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XV.

Josts Befinden hatte sich nur wenig gebessert. Den größten Teil des Tages mußte er auf Anraten des Arztes im Bette verbringen. Ruhe und möglichst reichliche und kräftige Nahrung waren die Mittel, die man ihm verordnete.

Frau Jost hatte ihre liebe Not. Sie fand gar keine Zeit mehr, an sich selber zu denken. Die vielen Kinder und ein kranker Mann, der nicht dazu imstande war, einen Pfennig zu verdienen, und dazu noch die Anforderungen, welche die Behandlung der schleichenden Krankheit an ihre Körperkräfte und an den Geldbeutel stellte! Zwar zahlte der Verleger des »Echo« das kärgliche Gehalt, das Jost all sein Lebtag von ihm bezogen hatte, weiter, da sich Binz in rührender Freundschaft dazu entschloß, die Geschäfte der Redaktion ohne jegliche Entschädigung während der Dauer von Josts Arbeitsunfähigkeit zu versehen. Täglich erschien er bei dem Kranken und ließ sich von ihm für den Inhalt der Zeitung wichtige Informationen geben.

Aber der mit so viel Sensation angekündigte Artikel über die Machenschaften des Stadtverordneten Paul Baumann war immer noch nicht erschienen. Jost selber hatte nicht mehr die Kraft gefunden, ihn zu schreiben, und er fürchtete, daß diese Enthüllungen, von einem anderen als ihm selber vorgetragen, leicht die gewünschte Wirkung verfehlen könnten. Er hatte es sich eben in den Kopf gesetzt, diese Anklage selber abzufassen und mit seinem vollen Namen zu unterzeichnen und so dem tödlichen Pfeil, den er in letzter Stunde gegen seinen Gegner abschießen wollte, seine unbedingte Treffsicherheit zu gewährleisten. Von Winzer hatte man nichts wieder gesehen noch gehört. Der abenteuerliche Genosse und einstige Angestellte der Concordia mochte wohl in irgendeiner anderen Stadt nach einem geeigneten Posten fahnden.

So kam der Tag heran, an dem die Entscheidung über die Bahnhofsfrage auf dem Programm der Stadtverordnetenversammlung stand. Jost ging es wieder schlechter, so daß Binz gar nicht mehr wagte, ihn länger, als das unbedingt notwendig war, in Anspruch zu nehmen. Er schlummerte viel, und seine zunehmende Schwäche machte den Arzt stutzig. Fast hatte es den Anschein, als ob die Lebenskraft dieses siechen Körpers langsam am Verlöschen sei.

Kein Wunder also, daß Frau Jost nicht den Mut gefunden, ihrem Mann reinen Wein einzuschenken und ihm etwas von Pauls Besuche zu erzählen. Wie unter einem Damoklesschwerte ging die arme Frau einher und manchmal mußte sie denken: »O, wenn doch erst alles vorüber wäre, damit ich den Kindern und mir eine neue Existenz gründen könnte!«

Schon lange hatte Jost die Zeitungen nur noch flüchtig durchgesehen. Er war so müde und das Lesen im Bette bereitete ihm Pein. Im Grunde genommen hatte er nun seit etwa vierzehn Tagen nur noch wenig Ahnung davon, was draußen in der Stadt vor sich ging, und fast wollte es scheinen, als ob er infolge seiner Krankheit auch das Interesse an allen öffentlichen und politischen Fragen verloren habe. Und dennoch, eines Nachmittags gegen fünf Uhr, gewahrte Frau Jost zu ihrem Schrecken, wie sich ihr Mann an seinem Kleiderschranke zu schaffen machte.

Sie war gerade in das Zimmer getreten, um ihm wie gewöhnlich seinen Nachmittagstee und ein mit rohem Fleisch bestrichenes Brötchen ans Bett zu bringen, als er in den Unterkleidern vor der offenstehenden Schranktür stand und seinen schwarzen Anzug heraussuchte.

»Was hast du vor, Jost?« fragte sie mit zitternder Stimme. »Du willst doch nicht etwa ausgehen bei diesem Wetter und nachdem du wochenlang das Zimmer gehütet hast? Das wäre dein Tod, Jost, wenn du jetzt ausgingest.«

Zunächst erwiderte er kein Wort. Von seinem Nachtschränkchen nahm er eine Karte und reichte ihr diese.

Sie las:

 

Einladung zur Sitzung der Stadtverordneten.

Tagesordnung:

Entscheidung über die Wahl eines geeigneten Bauplatzes für den neuen Hauptpersonenbahnhof.

»Du wirst mir eine Droschke holen lassen, und ich werde in das Rathaus fahren«, sagte er dann mit tonloser Stimme.

»Jost!« Wie ein Schrei der Verzweiflung kam sein Name von ihren Lippen. »Du wirst dir den Tod holen, Jost!«

»Das schadet nichts«, beharrte er nun in eisiger Ruhe. »Ich werde dort meine letzte Rede halten. Die Rede gegen diesen Baumann, die diesen Volksbeglücker entlarven und vernichten wird! Und wenn ich diese gehalten habe, dann ist alles einerlei!«

»Ich werde dir keine Droschke holen lassen, und du wirst zu Hause bleiben«, erwiderte die kleine Frau voll Energie. »Für dich und für uns ist es ganz gleichgültig, wohin sie den neuen Bahnhof bauen, und dein Leben ist wichtiger als die Vernichtung Baumanns, der nun einmal dein politischer Gegner ist.«

Voll inniger Liebe und tiefer Rührung sah er sie an.

