Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

I.

Die alte Gasse, in der seit länger als einem Jahrhundert die Lenzsche Konditorei lag, hieß der Ritterwall. Vor Zeiten hatte sie einen Teil des um die jetzige Innenstadt gezogenen Festungsgürtels gebildet. Die Überlieferung erklärte ihren Namen aus dem Umstande, daß hier einst vor grauen Jahren die Herren vom Deutschen Orden ein Hospital errichtet hatten.

Heute freilich war davon nichts mehr vorhanden. Menschen und Zeiten hatten sich von Grund aus geändert, die alte Stadt sich gereckt und gestreckt. Schon zwei weitere Festungsgürtel waren längst gesprengt, und was einst als äußerste und feste Grenze zum Schutze der Bewohner gedient, das lag jetzt mitten drinnen in einem Gewirr von engen Gassen und Gäßchen, deren Häuser längst nicht mehr den Anforderungen der verwöhnten Reichen genügen konnten.

Weitere und immer weitere Kreise zog das Leben. Wo einst die Wälle und Gräben des zweiten Festungsgürtels dem Feinde Trutz geboten, wandelte man jetzt zwischen Blumenbeeten und unter schattigen Bäumen. Denn eine weise Regierung hatte bei Schleifung dieses Gürtels dessen Bebauung verboten und die Verwendung des wertvollen Grund und Bodens im allgemeinen Interesse angeordnet. So war ein reizender Halbkreis herrlicher Anlagen entstanden, der sich, ein grüner Wall, um die ganze innere Stadt bis zu dem Ufer des breiten Stromes zog.

Und auch diese Anlagen gehörten längst zum Zentrum. Nur ganz alte Leute sprachen noch davon, daß einer »vor den Toren« wohne, wenn er seine Behausung jenseits dieses Promenadengürtels inne hatte.

In den alten Gassen der eigentlichen Innenstadt war es im Laufe der Jahrzehnte, die über das hundertjährige Bestehen der Lenzschen Konditorei hinweggegangen waren, ganz anders geworden, als es damals gewesen, da der Engadiner Josef Badrutt dort seinen Einzug gehalten und die süße Kunst des Pastetenbackens und der Konfitürenfabrikation aus Italien und Frankreich mitgebracht hatte. Durch seine Heirat mit der Bürgerstochter Marie Lenz war er vor vielen Jahrzehnten selber Bürger geworden, und der Magistrat hatte ihm die Erlaubnis erteilt, die einfache Bäckerei seines Schwiegervaters in eine Pasticceria italiana, wie er sie damals voll ausländischen Stolzes genannt hatte, umzuwandeln. Aus dieser Pasticceria italiana war dann allmählich eine Confiserie parisienne und endlich die Lenzsche Konditorei geworden.

Marie Lenz war das einzige Kind ihrer Eltern gewesen. Die Jahre vergingen, und ihre Ehe mit Josef Badrutt blieb ohne Kindersegen. »Kein Wunder«, meinten die Tanten und Basen, »das war Gottes Strafe, weil sie sich an den Hergelaufenen gehängt und das schöne Erbe dem Ausländischen in die Hände gespielt.« Des langen und vergeblichen Wartens müde, hatten sich die Badrutts endlich dazu entschlossen, das Söhnchen eines entfernten Vetters an Kindes Statt anzunehmen. Dies geschah nicht zum wenigsten nach dem Wunsche des damals achtzigjährigen alten Lenz, der den Gedanken nicht ertragen konnte, daß sein Besitz einmal in die Hände wildfremder Leute übergehen könne, wenn Josef Badrutt kinderlos die Augen für immer geschlossen hätte.

So war der alte Name der Lenz in Peter, dem Pflegesöhnchen der Badrutts, wieder zu Ehren gekommen, und der Alte hatte darauf bestanden, daß man von einer eigentlichen Adoption absah und nur eine Annahme an Kindes Statt gesetzlich festlegte, denn ihm war es gerade recht gewesen, daß sein ehrlicher deutscher Name Lenz nicht durch den fremden Badrutt für immer verdrängt werde. So war der entfernte Vetter Peter der Stammvater einer neuen Lenzschen Generation geworden. Von seinem Pflegevater, der ihn wie sein eigen Fleisch und Blut geliebt, hatte Peter Lenz all die kleinen Geheimnisse gelernt, die in den aus Venedig und Paris mitgebrachten und jetzt vergilbten Rezepten verborgen lagen. Er war ein tüchtiger Geschäftsmann, rastlos tätig in der Backstube und im Laden vom ersten Hahnenschrei bis tief in die Nacht hinein.

Und was man in der ganzen Stadt nicht wieder fand, das gab es hier bei Peter Lenz, allerdings für schweres Geld, zu kaufen: Kuchen und Pasteten, Torten und petits fours, fruits confits und bombes glaciales, deren Namen man nur zu nennen brauchte, damit den Naschhaften das Wasser im Munde zusammenlief.

Peter Lenz war ein Mann der alten Schule. Er ließ sich seine Ware bezahlen. Er kannte seine Kundschaft und wußte ganz genau, mit welchen Herrschaften er hier zu rechnen hatte, wenn an den Tagen vor dem Weihnachts- und Osterfeste die eleganten Gespanne der vornehmen Welt vor seinem alten Hause auf dem Ritterwall eine lange Reihe bildeten, so daß mancher vorübergehende Konkurrent unwillig in den Bart murmelte: »Dieser Lenz! Wo Tauben sind, fliegen eben Tauben hin.«

Auf einen Taler mehr oder weniger kam es diesen Leuten, die mit zwei prächtigen Rassepferden fuhren und in einem schicken Wagen vor seinem Geschäfte hielten, nicht an, wenn das Gekaufte nur den verwöhnten Erwartungen entsprach, wenn nur die Firma Lenz auf der Tüte stand und das Ding einen möglichst verzwickten und schwer auszusprechenden, von Vater Badrutt überlieferten Namen hatte.

