein?‹ ist nicht das richtige Lachen. Nein, es kommt wie ein König, wann und wie es will. Es fragt nicht nach der Person, es kümmert sich nicht, ob es zu geeigneter Zeit kommt. Es sagt einfach: Da bin ich. Sehen Sie zum Beispiel hier: ich gräme mich fast tot um das gute, süße Mädchen; ich gäbe mein Blut für sie, trotzdem ich alt und verbraucht bin; ich opfere meine Zeit, mein Können, meinen Schlaf; ich lasse meine anderen Patienten nach mir schmachten, damit nur sie mich nicht vermisse. Und doch kann ich lachen just an ihrem Grabe, wie die Schollen vom Spaten des Totengräbers mit dumpfem Klang auf ihren Sarg poltern, daß es mir das Herz im Leibe zusammenzieht und die Wangen bleich werden. Und um Arthur blutet mein Herz; um den guten Jungen, der mit dem meinen, wenn er noch lebte, gleichalterig wäre und der die gleichen Augen, die gleichen Haare hatte. Nun wissen Sie also auch, warum ich ihn so gern habe. Und wenn er Dinge sagt, die mein Vaterherz bis zum äußersten rühren und mich zu ihm hinziehen wie zu keinem anderen Menschen, selbst Sie nicht ausgenommen, Freund John, denn wir stehen uns durch unsere gemeinschaftlichen Erfahrungen näher als Vater und Sohn – selbst dann kommt das Lachen wie ein König zu mir und schreit und brüllt in mein Ohr: Da bin ich! Da bin ich!, so daß das Blut wieder zurückkehrt und etwas Sonnenschein auf meine Wangen zaubert. O, Freund John, es ist eine seltsame Welt, eine traurige Welt, eine Welt voll Elend, Weh und Sorgen. Und doch, wenn das Lachen kommt, dann tanzen alle nach seiner Melodie: blutende Herzen, bleichende Totenbeine und Tränen, die brennend heiß herniederrinnen – alles tanzt nach der Melodie, die es mit seinem freudlosen Munde aufspielt. Glauben Sie mir, Freund John, es ist gut und freundlich, wenn es sich uns nähert. Ach, wir Männer und Frauen sind wie Seile, die mit großer Gewalt hin und her gerissen werden. Dann kommen die Tränen, und wie der Regen die Seile, so spannen sie uns an, bis vielleicht die Beanspruchung zu groß wird und wir reißen. Aber das Lachen kommt wie der Sonnenschein, die Spannung läßt wieder nach und wir sind von neuem imstande, an unsere Arbeit zu gehen, was es auch sei.«

Ich wollte ihn nicht verletzen, indem ich ihm eingestand, daß mir der Sinn seiner Worte nicht klar sei. Schließlich aber konnte ich mich doch nicht mehr enthalten zu fragen, was sein Lachen zu bedeuten habe. Als er mir antwortete, wurde sein Gesicht ernst, und er sagte in ganz verändertem Tone:

»Ach, es war nur die grausame Ironie, die in dem allen lag – das liebliche Mädchen, das, mit Blumen geschmückt, so blühend aussah wie im Leben, daß einer nach dem anderen seine Zweifel äußerte, ob sie denn wirklich tot sei. Sie lag in dem schönen Marmorhause da draußen auf dem einsamen Friedhofe, wo schon so viele ihres Geschlechtes ruhen, lag dort mit ihrer Mutter, die sie liebte und die von ihr geliebt wurde, und die Totenglocke sang so traurig und leise. Und jene heiligen Männer mit den Engelgewändern, die scheinbar aus den Büchern vorlasen und doch keinen Augenblick auf die Blätter sahen, und wir alle tief gebeugt. Und warum das alles? Sie ist tot. Also!? Oder ist sie es vielleicht nicht?«

»Ja, aber um des Himmels willen, Herr Professor«, sagte ich, »ich kann da nicht das geringste Lächerliche finden. Ihre Erklärung macht mir die Sache noch verworrener. Ich will meinetwegen zugeben, daß die Zeremonien etwas Komisches an sich gehabt haben können, aber doch nicht Arthur mit seinem Schmerz? Sein Herz war doch, weiß Gott, nahe am Brechen.«

»So ist es. Sagte er nicht auch, daß die Bluttransfusion sie zu seinem Weibe gemacht habe?«

»Gewiß, es mag süß und tröstlich für ihn gewesen sein.«

»Ganz recht. Aber darin liegt ja eben die Schwierigkeit. Wenn es wirklich so ist, was ist dann mit den Anderen? Hahaha! Dann ist also das liebe Mädchen in Vielehe gestorben, und ich, dessen Weib schon lange tot, nach der Lehre meiner Kirche aber noch für mich lebendig ist und dem ich immer noch die Treue halte, ich bin Bigamist.«

»Ich begreife nicht, wie Sie auf diese Scherze kommen!« sagte ich, und es war mir nicht sonderlich sympathisch, daß er solche Dinge redete. Er legte mir die Hand auf den Arm und sagte:

»Freund John, verzeihen Sie, wenn ich Ihnen wehe tue. Ich würde meine Gefühle niemand offenbaren, wenn es ihn verletzen würde; aber Ihnen offenbare ich mich, weil ich Ihnen trauen kann. Ich wollte, Sie hätten in mein innerstes Herz schauen können, wenn ich lachen muß, und dann, wie das Lachen wirklich kam, und schließlich, wie das Lachen sein Bündel schnürte, denn es geht weit fort von mir und auf lange, lange Zeit. Dann würden Sie mich vielleicht am meisten bedauern.«

Ich war betroffen von der Weichheit in seinen Worten und fragte nach deren Grund.