»Das Leben geht zu Ende, Frau«, kam es nun von seinen Lippen, »und ich danke dir, daß du so lange bei mir ausgehalten und so viel an mir und den Kindern getan hast. Gut hast du es, weiß Gott, nicht gehabt! Und auch die letzte Stunde dieses entfliehenden Lebens gehört nicht einmal dir. Auch um die muß ich dich bringen, wie ich dir so viele im Dienste meiner Sache gestohlen habe. Verzeih! Wenn du mir denn keine Droschke holen lassen willst, dann werde ich versuchen, wie ich mich zu Fuß in das Rathaus schleppe.«

Sie zitterte. Tränen rannen über ihre Wangen. Kein Wort des Widerspruches brachte sie über die Lippen, und dennoch hätte sie diesem Manne, der, das wußte sie, den letzten Funken seines erlöschenden Lebens heute in den Dienst seiner Sache zu stellen entschlossen war, alles sagen wollen, hätte ihn warnen mögen vor der Rache Paul Baumanns. Aber sie fühlte, diese Rache würde sie und die Kinder allein treffen, und plötzlich versagte ihr der Mut, ihn um diesen letzten Triumph seines Lebens zu bringen, mochten dessen Konsequenzen auch für sie und die Kinder die traurigsten sein.

»Ich werde dir die Droschke holen lassen, Jost, wenn es dein Wunsch ist«, sagte sie einfach.

Da küßte er sie.

Es war ein kalter Kuß, den seine bleichen Lippen auf ihre Stirn drückten, und es kam ihr vor, als wenn ihr Körper eben einen Hauch von jenseits des Grabes verspürt hätte.

Und nun war sie ihm selber behilflich, die schwarzen Kleider anzulegen. Zärtlich wie eine liebende junge Frau bediente sie ihn. Sie konnte das Gefühl nicht los werden, daß dies der letzte Dienst sei, den sie ihm zu leisten hatte, sie war der Überzeugung, daß sie ihn lebend nicht wieder sehen würde, und so tat sie ihm denn seinen Willen, ganz wie man einem Sterbenden seinen letzten Wunsch erfüllt.

»Ich werde Binz benachrichtigen, damit er dich begleitet«, sagte sie nach einer Weile, »und von den Kindern solltest du dich verabschieden, Jost«, fügte sie nun schluchzend hinzu.

»Du hast recht, laß sie hereinkommen, ehe ich gehe.«

»Bertha ist im Geschäft. Aber die anderen, die Kleinen. Otto ist ja noch in der Schule. Aber die Kleinen, Jost.«

Lautlos verschwand sie und holte die Kinder.

Es waren ihrer acht, die noch zu Hause waren. Sie schlichen sich auf den Zehen zu dem Vater. In all den Wochen seiner Krankheit war es ihnen verboten worden, zu lachen und zu lärmen. Einem jeden drückte Jost einen Kuß auf die Stirn. Lange lag seine abgemagerte Hand, deren Adern blau und stark hervortraten, auf dem blonden Scheitel des Jüngsten.

»Macht der Mutter Freude!«

Dann winkte er den Kindern hinauszugehen. Er wollte in dieser Stunde nicht schwach werden, wo er noch einmal den Rest seiner letzten Kräfte so nötig hatte.

»Benachrichtige Binz, daß er in die Sitzung kommt. Vielleicht wird es gut sein, wenn er dort anwesend sein wird. Mit der Droschke werde ich schon noch allein hinkommen.«

Eine Weile schwieg er. Dann begann er wieder:

»Es war doch eine schöne, wenn auch schwere Zeit, die Jahre, die wir das Leben zusammen getragen haben, Frau, nicht wahr?«

Sie war nicht dazu imstande eine Antwort zu geben, und er sah nach der Uhr.

»Ja, es ist Zeit. Die Sitzung hat schon ihren Anfang genommen.«

Wortlos entfernte sie sich.

Und er kramte noch einmal in seinen Papieren, in dem Haufen von Zeitungen, die alle die Artikel seiner fleißigen Feder enthielten. Mit ihr hatte er rastlos der Sache seiner Partei gedient und unermüdlich seine Frau und seine Kinder erhalten. Jahrzehnte war es so gewesen, schlecht und recht, und nun fühlte er mit einem Schlage, er war am Ende seiner Kraft, das Räderwerk seiner Uhr hatte sich vor der Zeit abgenutzt, es war beinahe abgelaufen.

Schweigend umarmte er noch einmal seine Frau, die wieder eintrat und ihm sagte, daß die Droschke unten halte und daß sie nun bei Binz vorbeigehen wolle.

Dann wankte er die Treppen hinunter, ein Schlaftrunkener, ein fast schon Sterbender, dessen noch einmal erwachte Energie nur noch das eine Ziel kannte, der Wahrheit einen letzten Dienst mit Aufopferung seines Lebens zu erweisen.

Und gleichfalls wie eine Nachtwandlerin ging Frau Jost, nachdem die Droschke mit ihrem Manne davon gefahren, ihre Straße, zuerst auf die Redaktion des »Echo« zu Binz, und dann …

Mit Binz war sie rasch fertig. Sie log ihm vor, daß Jost sich wohler gefühlt und in letzter Minute entschlossen habe, an der entscheidenden Sitzung teilzunehmen. Sie bat ihn, sich auch dorthin zu begeben, und falls ihr Mann von einem Unwohlsein betroffen werden sollte, diesem beizuspringen, was der Freund ihr auch zusagte. Und dann schritt sie, als ob ihr Fuß sie schicksalssicher gar keine andere Straße zu führen vermöchte, zu Frau Agathe in das alte Haus am Ritterwall.

Freundlich wie damals vor nahezu drei Jahren wurde sie auch heute von der Herrin dieses Hauses empfangen, in der altmodischen Stube, wo es immer so stark nach Kampfer und Lavendel roch.