Unter Peters Leitung blühte das Geschäft, wuchs es empor zu einer von Josef Badrutt niemals geahnten Ausdehnung und Bedeutung. Schon zerfiel es in verschiedene von Peter streng gesonderte Abteilungen. Da war die Pastetenbäckerei, in welcher ausschließlich die Croûtes für feine Ragouts und kalte Gelatinen hergestellt wurden, da war das Eisgeschäft, die Abteilung für konservierte Früchte, die Bonbonsfabrik, der petit Four, wie Peter sagte, die Torten- und die Kuchenstube.

Und jede dieser Abteilungen hatte ihren besonderen Chef. An der Spitze einer jeden stand ein Spezialist, den sich Peter eigens aus den wegen irgendeiner Fabrikation berühmten Städten und Gegenden verschrieben hatte. Ein Wiener leitete die Feinbäckerei, ein Venetianer die Eisbereitung, ein Nizzarde die Abteilung der Fruits confits, ein Engländer buk die Puddings und Cakes und ein Pariser schuf die in der ganzen Stadt berühmten petits fours.

Als Peter Lenz auf der Höhe seiner Jahre und das Geschäft in seiner schönsten Blüte standen, waren in dem alten Hause am Ritterwall etwa vierzig Konditoren und Gesellen beschäftigt, welche die ganze Stadt, soweit sie etwas auf sich hielt, mit Süßigkeiten zu versorgen hatten. Damals hielt Paul Baumann seinen Einzug in die Konditorei. Er war siebzehn Jahre alt und hatte endlich, nachdem er zweimal hintereinander in derselben Klasse sitzen geblieben, von dem Gymnasium und aller gelehrten Bildung ein für allemal genug gehabt.

Für Frau Baumann war das ein schwerer Entschluß gewesen, aber sie hatte sich in das Unvermeidliche fügen müssen. Die Lehrerkonferenz und der Direktor des Gymnasiums hatten kategorisch erklärt, daß es mit Paulchen nicht so weiter gehe, daß man fest entschlossen sei, ihn nicht länger auf der Anstalt zu behalten, und Paulchen selber zeigte nicht die geringste Lust, sich des weiteren mit der lateinischen Syntax und der griechischen Formenlehre auf einer auswärtigen Schule zu beschäftigen, zumal da auch sein Busenfreund Konrad Lenz, Peters einziger Sohn, zu gleicher Zeit in das väterliche Geschäft eintrat.

Ein neues Leben, das Leben der praktischen Arbeit, die Geist und Körper müde macht, nahm damals für Paul Baumann seinen Anfang. In Peters Geschäfte war es althergebrachte Sitte, daß die Lehrlinge und die unverheirateten Gesellen im Hause wohnten, und so bezog denn Paul im vierten Stockwerk des alten Lenzschen Hauses ein kleines und schiefes Mansardenstübchen, dessen ganzes Mobiliar aus Bett, Stuhl, Tisch und Waschkommode bestand. Er durfte sich nicht beklagen.

Konrad, des Meisters eigenem Sohne, erging es nicht besser. Sein Stübchen lag neben demjenigen, das man Paul angewiesen hatte, und nur die Photographien der Familie Lenz, die über Konrads Bette hingen, legten Zeugnis dafür ab, daß der Sohn des Hauses in diesem Zimmer sein Heim aufgeschlagen.

Goldene Tage hatte sich der kleine, nun endlich dem verhaßten Schulzwange entlaufene Paul von dieser Lehrzeit im Lenzschen Hause versprochen, und wie bitter sah er sich enttäuscht! Denn Vater Peter gab kein Pardon. Des Morgens um halb fünf Uhr wurde der Kaffee getrunken, und Punkt fünfe stand man in der Backstube, wo es die ersten Anfangsgründe der süßen Kunst zu erlernen galt.

Lächelnd hatte Peter am Anfang aus der Ferne mit zugesehen, wenn ein fertig gestelltes Törtchen nach dem anderen in Pauls Naschmaul verschwand. Das dauerte knapp drei Wochen, und Paulchen rührte nichts Süßes mehr an. Auch Peter kannte die alte Erfahrung, daß nichts anderes, als der Ekel vor dem Zucker, den Konditor für immer von jeder Naschsucht heilt.

Nach den ersten drei Wochen war es langsam aber stetig aufwärts gegangen, denn Paul hatte sich an die ermüdende und eintönige Arbeit gewöhnt. Nach einem halben Jahre hatte er die allgemeinen Anfangsgründe hinter sich, und nun weihten ihn die einzelnen Chefs in die Geheimnisse der Spezialabteilungen ein. Drei Monate waren für eine jede dieser Abteilungen vorgesehen. Wenn Paul sie alle durch hatte, dann war auch seine dreijährige Lehrzeit zu Ende.