»Weil ich weiß

Nun sind wir in alle Winde zerstreut, und an so manchen langen Tagen wird die Einsamkeit mit gefalteten Schwingen brütend auf unserem Dache sitzen. Lucy liegt in der Gruft ihrer Ahnen, einer herrschaftlichen Grabstätte draußen auf dem stillen, einsamen Friedhofe, weit ab von dem Getriebe Londons, wo noch frische Lüfte wehen und die Sonne über Hampstead Hill heraufsteigt und wilde Blumen blühen.

So kann ich also mein Tagebuch beschließen; Gott allein weiß, ob ich je ein neues beginnen werde. Wenn dies geschehen sollte oder wenn ich dieses fortsetze, so wird es sich um andere Dinge handeln. Es werden andere Personen auftreten; aber hier am Ende, wo der Roman meines Lebens fertig erzählt ist, sage ich, ehe ich wieder an meine Lebensaufgabe gehe, traurig und ohne Hoffnung: Finis.

 

»The Westminster Gazette« 25. September.
Das Geheimnis von Hamstead.

In der Nachbarschaft von Hampstead spielt sich gegenwärtig eine Reihe von Ereignissen ab, die eine auffallende Ähnlichkeit haben mit denen, die den Anlaß zu den Leitartikeln »Der Schrecken von Kensington«, »Die Frau mit dem Dolche« oder »Die Dame in Schwarz« gaben. Während der letzten zwei oder drei Tage ist es mehrfach vorgekommen, daß kleine Kinder von Hause fortliefen oder nicht von ihren Spielplätzen auf der Heide zurückkehrten. In allen Fällen waren die Kinder zu klein, um wirklich zuverlässige Gründe angeben zu können, aber darin stimmen alle ihre Entschuldigungen überein, daß sie mit einer »blutigen Dame« gespielt hätten. Es war immer spät abends, als man sie vermißte, und in zwei Fällen sind die Kinder erst am nächsten Morgen früh gefunden worden. Man vermutet in der Nachbarschaft, daß, als das erste vermißte Kind als Ursache seines Ausbleibens angab, eine »blutige Dame« habe es zu einem Spaziergang mitgenommen, die andern diese Entschuldigung aufgriffen und auch bei passender Gelegenheit vorbrachten. Das ist umso einleuchtender, als jetzt ein Lieblingsspiel der Kleinen ist, daß eines das andere durch verschiedene Listen beiseite lockt. Ein Korrespondent schreibt uns, daß es äußerst drollig sei, zu sehen, wie die winzigen Knirpse sich als »blutige Dame« ausgeben. Er sagt, manche unserer Karrikaturenzeichner könnten hier wirklich Studien machen. Es ist verständlich, daß die »blutige Dame« in diesen Spielen die Hauptrolle spielt.

Möglicherweise hat die Sache aber auch ihre ernsten Seiten, denn einige der Kinder, besonders die, welche bei Nacht gefehlt haben, sind an der Kehle leicht verletzt. Die Wunden sehen aus, als seien sie von einer Ratte oder einem kleinen Hunde erzeugt, und wenn sie auch im Einzelfall nicht gerade von Bedeutung erscheinen, so zeigen sie doch, daß das Tier – gleichviel, was für eines – von dem die Wunden herrühren, seine ganz besondere Methode hat. Die Polizei jener Gegend ist dahin instruiert worden, daß sie ihr Augenmerk auf umherirrende Kinder, besonders wenn sie sehr jung sind, und auf Hunde, die in der Nähe von Hampstead Heath herumlaufen, zu richten habe.

 

»The Westminster Gazette«.
25. September.
Extrablatt.

Der Schrecken von Hampstead.

Wieder ein Kind verletzt.
Die »blutige Dame«.

Soeben erhielten wir Nachricht, daß wieder ein Kind, das letzte Nacht vermißt wurde, erst heute Morgen spät unter einem Stechginsterbusch in der Nähe des Kugelfanges, dem weniger besuchten Teil der Hampsteader Heide, gefunden worden ist. Es hat dieselben kleinen Wunden an der Kehle, die schon in mehreren vorhergehenden Fällen konstatiert wurden. Es ist entsetzlich schwach und sah ganz abgezehrt aus. Als es einigermaßen wiederhergestellt war, wußte es auch nichts weiter zu erzählen als die Geschichte von der »blutigen Dame«, die es zu sich gelockt habe.


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