»Ich habe ja lange nichts mehr von Ihnen gesehen und gehört, meine liebe Frau Doktor«, begann nun Agathe. »Wie geht es Ihrem lieben Manne? Hoffentlich wieder besser. Wie kann ich Ihnen dienen?«

»Meinem Manne geht es sehr schlecht, Frau Baumann«, erwiderte Frau Jost mit tonloser Stimme. »Der Arzt hat mir keinen Zweifel gelassen, die Tage seines Lebens sind gezählt, vielleicht sind es auch nur noch Stunden, über die er zu verfügen hat. Sie sind immer so herzensgut zu mir gewesen, obwohl ich das gar nicht verdient habe.«

Agathe wehrte wehmütig lächelnd ab, aber sie fuhr unbeirrt fort:

»Ja, ja, Frau Baumann, schon damals, als Sie mir es ermöglichten, meinen kranken Mann in dem Sanatorium unterzubringen, was ja leider nichts geholfen hat, und dann immer wieder in den letzten traurigen drei Jahren, wenn ich weder aus noch ein wußte und in Verlegenheit war. Und wenn es mir geglückt ist, das arme Leben meines Mannes bis zu dem heutigen Tage zu erhalten, dann habe ich das auch Ihrer Güte zu verdanken. Und nun komme ich schon wieder, wie ich glaube, mit meiner letzten aber dringenden Bitte.«

»Sie wissen, daß ich stets bereit bin, zu helfen, wo es in meinen Kräften steht«, erwiderte Agathe.

»Es ist ein paar Wochen her, Frau Baumann, da hatte ich eine sehr peinliche Auseinandersetzung mit Ihrem Herrn Gemahl.«

»Sie mit meinem Manne? Ich verstehe nicht, wie es zwischen Ihnen und meinem Manne zu einer Auseinandersetzung kommen konnte? Unsere Männer sind zwar politische Gegner, aber …«

»So wissen Sie vermutlich nicht, daß Ihr Herr Gemahl seit einigen Jahren der Eigentümer der Häuser in der Zeisigstraße ist, in deren einem wir schon so lange wohnen. Die Häuser gehörten der Firma Kahl und Ulrich, derselben, die den Neubau der Baumannschen Brotfabrik nach dem Brande ausgeführt hat, und aus welchem Grunde, ich weiß es nicht, sind die Häuser damals in den Besitz Herrn Baumanns übergegangen.«

»Sie müssen wissen, Frau Doktor, daß ich meine Gründe habe, mich um die Geschäfte meines Mannes nicht zu kümmern«, lautete Agathes Antwort. »Er läßt mir meine Freiheit und ich muß ihm die seine lassen, wie ich Ihnen, wenn ich nicht irre, schon einmal gesagt habe. Doch ich kann nicht begreifen, was der Umstand, daß mein Mann die Häuser in der Zeisigstraße vermutlich wegen einer späteren Erweiterung seiner Fabrik gekauft hat, mit der Bitte zu tun haben soll, die Sie jetzt zu mir führt?«

»Sie werden mich gleich verstehen, Frau Baumann. Ich habe den Verkauf dieser Häuser, den ich selber erst sehr spät erfuhr, meinem Manne verheimlicht. Wir konnten nicht ausziehen und ihn hätte es keine Nacht in einem Hause gehalten, das der Besitz seines politischen Gegners geworden war. Und es gelang mir, meinem Manne diese mich beängstigende Tatsache zu verbergen, da er den Kopf immer voll von seinen Geschäften hatte, und in den Jahren seiner Krankheit hielt ich natürlich jede Aufregung von ihm fern.«

»Warum nennen Sie das eine Sie beängstigende Tatsache?«

»Weil ich immer die Furcht hatte, daß meinem Manne einmal Gefahr von seiten unseres neuen Hauswirtes drohen könnte. Auch ich war, wie Sie vorhin sagten, anfangs der Meinung, daß Herr Baumann diese Häuser einmal zur Erweiterung seiner Fabrik nötig hätte. Aber der Neubau der Fabrik ist vollendet, und die Häuser in der Zeisigstraße sind stehen geblieben. Und heute weiß ich, daß Herr Baumann diese Häuser nur gekauft hat, um meinen Mann in seine Hände zu bekommen.«

»Was meinen Sie da? Sie sagen, daß mein Mann aus unedelen Motiven, um seines Gegners freie Meinung zu binden, diese Häuser an sich gebracht hat?«

»Es schmerzt mich, Ihnen wehe zu tun, Frau Baumann. Aber leider hat mir Ihr Herr Gemahl den Beweis dafür geliefert, daß ich recht habe. Wenn ich Sie nicht für die edelste Frau der Welt hielte, dann wäre ich heute nicht zu Ihnen gekommen, dann würde ich Ihnen nicht in einem Momente, da Sie mir helfen sollen, eine Wahrheit sagen, die die Hand einer weniger edlen Frau verschließen und vielleicht auch den Stolz dieser Frau verletzen könnte.«

»Sagen Sie mir alles, Frau Doktor!«

»Mein Mann lag auf den Tod darnieder. Ich kann sagen, auch heute noch kämpft er mit dem Tode, und ich glaube nicht, daß ich ihn lebend wiedersehen werde. Da betrat Herr Baumann unser Haus und verlangte meinen Mann zu sprechen. Wie der Arzt angeordnet, wehrte ich ihm wie jedem anderen den Zutritt, und nun wandte sich Herr Baumann an mich. Er machte mir gegenüber das Schweigen meines Mannes in Sachen der Bahnhofsfrage zur Bedingung, daß er uns wohnen ließe und nicht sofort auf die Straße setzte, denn, Frau Baumann, trotz allem, ich mußte Ihrem Mann dreimal die Miete schuldig bleiben und war der Meinung, daß mir Herr Baumann aus Mitleid und Menschenfreundlichkeit in schwerer Lage entgegengekommen war.«

»Sie können mir schwören, daß mein Mann Ihnen in Wahrheit diese Bedingung gestellt hat?«

Voll Entsetzen war diese Frage von Agathes Lippen gekommen.