Mit seiner Familie verkehrte er in dieser Zeit so gut wie gar nicht. Die reichen Seligers, die den Lehrbuben über die Achsel ansahen, mochte er nicht leiden, Schröders und Rolf weilten in der Ferne, Ewald war tot. Nur die Mutter, der Harry Seliger ein elegantes Witwenheim gemietet, besuchte er hie und da an seinen freien Sonntagen! Aber auch dort wollte es ihm nicht mehr gefallen. Es war, als wenn er plötzlich aus dem Rahmen seiner Herkunft herausgefallen sei.

Desto enger schloß er sich an die Kinder seines Meisters an. Und das alte Haus am Ritterwall ward im Laufe der Jahre seine neue Heimat.

Nach wenigen Monaten kannte er dieses Haus von oben bis unten. Es war ihm ein lieber Freund, wie ihm Konrad, der dereinst das väterliche Geschäft sein Eigen nennen würde, wie ihm dessen Schwester Agathe liebe Freunde geworden waren.

Nur von Peter hielt ihn eine merkwürdige Scheu innerlich fern. Dieser Mann, der Leiter des großen Geschäftshauses, war eine seltsame Persönlichkeit. Man hätte ihn eher für alles andere, als für einen Handwerker halten können, am allerwenigsten für einen biederen Bäckermeister, aus dem der erste Konditor der Stadt geworden war.

Wenn sein scharfes und alles sehendes Auge nicht durch den Laden oder die Backstuben schweifte, dann saß er stundenlang wortlos in seinem Bureau, und es machte den Eindruck, als ob er vor sich hinträume. Dies schien aber nur so. Peter Lenz erging sich dann in ungeheuren Spekulationen, von denen keines seiner Kinder eine Vorstellung hatte. Die Konditorei, die schon jetzt jährlich viele Tausende abwarf, sollte nur der Anfang von dem sein, was Peter Lenz in seinem Innersten als sein Lebenswerk betrachtete.

Das alte Haus am Ritterwall, zu dessen Besitz er einstmals als Kind durch das blinde Spiel des Zufalls gekommen, war ihm für seine Pläne schon lange nicht groß genug. In der belebtesten und elegantesten Straße der neuen Stadt sah er im Geiste einen gewaltigen Palast, auf dessen Dache der Name Peter Lenz dereinst in riesengroßen Lettern leuchten sollte, und das bedeutende Kapital, welches das alte Geschäftshaus am Ritterwall abwerfen mußte, wenn das eintrat, wovon er träumte, würde ihm die Mittel an die Hand geben, für sich und die Seinen hier in der Stadt ein Monopol für die feineren Artikel seiner Branche zu schaffen.

Peter Lenz war ein Phantast und wie viele Phantasten zugleich eine verschlossene Natur.

Er sah die Zukunft, er sah, was kommen würde, was kommen mußte. Die Stadt, von der er lebte, die ihm und den Seinen an jedem neuen Tage reichlichen Gewinn zuführte, ward ihm in der einsamen Stille seines Bureaus zu einer beredten Freundin. Sie zeigte ihm den Weg, den er zu gehen hatte, indem sie ihn in die Geheimnisse ihres Wachstums und ihrer dereinstigen, ungeahnten Größe einweihte. Von Hunderttausenden, von Millionen Einwohnern träumte Peter Lenz. Seine schaffende Phantasie erfaßte eine ferne Zeit, wo diese Stadt, zum Mittelpunkte des Weltverkehrs geworden, die fernen Berge erreicht, wo sie den Wald jenseits des breiten Flusses in ihre Mauern mit einbezogen hätte. Fabrikviertel sah Peter Lenz entstehen. Villenvororte wachsen, neue Städte, die sich dem Leibe der alten als einem einheitlichen Ganzen einfügten, sich erheben und Tausende in diesen wohnen, die gekommen waren, seine Reichtümer zu mehren, denen er Schöpfer von Nahrung und Genüssen sein wollte.

Zwischen einem im Westen sich erhebenden Dorfe und den letzten Häusern der Stadt lag, viele Quadratmeter weit, das brache Feld, das wogende und Früchte tragende im Sommer, das schneebedeckte im Winter, aus dem eine neue Welt erstehen würde, wie Peter Lenz in seinem Geiste träumte, der goldene Boden, wie er dieses Stück Land mit Vorliebe in seinem Innersten nannte.

Wenn das eine gelang, wenn er das Riesenkapital für das alte Geschäftshaus am Ritterwall erst in seinen Händen hatte, dann würde alles andere eine Kleinigkeit für ihn sein. Und im stillen, im kleinen machte er schon jetzt den Anfang. Die ersparten Gelder, die ein anderer sorgsam auf die Bank getragen hätte, legte Peter in scheinbar wertlosen Grundstücken zwischen der Stadt und jenem Dorfe an. Und diese Grundstücke gehörten zu dem Terrain, auf dem dereinst der große Zukunftstraum seiner vor keiner Grenze haltmachenden Phantasie erstehen sollte.

Wenn ein Bekannter oder einer seiner Angehörigen ihn fragte, was er denn mit diesen Wiesen und Äckern, Waldparzellen und Bauplätzen anzufangen gedenke, dann hatte Peter nur die eine Antwort, er beabsichtige eine Konservenabteilung zu errichten und wolle den Versuch mit eigenen Obstplantagen wagen.

Und im stillen kaufte er weiter, sobald er eines Plätzchens um billigen Preis habhaft werden konnte. Denn in tiefer Nacht hatte ihm einst die Stadt ihr Geheimnis anvertraut, dass sie nach dieser Richtung wachsen und wachsen werde, wachsen zur Millionenstadt, zum Mittelpunkte des Verkehres, und daß diese Äcker und Wiesen einmal mit Gold aufgewogen würden, wenn erst sein Traum in Erfüllung gegangen sei.