»Das kann ich Ihnen schwören bei allen Wohltaten, die Sie mir schon erwiesen haben, Frau Baumann!«

»Und wissen Sie vielleicht auch, aus welchem Grunde mein Mann das Schweigen des Ihren in Sachen der Bahnhofsfrage für so wichtig hält, daß er es zur Bedingung macht, wenn er einen angesehenen Mann, der durch Krankheit und ohne sein Verschulden in Not geraten ist, nicht durch den Exekutor auf die Straße setzt? Wissen Sie das vielleicht auch, Frau Doktor?«

»Auch das weiß ich. Weil mein Mann Dinge in Erfahrung gebracht hat, durch einen Zufall und nicht in Absicht, die er nach seiner politischen Überzeugung nicht verschweigen darf, Dinge, die die großen Pläne des Herrn Baumann vernichten können. Mein Mann hat mir diese Tatsachen bald, nachdem er sie erfuhr, mitgeteilt, und ich habe ihn angefleht, sich und seine Familie nicht dadurch, daß er Herrn Baumann an den Pranger stellt, zu vernichten.«

»Sagen Sie mir alles!«

In festem Entschlusse war diese Aufforderung von Agathes Lippen gekommen, denn sie hatte das bestimmte Gefühl, daß diese Stunde die spät errungene Gemeinschaft mit ihrem Manne wahrscheinlich für immer zerstöre.

»Mein Mann war schon ein erbitterter Gegner des Projektes, dem die halbe Altstadt zum Opfer fiel, weniger aus künstlerischen Gründen, Frau Baumann, als deshalb, weil die Armen nach Abbruch der Häuser nicht so leicht billige Wohnungen in der teuren Stadt finden würden. Das Projekt drang durch trotz meines Mannes und seiner Parteigenossen Meinung, weil sich damals eine Berliner Terraingesellschaft erbot, binnen kurzem Arbeiterwohnungen zu errichten. Diese Terraingesellschaft hat nämlich bedeutendes Gelände im Westen für billiges Geld von Privaten an sich gebracht. Und nun …«

»Und nun?«

»Nun stellt sich heraus, daß diese Terraingesellschaft in Wirklichkeit gar nicht existiert und daß niemand anders als Herr Baumann hinter dieser Gesellschaft steckt. Ihm gehören die Terrains, in deren Mittelpunkt er den neuen Bahnhof durch seinen Einfluß zu bringen beabsichtigt, und die Forderung, daß mein Mann über sein Wissen Schweigen bewahrt, bis die Entscheidung gefallen ist, hat er mir gestellt. Sonst wird er mich samt meinen Kindern und meinem kranken Manne auf die Straße setzen. Ich habe nicht den Mut gefunden, meinem Manne diese furchtbare Wahrheit, daß mir Herr Baumann diese Bedingung gestellt hat und daß das Opfer seiner politischen Überzeugung das einzige Mittel unserer Rettung ist, zu unterbreiten. Dem Tode nahe ist mein Mann trotz allem in die Sitzung gefahren. Er wird sprechen, er wird diese Wahrheit an den Tag bringen und wir sind verloren! Man wird mir meine letzten Möbel pfänden. Wenn mein Mann noch lebt, wird er im Armenhause oder aber auf der Straße sterben, und ich werde betteln gehen, denn die Ersparnisse meines Mannes decken das, was ich Ihnen schulde, und die Miete nicht! Helfen Sie mir, Frau Baumann, und befreien Sie mich aus Herrn Baumanns Hand! Das ist das letzte Opfer, das ich durch Preisgabe der Wahrheit an Sie für meinen armen Mann bringen mußte.«

Frau Jost hatte gar nicht bemerkt, welch seltsame Veränderung in Agathes ganzem Wesen nach diesen Enthüllungen vor sich gegangen war.

»Welche Summe brauchen Sie, wie viel ist nötig, Frau Doktor, um Sie den Händen Baumanns zu entreißen?«

Jetzt fiel ihr auf, daß diese plötzlich »Baumann« anstatt »mein Mann« gesagt hatte, und nun sah sie, daß Agathe bleich geworden war wie die Vorhänge, die hier die altertümlichen Fenster umrahmten.

»Ich bin die Miete für drei Vierteljahre schuldig geblieben, das macht sechshundert Mark.«

»Sie werden dieses Geld morgen durch meinen Bankier erhalten, liebe Frau Jost«, sagte nun Agathe. »Schicken Sie diese sechshundert Mark an das Bureau meines Mannes, und Sie sind frei. Ihnen wird er mit seiner Drohung dann nichts mehr anhaben können.«

Frau Jost wollte sich bedanken. Als sie Agathes Hand berührte, fühlte sie, daß diese Hand kalt wie Eis geworden war.

»Sie sind nicht wohl, Frau Baumann«, stammelte sie erschrocken.

»Ganz wohl«, versicherte Agathe.

Und Frau Jost ging in dem bestimmten Gefühle, daß diese Frau mit sich und ihren Gedanken nun unbedingt allein bleiben wollte.

Als Frau Jost draußen war, brach Agathe zusammen. »Also doch, also doch«, sagte sie laut vor sich hin. Der Fluch der Habgier, die Rache des verbrecherischen Wunsches, der einst Konrad, ihren einzigen Bruder, in Fremde und Tod gejagt hatte, lebten fort und fort in diesem Hause, und dieses Haus war noch immer nicht zum Abbruch reif! Was sollte sie tun? Sollte sie hineilen zu Paul, sollte sie diesem die Maske des Heuchlers vom Gesichte reißen, ihm, dem großen Volksbeglücker, der sie versichert hatte, daß er alles, wie sie es feierlich von ihm verlangt hatte, im Dienste der anderen tue, und von dem sie nun wußte, daß alle seine Handlungen nichts anderes, als das raffinierte Gewebe eines nach Gold und Ehren ewig durstigen Spekulanten waren? Ihm gehörte das Gelände im Westen, das der Bahnhof zu einer Goldgrube machen sollte, und, seinen Besitz zu mehren, wurden alle Tugenden des Staatsbürgers und Menschen in Bewegung gesetzt. Nur um dieses eine Ziel zu erreichen, sang man sein Loblied in den Blättern. Und wie würde dieser Vater dereinst dastehen vor seinen Kindern, denen sie eine Erziehung der Güte im Dienste der anderen gab, wenn es sich herausstellte, daß er eine neue Stadt geschaffen nur aus dem einen Grunde, um seiner unersättlichen Begierde nach Besitz zu frönen.