An einem düsteren Dezembertage kurz vor Weihnachten hatte ihn das Schicksal zufällig hinaus auf die Landstraße und in jenes Dorf geführt, weil dort ein Pferd, das er sich ansehen wollte, zum Verkauf stand. Und plötzlich auf dem Rückweg in der Nacht war es über ihn gekommen wie eine Erleuchtung. Phantastisch hatte es sich aufgebaut an dem rabenschwarzen Horizonte und hatte gestrahlt in hundert und aberhundert Lichtern mitten durch das Dunkel. Drei Riesenhallen aus Glas und Eisen waren es gewesen, wie Peter Lenz noch niemals etwas Ähnliches in seinem Leben ersonnen oder erträumt hatte, drei mächtige allumfassende Schlünde, die gewaltig genug waren, den Verkehr der Welt in ihrem Inneren aufzunehmen: der neue Bahnhof, der hier an dieser Stelle, und nirgends anderswo erstehen konnte, der Hunderten von Zügen die Aus- und Einfahrt an einem einzigen Tage ermöglichen, der Tausende und Abertausende in die Stadt bringen mußte und der das Gelände in seiner Umgebung zu einer Goldgrube für Kinder und Kindeskinder des glücklichen Besitzers machte.

Klar und deutlich hatte er dies in jener Erkenntnisnacht des rabenschwarzen Dezember gesehen. Der Bahnhof an dieser Stelle und an keiner anderen, der neue Bahnhof, der das Leben und die Menschen und das Geld hineingeleiten würde in die Stadt, der er ihr Geheimnis in ernsten Stunden der Betrachtung abgelauscht.

Drei ungemessene, in Wirklichkeit noch nie geschaute Hallen aus Eisen und Glas wölbten sich da vor seinen Blicken, und in jeder dieser Hallen mündeten sechs Schienenstränge, die blitzten und glänzten wie eitel Gold. Und wie Sonnen strahlten die Lichter, und Tausende und Abertausende, Hunderttausende und Millionen wogten durcheinander, alle die Menschen, die die Jahre hineinführen und hinausgeleiten würden aus dieser alten und in diese neue Stadt.

Und um diese Riesenhallen wuchs und wuchs es aus den Äckern und den Wiesen, aus dem wertlosen Brachfelde, das man heute noch für einen Spottpreis ihm zuliebe hergab! Fabrikschornsteine stiegen da in die Höhe, gewaltige Gebäude bedeckten den Erdboden, Häuser aus Eisen, Glas und Stein, wie jene Hallen, in einer neuen und ungekannten Bauart, von der seine Welt und seine Umgebung noch nichts verstanden. Wie Schwalbennester schmiegten sich die Arbeiterwohnungen an diese Ungeheuer, und ganz in der Nähe der Stadt und der phantastischen Hallen gewahrte er nun ein neues Viertel von Villen und Palästen, mit Anlagen, Springbrunnen und Kaskaden, das Viertel der Reichen, die aus Nord und Süd, aus Ost und West heranziehen würden in diese neue Stadt! Geputzte Damen und elegante Herren wandelten durch diese Promenaden, denen künstliche Wasser ihr Leben liehen, an deren Saume sich die blauen Hügel türmten. Bis zu deren sanftem Anstiege sollte sich die neue Stadt, seine Stadt, nach seinem Wunsche erstrecken!

Von all diesen phantastischen Plänen und Träumereien, die das Innere Peters Tag und Nacht erfüllten, wußte Paul Baumann nichts. Und wenn er etwas davon gewußt, hätte er sich damals aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht für diese Dinge interessiert. Denn im eigentlichen Grunde seines Wesens war er eine durchaus praktische Natur. Der freiwillig übernommenen und eintönigen Beschäftigung ging er Tag für Tag mit dem gleichen Fleiße und unermüdlichem Pflichteifer nach, nachdem er einmal eingesehen, daß der neue Beruf, den er sich der Mutter trotzend erwählt hatte, wie jede anstrengende und ernste Arbeit im Leben einen ganzen Mann erforderte. Denn auch Paul Baumann hatte schon jetzt seine Pläne, fasslichere und leichter zu bewerkstelligende, als die Träumereien des alten Peter Lenz. Nachdem er ein Jahr in der Konditorei gearbeitet, sehnte er die Stunde herbei, da er sich, seinen Gesellenbrief in der Tasche, auf die Wanderschaft begeben würde. Er wollte hinaus in die große Welt, nach Paris, nach England und nach Italien. Dort wollte er sich gründlich umschauen und sehen, wo ihm sein Glück erblühen würde, das er sich damals auch als ein großes Geschäft mit ungezählten Kunden und vielen Angestellten ausmalte. Während er in der Backstube den Kuchenteig rührte und dann die süße Masse in die Formen goß, hatte er genügend Zeit, sich diese seine Zukunft, die er mit eigener Hand gestalten wollte, auszumalen, und diese Zukunft wäre ihm in einem rosigen Lichte erschienen, wenn sich nicht immer und immer wieder ein holdes Bild, von dem sein Herz und seine Sinne nicht lassen konnten, zwischen ihn und diese seine Zukunft gedrängt hätte.

Er war erst achtzehn, und dennoch, mit der elementaren Kraft einer sich allen Widersprüchen zum Trotz aufrecht erhaltenden Leidenschaft hatte es ihn gepackt. Als Kinder hatten sie zusammen gespielt, der dreizehnjährige Paul und die damals zwölfjährige Agathe, und langsam im Laufe der Entwicklungsjahre war es über die beiden gekommen, daß die Schul- und Kinderfreundschaft in diesem Falle eine Bedeutung für das ganze Leben gewinnen könne, daß sie das Schicksal gewissermaßen füreinander geschaffen habe!

Agathe Lenz war ein stilles und sanftes Wesen, eine hübsche Blondine von sich prächtig entwickelnden Formen, ein freundliches Kind mit frommen, graublauen Augen und reichem, aschblondem Haar. Eine gewisse angeborene Scheu, eine echt weibliche Zurückhaltung, unterschied sie vorteilhaft von den vorwitzigen Kindern der Großstadt, mit denen sie zusammen eines der vornehmsten Mädchenpensionate besucht hatte. Denn Vater Lenz gab etwas auf die Ausbildung seiner beiden einzigen Kinder. Wie er Konrad auf das Gymnasium geschickt, so hatte er es auch mit Agathe gehalten. Die beste und vornehmste Mädchenschule der Stadt war ihm für sein Töchterchen gerade gut genug.

Freilich schon auf der Schule hatte Agathe den anderen gegenüber einen schweren Stand gehabt. Denn die Töchter der sogenannten ersten Kreise besuchten das Institut, und die kleinen Mädchen hatten nicht umhin gekonnt, es Agathe fühlen zu lassen, daß man sie in ihrem Kreise nicht für voll ansah, wenn man auch im jugendlichen Alter die von Agathe aus dem Laden mit in die Schule gebrachten Bonbons mit Freuden begrüßte.

Als man in der obersten Klasse war, hatte Agathe den ersten großen Schmerz ihres jungen Lebens zu überstehen gehabt. Die Eltern ihrer Mitschülerinnen hatten eine Tanzstunde mit Gymnasiasten als Herren veranstaltet, und Agathe, das Töchterchen des Zuckerbäckers, der die Torten und Kuchen zu liefern hatte, war zur Teilnahme an dieser Tanzstunde nicht aufgefordert worden.

Schon damals hatte sie sich enger und enger an Paul Baumann angeschlossen, an den Busenfreund ihres einzigen Bruders, der im Unterschiede zu allen anderen gar keinen gesellschaftlichen Stolz und keinen Kastengeist zu kennen schien. Und aus jener Zeit stammte auch ihre scheue Zurückhaltung gegenüber den fremden Menschen, in denen sie gar zu gerne Verächter des einfachen Berufs ihres Vaters wittern zu müssen glaubte.

Dann war sie zwei Jahre lang in Vevey in einer Pension gewesen, und als sie wieder nach Hause gekommen, war Paul Baumann, der Lehrling, der erste, der ihr in dem väterlichen Hause entgegentrat. Nun war sie siebzehn, und eine echte Jugendliebe hatte sich langsam zwischen den beiden Menschenkindern entwickelt, von der sie beide damals meinten, daß sie für alle Tage und Jahre des Lebens siegreich standhalten würde.

So war es denn weiter kein Wunder, wenn sich das liebliche Bild Agathes immer und immer wieder zwischen Paul und seine großen Zukunftspläne drängte, die ihn hinaus in die Welt, weit fort von dem alten Ritterwall in die Hauptstädte des Lebensgenusses und des Luxus hätten führen sollen. Kurz nach der Rückkehr Agathes aus der Schweizer Pension war Frau Lenz plötzlich an einem Herzleiden gestorben. So war der Ernst des Lebens früh an das junge Mädchen herangetreten und die Last des großen Haushalts hatte sich auf ihre Schultern gesenkt. Und schon damals sagte eine leise aber sehr bestimmte Ahnung Agathe, daß ihr einziger Bruder Konrad nicht der Charakter sei, um das große Geschäft am Ritterwall auf die Dauer in der nun einmal erreichten Blüte halten zu können. Sie wußte, daß die Pläne ihres Bruders sich in ganz anderen Bahnen bewegten, und so sah sie, noch ein halbes Kind, als wenn das selbstverständlich wäre, in Paul Baumann die Persönlichkeit, die das Lenzsche Geschäft dereinst auf dem Boden praktischer Reformen zu einer neuen, dem Geiste und der Richtung der modernen Zeit entsprechenden Bedeutung emporzuheben berufen war.

Und Paul war ihr gerade recht. Sein Trachten und Sinnen ging, wie sie damals glaubte, nicht in das Ungemessene. Er war kein Flattergeist, kein vergnügungssüchtiger Geldausgeber wie Konrad, der immer Sportartikel kaufte, der heute von einer Segeljacht und morgen von einem Reitpferd sprach, um übermorgen einen Plan für eine mit halsbrecherischen Hochtouren verbundene Reise in die Alpen zu entwerfen.

Paul war für sie der Stete, der Pol, um den sich einstmals alles drehen würde, der Ruhepunkt in der Erscheinungen Flucht. Freilich, auch ihr gegenüber sprach er ja mit Vorliebe von der Wanderschaft, auf die er sich dereinst nach Ablauf seiner Lehrzeit begeben würde. Aber Agathe hatte dann immer nur ein freundliches Lächeln, und der leichte Flor der Trauer, der sich bei diesen seinen Ausführungen über ihre großen, graublauen Augen senkte, wies die Lust am Wandern und die Sehnsucht in die Ferne jedesmal wieder in den verschwiegensten Winkel von Pauls Herzen zurück.