Die Kinder! Nichts hatte sie sich in zwölf langen Jahren um diesen Mann gekümmert, von dem sie in der ersten Stunde ihrer Annäherung der Schatten des toten Bruders getrennt! Und dann hatte sie ihm geglaubt, hatte sich voll Hingabe seinen menschenfreundlichen Plänen zugewandt, die ihn zum Beglücker seiner Vaterstadt machen sollten. Nun führte sie Frau Jost vor einen Spiegel und zeigte ihr das wahre Antlitz dieses Mannes. Und dieses Mannes Antlitz sah noch immer nicht anders aus, als wie sie es in der ersten Nacht ihres Alleinseins mit ihm, ein blutjunges Mädchen, schaudernd, zum ersten Male mit seinen wahren Zügen geschaut hatte!

Die Kinder! In dem Gedanken an diese nahm ihr Gesicht plötzlich eine steinerne Härte an. Nun wußte sie, was sie vorhatte. Die Kinder! Sie sollten nicht die Kinder dieses Vaters werden, wie er Frau Baumanns Sohn, wie sie die Tochter Peters war. Sein Einfluß und Vorbild sollten nicht verderbenbringend für die zarten Seelen dieser Kinder werden! Sie wußte, was sie jetzt zu tun hatte! Aber ohne Aufsehen, nach sorgsamen Vorbereitungen und in reiflicher Erwägung wollte sie es ausführen. Denn das Haus dieses Mannes, der nur sich und seinen Vorteil kannte, war die Stätte für ihre Kinder nicht.

Als Jost in seiner Droschke das Rathaus erreichte, sagte ihm der Hausdiener, daß die Verhandlungen schon vor einer Stunde ihren Anfang genommen. Wegen der aller Wahrscheinlichkeit nach sich sehr in die Länge ziehenden Diskussion habe der Herr Oberbürgermeister in letzter Minute den Beginn der Sitzung um eine Stunde früher angesetzt. Ob er diese Einladung denn nicht erhalten habe? Der Hausdiener erhielt von Jost, der sich kaum auf den Beinen zu halten vermochte, keine Antwort, und kopfschüttelnd schaute er dem abgemagerten und leichenblassen Manne nach, der sich nun offenbar unter Anstrengung seiner letzten Kräfte, wie ein Schatten anzusehen, die breite Freitreppe nach dem großen Sitzungssaale hinaufschleppte. Er war in Versuchung ihm nachzuspringen und behilflich zu sein, aber die Scheu, dem Manne lästig zu fallen und am Ende von ihm zurückgewiesen zu werden, hielt ihn davon ab.

Jost hatte die Worte des Hausdieners gar nicht verstanden. Er war wie in einem Traume. Nur den einen Gedanken vermochte er klar zu fassen, daß er hierher gekommen, um in letzter Minute Paul Baumann die diesen vernichtende Wahrheit über die Berliner Terraingesellschaft Concordia ins Gesicht zu schleudern. Langsam, Stufe für Stufe, fast ein Sterbender, schlich er die breite Treppe hinan. Er hielt sich an dem schwervergoldeten Geländer aus kunstvoll geschmiedetem Eisen. Wie einem Betrunkenen war ihm zumute, der mit aller Energie nach dem bereits versagenden Bewußtsein hascht.

Endlich war er oben. Der Saal, dessen weite Flügeltüren wegen der drückenden Luft offen standen, war so voll wie noch niemals. Die öffentliche Sitzung, in der die für die ganze Stadt so wichtige Frage nach dem Platze des neuen Hauptpersonenbahnhofes entschieden werden sollte, hatte das Publikum zu Hunderten angelockt. Und nun saßen und standen die Leute auf der Galerie und Bevorzugte drunten im Saale, so daß die Stadtverordneten selber ihre liebe Not hatten, von ihren Plätzen nach der Rednertribüne zu gelangen. Für Jost war es in seiner Lage ein Ding der Unmöglichkeit, sich durch die Menschenmasse nach seinem Sitz zu drängen. Da fiel ihm ein, daß der Saal ja hinter der Tribüne an seinem anderen Ende noch einen zweiten Eingang habe. Endlich fand er diesen auf dem Umwege durch den Korridor. Und nun stand er in nächster Nähe der Tribüne, auf der Oberbürgermeister von Klopp, offenbar am Ende seiner Rede angelangt, gerade sagte:

»Alle diese Gründe, meine Herren, sprechen dafür, den neuen Bahnhof im Osten der Stadt anzulegen. Ich bitte Sie, das von mir Gesagte einer reiflichen Erwägung unterziehen und sich nicht durch die leider in weiten Kreisen der Bevölkerung vorhandene Überschätzung des Westprojektes, das dem Steuerzahler gewaltige Lasten aufbürden müßte, beirren zu lassen.«

Der Oberbürgermeister hatte geendet. Tiefe Stille herrschte in der Versammlung. Denn das Ereignis des Tages stand nun unmittelbar bevor: Die große Rede des Stadtverordneten Paul Baumann, den die demokratische Partei mit der Verteidigung des Westprojektes beauftragt hatte.

In dem Momente, als Paul die Rednertribüne bestieg, bemerkte der alte Stadtrat Kölsch den todbleichen Jost. Er stand auf und bot diesem seinen Sessel, denn er sah, daß sich der Führer der Sozialdemokraten kaum mehr aufrecht zu halten vermochte. Und in der Tat, Jost wäre zusammengesunken, wenn ihm der Stadtrat nicht im letzten Augenblicke zu Hilfe gekommen wäre. Nun sank er völlig erschöpft in den Sessel, indessen sich der alte Herr von einem gerade in der Nähe postierten Diener einen Stuhl aus dem benachbarten Amtszimmer des Oberbürgermeisters bringen ließ.