Wenn sich der achtzehnjährige Paul Baumann aufrichtig fragte, trotz der Eintönigkeit des Berufes und trotz der Masse der Arbeit, die schon auf seinen jungen Schultern lastete, in dem alten Hause am Ritterwall, insonderheit in der Gesellschaft Agathes, war er restlos glücklich. Er selber hatte ja noch nicht viel erlebt, aber mitangesehen hatte er mancherlei: den raschen Aufstieg und jähen Sturz seines Bruders Ewald, der eigenen Mutter Jagen und Hasten nach Geld und Besitz, die abenteuerliche Laufbahn seiner Schwester Hilde, die Protzerei der Seligers und Rolfs plötzliches Untertauchen in dem Strudel der Welt. Von Martha und Schröder abgesehen, war er am Ende von allen diesen der glücklichste, wollte ihn manchmal in den stillen Stunden des Feierabends bedünken, wenn Vater Peter einsam in seinem Bureau saß, wenn Konrad seinen Vergnügungen im Kreise seiner Sportsgenossen nachging, und wenn er unter der einfachen Hängelampe im Lenzschen Wohnzimmer in Agathes Gesellschaft die friedlichen Stunden des Abends verbrachte und ihr aus einem alten Buche, das er in Peters Schranke gefunden, von einer an Abenteuern reichen Fahrt durch die Inselwelt der Südsee vorlas.

Die Sorge des Gymnasiasten, die all die Jahre seiner Kindheit vergällt hatte, war von ihm genommen, und hier in dem alten Hause am Ritterwall atmete er auf. Dieses Haus war wie der Hafen, in dem der Achtzehnjährige, als ob er wirklich schon eine lange Fahrt hinter sich habe, gelandet war. Die Augen der Geliebten standen wie zwei schöne Sterne an dem wolkenlosen Himmel dieser seiner ersten Jugendjahre und sandten in sein damals so empfängliches Herz ihren milden und alles verklärenden Schein.

Wie der Sohn dieses Hauses, der hineingehörte, weil er in dieses Haus hineingeboren war, kam sich Paul Baumann in der Tat vor. Und er kannte und liebte dieses altertümliche Haus an dem völlig, unmodernen Ritterwall, das ihm in wenigen Monaten die neue, die wirkliche Heimat geworden war.

Schon Josef Badrutt hatte durch mancherlei Um- und Anbauten dem alten Lenzschen Bäckerhause seine eigentümliche Gestalt gegeben, die es dem Fremden, der sich zum ersten Male in seinem Innern zu schaffen machte, ein wahres Labyrinth von Gängen und Treppen, Kammern und Zimmern erscheinen ließ. Denn das, was man unter dem Gesamtnamen der Lenzschen Liegenschaften zusammenfaßte, bestand eigentlich aus drei verschiedenen Häusern, die im Laufe der Jahre angekauft und miteinander verbunden worden waren.

In dem Vorderhause, in dessen Erdgeschosse sich der Laden mit den beiden Eis- und Kaffeestübchen befand, war das Zurechtfinden die einfachste Sache von der Welt. Es war ein großes und sehr geräumiges vierstöckiges Wohnhaus, dessen einzelne Teile man noch zu Lebzeiten des Josef Badrutt, ehe das Geschäft unter Peter seine ungeahnte Ausdehnung genommen, an Fremde vermietete. Dann war aber zunächst das von dem größten und belebtesten Platze der Stadt nur durch einen schmalen Hof und ein kleines im Besitz der Stadt befindliches Hinterhaus getrennte Gebäude, wo sich jetzt die Bäckereien und die Fabrikationsräume befanden, hinzugekommen, und dieses war es in erster Linie, auf das Peter den Anfang seiner phantastischen Riesenpläne aufbaute. Wenn man jemals auf die Idee kommen sollte, eine neue Verkehrsader durch die Innenstadt nach dem Osten zu schaffen, dann fiel dieses Gebäude und mit ihm die ganze Lenzsche Liegenschaft in die neue Straßenlinie, dann würde die Stadt selber eine Unsumme für diesen Platz zahlen, mit der der glückliche Besitzer den neuen Geschäftspalast begründen und, wenn er klug und umsichtig war, das Terrain, in dessen Mitte der neue Bahnhof entstehen mußte, zu einem großen Teile an sich bringen konnte.

Freilich, an solche Dinge dachte Paul Baumann bei Betrachtung des alten Hauses, das seine neue Heimat geworden war, damals nicht im entferntesten. So, wie es dastand, war es ihm lieb und teuer, vor allem als das Haus, in dem Agathe schaltete und waltete, und in dessen trautem Schlafzimmer sie dereinst vor nunmehr siebzehn Jahren das Licht der Welt erblickt hatte.

Und dann noch eines, etwas Romantisches hatte dieses alte Haus an sich, insonderheit in der seltsamen und eigenartigen Einrichtung, die ihm der auch auf diesem Gebiete etwas überspannte Peter gegeben hatte. Paul war damals gewiß kein Schwärmer, aber auch auf seine empfindende Seele übte bei der Jugend, in der er noch stand, dieses seltsame Haus des Peter Lenz eine mächtige Anziehungskraft aus. Schon das Vorderhaus, das nach Peters eigenen Plänen umgebaut worden, war ganz in der Art eines alten Patriziersitzes aus dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts gehalten. Nur der Laden mit den beiden Seitenzimmern, die allzuviel moderne Tünche zeigten, störten hier einigermaßen den günstigen Gesamteindruck. Aber das Treppenhaus mit den breiten und bequemen Stiegen, deren prächtiges handgeschnitztes Eichenholzgeländer als eine Sehenswürdigkeit angesprochen werden konnte, die stets blank gescheuerten, großen Sandsteinfliesen des Bodenbelages liehen diesem Entrée eine hier niemals gesuchte Vornehmheit, die durch das Halbdunkel, in die das Ganze infolge einer mangelhaften Fensterbeleuchtung gerückt war, nur noch erhöht wurde. In den Gängen des ersten und des zweiten Stockwerkes hatte Peter neben einer Reihe alter Kupferstiche seine Waffensammlung untergebracht.

Hier sah man Morgensterne und uralte Hinterlader, die aus fernen Jahrhunderten der festen Städte und Burgen stammten, neben seltsamen Waffen unzivilisierter Völker, die einst zu blutigen Kämpfen in den Wüsten Afrikas oder auf den Inseln Polynesiens gedient haben mochten. Denn Peter Lenz sammelte wahllos alles, was ihm in die Hände kam und gerade als Schmuck für seine eigenartigen Vorplätze dienlich erscheinen mochte. Und zwischen diesen so verschiedenartigen Waffen hingen die alten Kupferstiche meist französischer Herkunft, die auch die nüchternste Phantasie anzuregen und zu befruchten geeignet waren: Die Place de la Concorde mit der Guillotine, im Vordergrunde ein johlender Volkshaufe, der den Armesünderkarren des sechzehnten Ludwig begleitete; die Königsgärten in Versailles mit den springenden Wassern; Papst Julius der Zweite vor den Toren des Lateran den Segen erteilend; St. Peter mit dem Obelisken; der Untergang von Pompeji; Cäsars Ermordung auf dem Forum, Bilder, die sich Peter nach seinem eigenen Geschmack und Verständnisse ausgesucht hatte und die den Betrachter wegen ihres Gegenstandes immer wieder in ihren Bann zogen.

In den ersten Wochen seines Aufenthaltes in dem Lenzschen Hause war es schwer gewesen, Paul von diesen an den Wänden der Vorplätze aufgehängten Kupferstichen fortzubringen. So wenig er sich auf dem Gymnasium für den geschichtlichen Unterricht interessiert hatte, so sehr packte ihn mit einem Male die bildliche und noch mehr die künstlerische Darstellung von Dingen und Vorgängen, die seine jugendliche Phantasie mit einem Schlage mächtig ergriffen. Denn das altertümliche Haus am Ritterwall mit seinen seltsamen und gesuchten Einrichtungen weckte schlummernde Kräfte in seiner Seele, von deren Vorhandensein Paul früher keine Ahnung gehabt. Nach Feierabend, wenn es im Sommer zu dämmern begann, wenn im Winter die kleinen und sparsamen Petroleumlampen in dem Treppenhause brannten, stand Paul viertelstundenlang vor diesen altmodischen Bildern, deren Betrachtung ein mehr spielerisches, als künstlerisches Schaffen in seinem Innern weckte.

Denn der romantische Gegenstand und dessen Verkörperung zogen ihn an. Wo der Berufsmaler das Natürliche der Linienführung, die Kontraste von Licht und Schatten, die Wirkung der Farben gesucht hätte, trat für ihn das Dichterische des Gemäldes und vor allem dessen pathetischer Vorwurf in den Vordergrund. Und die Malerei war es nicht allein, die ihn damals gefangen nahm. Auch seine musikalischen Neigungen erwachten erst jetzt in verhältnismäßig schon vorgerücktem Alter, denn er zählte beinahe achtzehn, als er im Lenzschen Hause damit anfing, sich zunächst im Dienste seines Konditorberufes mit künstlerischen Dingen zu beschäftigen.

Die erste derartige Aufgabe erwuchs ihm, als Peter Lenz ein paar Monate vor dem Weihnachtsfeste beim gemeinschaftlichen Abendessen die Bemerkung fallen ließ: »Es wäre doch schön, wenn wir in diesem Jahre eine recht eigenartige Schaufensterdekoration für das Fest hätten.«

Paul sann nach. Und ganz plötzlich fiel ihm ein, daß er ja in seinem Skizzenbuche, das er bei sommerlichen Ausflügen in die Umgebung der Stadt und in das nahegelegene Gebirge mit sich führte, die Zeichnung einer verfallenen Ritterburg am Rheine gemacht hatte. Aber mit dieser Zeichnung war es nicht getan. Die Figuren, die er auf den Kupferstichen gesehen hatte, Szenen aus Opern, die mächtig in seinem Innern nachklangen, ließen ihm damals keine Ruhe, und so machte er sich denn tief in der Nacht, droben in seinem Stübchen, wenn alles zur Ruhe gegangen war, ans Werk, um ein Modell für eine phantastische Szene zu schaffen, die vor Weihnachten in dem Schaufenster der Lenzschen Konditorei ihre Triumphe feiern sollte. »Des Toggenburgers Abschied von der Heimat« nannte er sein erstes romantisches und kindliches Werk.