Auch Paul, der schon oben auf der Tribüne stand, hatte diese Szene bemerkt. Er hatte Jost erkannt, er wußte, zu welchem Zwecke der offenbar auf den Tod Erkrankte in diese Sitzung gekommen war, und das Bewußtsein, seine Sache trotz allem durchsetzen zu müssen und gegebenenfalles auch den Enthüllungen dieses Jost mit frecher Stirn die Spitze zu bieten, lieh seinen Worten eine hinreißende Kraft.

 

»Meine Herren!«

Klar und hell klang seine Stimme, trotz der Überfülle, die in diesem Saale herrschte, so wie man sie noch niemals im Leben gehört hatte.

»Im Namen der Wähler des Westendes und im Auftrage der demokratischen Partei habe ich mich dazu entschlossen, hier das Wort zu ergreifen und, so schwer mir das persönlich fällt, aber die unabweisbare Pflicht zwingt mich dazu, den Ausführungen des Herrn Oberbürgermeisters entgegenzutreten. Ich warne Sie vor einer kurzsichtigen Politik, die Sie in wenigen Jahren alle bitter bereuen werden. Man soll mich nicht der Phrasendrescherei zeihen! Ich komme mit Tatsachen! Auf Grund dieser Pläne« – es waren die phantastischen Träume Peters, die dieser ihm hinterlassen und die er nun vor sich ausbreitete, die jetzt, jetzt durch seine Rede zur Wahrheit werden sollten – »auf Grund dieser Pläne, die ich sorgsam ausarbeiten ließ, sage ich Ihnen, die Annahme des Ostprojektes bedeutet nicht mehr und nicht weniger als den Todesstoß für die Entwicklung der Stadt! Niemals, niemals wieder wird sich die Stadt von diesem Schlage erholen, wenn Sie heute kurzsichtig sind und auf die Vorschläge des sonst von mir hochverehrten Herrn Oberbürgermeisters eingehen! Niemals mehr!

Es ist wahr, der Bauplatz im Osten gehört der Stadt. Die Stadt wird Hunderttausende sparen, so sagt der Herr Oberbürgermeister, wenn sie auf ihrem eigenen Gelände den Bahnhof im Osten erstehen läßt. Hunderttausende wird sie sparen und Millionen werden wir, unsere Kinder und Enkel verlieren, wenn wir das Verkehrszentrum in ein Viertel legen, das dem natürlichen Eingang dieser Stadt gerade entgegengesetzt ist. Denn im Westen und nur im Westen liegt das Entwicklungsinteresse, liegt die Entwicklungsmöglichkeit dieser Stadt. Im Osten die Enge, die von dem Flusse noch obendrein eingeschränkt wird, und im Westen die Weite, das flache sich bis an den Rand des Gebirges hinziehende Land, das die Möglichkeit zum Wachsen in das Ungemessene bietet. Kommt der Bahnhof an die Ihnen bekannte Stelle, die meine Freunde und ich für ihn planen, dann sehe ich eine neue Stadt wie durch Zauber emporsteigen aus bislang fast wertlosem Brachlande. Eine Stadt des Reichtums und der Arbeit, eine Stadt, in die neue Tausende und Tausende ihren Einzug halten werden, die allen die Perspektive des Wachstums, die Ausdehnungsmöglichkeit eröffnet.

Man rede hier nicht von den Sonderinteressen des Ostendes und des Westendes. Die Frage, um die es sich hier handelt, ist zu groß, als daß Sonderinteressen in die Wagschale fallen könnten. Geben Sie heute einmal die so oft beliebte engherzige und kurzsichtige Politik auf! Handeln Sie heute als Männer von weitem Blick, die in die Zukunft schauen. Schaffen Sie sich den Ruhm, endlich einmal einen wahrhaft großen Zug in unsere vaterstädtische Sache hineingetragen zu haben!

Der Schwerpunkt der Stadt liegt im Westen. Sie können ihn heute nicht mehr künstlich in den Osten verpflanzen, meine Herren! Sie können diese Entwicklung, die sich zum Segen des Ganzen weiter und weiter entfaltet, hemmen, aber nicht zugrunde richten. Und eine spätere Zeit, als die unsere, wird über Sie zum Richter berufen sein, ob sie heute großzügig oder kleinlich gehandelt haben!

Im Westen Aus- und Eingang dieser Stadt, im Westen der gewaltige Strom, der uns mit dem Meere verbindet. Im Westen die großen Eisenbahnlinien, die durch das Tal dieses Stromes nach Nord und Süd führen, im Westen die Nachbarstädte, mit denen uns die Interessen des Handels und der Industrie auf das engste verbinden. Im Westen das gewaltigste Kohlen- und Industriegebiet des gesamten Vaterlandes, im Westen die Grenze mit ihren Festungen und Garnisonen, im Westen der Weg nach Paris, die Ein- und Ausgangspforten für die in so reichem Maße importierten Produkte des gesegneten Frankreich! Und wir sollten auch nur einen Moment im Zweifel sein und den natürlichen Eingang dieser Stadt, deren Wohl uns allen am Herzen liegt, nach dem Osten verlegen wollen? Was eröffnet sich Ihnen im Osten? Weite Meilen? Landes, wo kaum nennenswerte Orte und Städte gelegen sind. Schwierige Gebirge und schlechte Zufahrtswege, Eisenbahnlinien, die erst nach Stunden und Stunden wieder einen wichtigen Platz erreichen! Auch mit ihnen sind wir verbunden, werden wir verbunden bleiben. Aber wenn Sie den verhängnisvollen Entschluß fassen, den Bahnhof nach dem Osten der Stadt zu verlegen, dann gleichen Sie dem Manne, der seine Gäste durch das Hinterpförtchen an Ställen und Magazinen vorbei in sein Prachthaus führt. Sie verderben die herrliche Physiognomie dieser sich ungestüm entwickelnden Stadt ein für allemal. Sie reißen ihr, wie man so zu sagen pflegt, die Nase aus dem Gesicht. Man hat in den Zeitungen die Behauptung aufgestellt, die ganze Sanierung der Altstadt und die Anlage der neuen breiten Verkehrsstraße von Ost nach West hätten keinen Sinn, wenn man sich entschlösse, den Bahnhof im Westen aufzuführen. Offengestanden, ich verstehe diese Behauptung nicht. Einmal war der Fall der alten Gassen in dem inneren Teile der Stadt aus hygienischen und verkehrstechnischen Gründen, von der uns nun beschäftigenden Bahnhofsfrage ganz abgesehen, eine unabweisbare Notwendigkeit und dann: Ich sehe weiter, meine Herren, glauben Sie mir! Auch der Osten wird eines Tages seine natürliche Entwicklung erleben. Der Strom, der im Osten der Stadt geradezu zu gewaltigen Anlagen auf industriellem und hafenbaulichem Gebiete herausfordert, wird uns eines Tages die Wege weisen, wenn sich erst der Verkehr im Westen seine normalen Bahnen geschaffen hat. Dann werden wir froh sein, dem Osten seine natürliche Entwicklung nicht vorweggenommen zu haben, wir werden glücklich sein, den Waren- und Güterverkehr dorthin lenken zu können, und die neue breite Verkehrsstraße wird dann das eigentliche Viertel der Arbeit mit dem des gewaltig pulsierenden Lebens der Großstadt rasch und bequem verbinden! Durch eine voreilige Anlage des Bahnhofes im Osten aber morden Sie den Osten und den Westen zu gleicher Zeit! Wenn ich selbstsüchtigen Regungen zugänglich wäre, meine Herren, wenn ich, wie manche meiner Gegner zu behaupten wagten, immer nur an mich und meinen Vorteil dächte, dann wäre es doch jetzt meine Sache, für das Ostprojekt einzutreten, dessen Annahme mein Fabrikgelände in wenigen Monaten um das zehnfache seines Wertes steigert. Aber wie ich damals mein altes Haus am Ritterwall dem mir notwendig erscheinenden Sanierungsprojekt der Altstadt zum Opfer brachte, und, um mich von dem Verdachte jeglichen Eigennutzes zu befreien, dieses Haus der Stadt zum Geschenke gab, so plädiere ich auch heute für das Westprojekt, dessen Annahme mein großes Fabrikgelände im Osten auf viele Jahre hinaus unverkäuflich macht. Denn ich treibe keinen Bodenwucher, ich bin kein Terrainspekulant, ich fabriziere dort mein billiges Maschinenbrot und diene in meiner Eigenschaft als Vertreter meiner Wähler dem Wohle des Ganzen, zu dessen Förderung ich berufen bin, ohne Rücksicht darauf, daß ich selber durch Eintreten für eine von dem Herrn Oberbürgermeister vorgeschlagene, also sicher aussichtsreiche Vorlage meinen eigenen Besitz mit einem Schlage um Hunderttausende vermehren könnte.

Und ich gehe noch weiter. Ich mache kein Hehl daraus, daß mein Schwiegervater vor Jahrzehnten einige Grundstücke im Westen gekauft hat. Er hatte die Absicht, dort Obstplantagen anzulegen, die aber wegen des schlechten Bodens nicht zu rentieren vermochten. Diese Grundstücke könnten vielleicht in das Interessegebiet des neuen Bahnhofes fallen, vorausgesetzt, daß das von mir vertretene Westprojekt, für das doch so viele Gründe sprechen, zur Annahme gelangen sollte. Die Tatsache, daß diese Grundstücke einst zu dem Besitze meines Schwiegervaters gehörten, ist der Gegenstand der Enthüllung, die ein mir feindlich gesinntes Blatt schon vor Wochen zur Verdächtigung meiner Person angekündigt hat. Meine Herren, ich erkläre hier feierlich jeden für einen Ehrabschneider und Verleumder, der mir solche Motive unterzuschieben wagt! Zum Beweis! Um jeglichen Verdacht, ich träte aus egoistischen Gründen für das Westprojekt ein, weit von mir zu weisen, habe ich diese Grundstücke zum Selbstkostenpreise an eine Berliner Gesellschaft verkauft. Sie sind Besitz der Concordia geworden, derselben, die sich damals zum Bau billiger Arbeiterwohnungen im Westen dem Herrn Oberbürgermeister erbot. Warum dieses Angebot nicht zur Ausführung gelangte, weiß ich nicht. Vermutlich hat die Direktion der Gesellschaft rechtzeitig den Wert der von ihr erworbenen Grundstücke erkannt!

Ich mußte diese persönliche Angelegenheit in meiner Rede zur Diskussion stellen, weil ich weiß, daß die Notiz des »Echo« Verwirrung in manche Köpfe getragen hat und weil ich meine Verteidigung des einzig möglichen Westprojektes von jedem Verdachte in dieser Beziehung reinigen will!

Und nun erwägen Sie die von mir angeführten Gründe, die glänzender, als ich das selber vermag, für die Annahme des Westprojektes sprechen. Im Dienste der Allgemeinheit, zum Wohle der Vaterstadt, meine Herren, die allein zu fördern wir uns alle berufen fühlen sollen!«

Paul hatte geendet. Von seiten der Westendler und der Demokraten brach ein frenetischer Beifallssturm los. Aus dem zahlreich erschienenen Publikum ertönten Bravorufe und laute Stimmen erschollen: »Hoch Baumann, der Mann des Volkes hoch!«

Paul stand noch auf der Tribüne. Eine Minute weidete er sich an dem Anblicke der ihn umschmeichelnden Menge. Zu seinen Füßen standen und saßen sie, denen er seinen Willen aufzuzwingen entschlossen war, denen er, wie er wußte und fühlte, seinen Willen aufgezwungen hatte.

Und in dieser Minute des ihm, wie er ahnte, sicher treuen Erfolges erfaßte sein Auge draußen im Westen vor der Stadt das ungeheure Gelände, das Peter einst langsam Stück für Stück an sich gebracht hatte, die paar Grundstücke, wie er das eben vor seinen Hörern leichthin genannt hatte, und das Bild einer blühenden Stadt der Zukunft, wie er sie schon so oft in seiner stillen Klause, in heimlichen Stunden an der Hand von Peters phantastischen Plänen erträumt hatte, stieg nun wieder empor vor seiner schöpferischen und niemals ruhenden Phantasie!

Er sah sich wieder in Berlin und vor seinen Blicken tauchte die Riesenhalle des Anhalter Bahnhofes auf. Und dreimal nebeneinander sah er diese Halle draußen im Westen und in ihre Schlünde donnerten die Züge unaufhörlich Tag und Nacht, die Züge, die Tausende in die Stadt brachten und Tausende wieder entführten, die ein neues und ungeahntes Leben schufen in einer Gegend, die bislang wertloses Brachland gewesen war!

Erst die Glocke des Vorsitzenden und dessen Ankündigung, daß Herr Dr. Jost das Wort habe, rissen ihn aus seinen Träumen empor. Wie ein König verließ er die Tribüne, seiner Sache sicher, und ein Blick unversöhnlichen Hasses traf nun diesen Jost, der eben – eine wandelnde Leiche – seinen Weg kreuzte.

Die Stimmen verstummten. Der Beifall, der ihn noch eben umtost, hatte sich gelegt, und aller Augen richteten sich nun auf den Mann, den man seit Monden und Monden nicht mehr in einer Sitzung gesehen, von dem man überzeugt gewesen, daß er nicht mehr im Rathaus erscheinen würde.

Wie der aussah, dachte Paul, als er ihn des genaueren betrachtete. Wie einer, der sich nochmals aus dem Grabe erhoben, der schon aus den Klauen des Todes kam, die Anklage gegen ihn zu erheben!

Die Anklage! Siedend heiß überlief es ihn. Wenn der dort noch einmal die so oft empfundene und immer gefürchtete Kraft seines Wortes fand! Wenn der ihn angesichts dieser Leute, vor den Ohren und Augen der städtischen Behörden und der Vertreter des Volkes, angesichts der Presse und seiner Wähler fragte, wer denn die Concordia sei, an die er die paar Grundstücke, die in Wahrheit einst ein ungeheures und unermeßlich kostbares Gelände darstellen würden, verkauft habe? Wenn er ihm darauf die Antwort schuldig blieb! Was dann? Er hatte »va banque« gespielt. Alles hatte er auf die eine Karte gesetzt, daß niemand in der ganzen Stadt sein Geheimnis teilte, daß keiner kommen würde, hinter die Kulissen dieser Concordia zu leuchten.

Nun kam dennoch einer, sein Todfeind, einer, den das Grab noch einmal ausgespien zu haben schien, damit er ihm die Larve des Heuchlers vom Gesichte reiße, und sterbend für die Wahrheit zeuge!

Ihn schauderte. Kalter Schweiß rann über seine Stirn. Was sollte er diesem da erwidern, wenn der fragte, wer denn eigentlich der Besitzer, der Geldgeber dieser Concordia sei?

Pochenden Herzens lauschte er.

Und wie der verröchelnde Hauch des ersterbenden Windes ging Josts einstmals so glockenreine Stimme durch den Saal.

»Lauter! Lauter!« riefen da vereinzelte Stimmen von hinten. »Man kann hier kein Wort verstehen, lauter, lauter!«

Jost gestikulierte in den Lüften.

»Meine Herren«, flüsterten seine Lippen.

»Ruhe, Ruhe«, ertönten die Rufe vorn. Und hinten schrie man wieder: »Lauter, lauter, man kann kein Wort verstehen!«

Und nun! Mit einer letzten Anstrengung aller seiner Kräfte stieß Jost hervor:

»Meine Herren! Diese Berliner Terraingesellschaft, diese Concordia ist …«

»Was, was«, rief man hinten.

Und Schreie des Entsetzens wurden in unmittelbarer Nähe der Rednertribüne laut.

Die hinten Sitzenden und Stehenden vermochten sich keine Rechenschaft darüber zu geben, was eigentlich vorgefallen war.

Erst die Rufe »Platz, Platz, Wasser, Wasser, ein Arzt«, klärten sie allmählich auf.

Aber Paul, der in der vordersten Reihe gesessen, hatte es triumphierenden Blickes mit angeschaut, und seine unmittelbare Umgebung hatte es gleichfalls gesehen. Statt des Wortes, das den Volksbeglücker vernichten sollte, war ein heller Blutstrom aus dem Munde des Redners hervorgeschossen. Dann war Jost getaumelt und plötzlich, wie von einem Blitzstrahl gefällt, zusammengebrochen. Man war hinzugesprungen. Man hatte sich um ihn bemüht, man bemühte sich noch. Vergebens! Ein Herzschlag mußte es sein, ein Bluterguß in die Lungen! Wie die Hand der Vorsehung hatte es ihn gefällt!

Man trug den Leblosen in das Amtszimmer des Oberbürgermeisters und bettete ihn auf dem Sofa. An seiner Seite stand Binz, der ihn während der ganzen Sitzung nicht aus dem Auge gelassen. Der endlich ankommende Arzt vermochte nur den plötzlich eingetretenen Tod festzustellen und gab einen Bluterguß in die Lungen als Ursache an.

Und während der rasch herbeigerufene städtische Krankenwagen die Leiche Josts nach dem armseligen Hause in der Zeisigstraße brachte – der treue Binz fuhr mit – schritt man in dem Sitzungssaale zur Abstimmung über Ost- oder Westprojekt.

Der Tod hatte Jost seine letzte Waffe aus den Händen gerungen und das von Paul mit solcher Leidenschaft verteidigte Westprojekt trug den Sieg davon.


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