Das war eine mühselige und tiftelige Arbeit. Nach der Skizze, die er auf jenem Ausfluge von der verfallenen Burg am Rheine angefertigt, zeichnete er zunächst auf große weiße Bogen aus Pappe Fassade und Türme seiner Burg, die er dann ausschnitt und plastisch zusammenklebte, so wie er das als Knabe an den Modellierbogen, die man in den Schreibwarenhandlungen zu kaufen bekommt, gelernt hatte. Diese Schöpfung, deren Zeichnung, Bemalung und plastische Herstellung manche Nacht in Anspruch nahm, war das Modell zu dem eigentlichen Werke, das dann in der Konditorei aus Spezialitäten des Lenzschen Hauses, aus Schokolade, bunten Bonbons und glacierten Früchten errichtet werden sollte.

Auf einem mächtigen Felsen sollte sich die Burg erheben, an deren Eingang die Figur der zum Abschied mit dem Tuche winkenden Dame ihren Platz fand, während der Toggenburger, hoch zu Roß, das Schwert an der Seite, die Leier in der Hand, am Fuße dieses Felsens halten und der Geliebten ein letztes Lied zum Abschied singen mußte.

Diese sentimentale Szene gefiel Paul ganz besonders gut, wenn er daran dachte, daß er in Kürze, gleich dem Toggenburger von dem Schlosse, Abschied von dem alten Hause am Ritterwall nähme und daß dann an Stelle der ritterlichen Dame Agathe mit dem Tuche winke.

Auf einem Postamente in der Mitte des Erkers würde dann vor Weihnachten das vollendete Werk seinen Platz finden, und Paul wollte ein Schild an dieses Postament kleben und darauf die Verse schreiben:

»Schickt zu seinen Mannen allen
In dem Lande Schweiz,
Nach dem heiligen Grab sie wallen,
Auf der Brust das Kreuz.«

Die Arbeit an seinem Kunstwerke währte länger, als Paul anfangs gedacht hatte. Vor allem die Modelle zu den drei Figuren, dem Ritter, der Dame und dem Roß, erforderten große Mühe und viel Sorgfalt, und ihre Herstellung nahm manche nächtliche Stunde in Anspruch. Er hatte es zuerst versucht, diese Figuren zunächst zu zeichnen und dann in Pappe auszuschneiden, aber in dieser Ausführung wollten und wollten sie ihm nicht gefallen. Sie sahen platt und albern aus und taten in ihrer kulissenhaften Wirkung seinem künstlerischen Auge wehe.

So entschloß er sich denn endlich zu deren regelrechter Modellierung in Ton. Da er aber auf diesem Gebiete weder Übung noch Erfahrung hatte, und da er nicht gewillt war, irgend jemand in sein Geheimnis, mit dem er Peter Lenz überraschen wollte, einzuweihen, kaufte er sich in einer Buchhandlung zunächst einen Leitfaden in der Kunst des Modellierens und an dessen Hand gelang es ihm endlich, das, was vor den Augen seiner Phantasie schwebte, zustande zu bringen.

Länger als sechs Wochen hatte Paul an seinem Kunstwerk, seiner ersten aus eigener Initiative entstandenen Arbeit, geschaffen, und etwa drei Wochen vor Weihnachten war er mit dem Gesamtmodell, dessen Ausführung den Erker der Lenzschen Konditorei zieren sollte, fertig.

Die Tonfiguren waren ihm nach seiner Überzeugung trefflich gelungen: Das edle Pferd des Ritters in natürlicher Haltung, den Kopf gesenkt, als wenn es von dem Grase des am Fuße der Burg gelegenen Angers fresse, mit den Vorderhufen am Boden scharrend; die mit dem Tuche winkende wunderschöne Dame und der Ritter mit Schwert, Schild und Harnisch, die Leier in den Händen, dem Rosse den Zügel lassend, das Abschiedslied von der Heimat und der Geliebten auf den Lippen!

Paul war selig, wenn er seine Schöpfung betrachtete. Aber es war nicht nur der Stolz des Künstlers, der ihn beim Anschauen seines Werkes erfüllte, sondern auch die Freude darüber, daß er mit der Anfertigung dieser Gruppe seinem Brotherrn Peter einen Dienst erwiesen habe, dem Vater Agathes, zu der ihn sein jugendliches Herz von Tag zu Tag in innigerer und tieferer Neigung zog.

Als er die Gruppe fertig hatte, setzte er sie sorgsam zusammen und stellte das Ganze in seinem Zimmerchen auf dem Tische auf. Ein ausrangiertes Kuchenbrett diente ihm als Boden. Dieses wurde mit flüssigem Leim bestrichen und golden und silbern glitzernder Sand darauf gestreut. An der hinteren Seite des Brettes erhob sich der Felsen aus modellierter und bemalter Pappe, und auf diesem die Burg mit allen ihren Türmen und Erkern, mit Söller und Fenstern, von denen jedes einzelne Paul die größte Mühe gemacht hatte.

Nachdem er den drei Hauptfiguren nach langem Wählen die besten Plätze ausgesucht, gab er dem Ganzen durch Belebung mit aus grünem Papier geschnittenem Bäumen und Sträuchern erst das richtige Ansehen, und als er an dem Ganzen nicht mehr das Geringste auszusetzen hatte, sagte er eines Mittags während des Essens zu Peter, er habe die Stunden nach Feierabend dazu benutzt, eine Erkerdekoration für die Weihnachtszeit zu entwerfen, die einmal in Schokolade, Bonbons und Waffeln ausgeführt, sicher ihren Zweck erfüllen und die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf das Schaufenster ziehen würde.

Peter Lenz lächelte.

»So einfach sei die Sache, von der er damals gesprochen habe, doch nicht«, meinte er. In einem Geschäfte wie in dem seinen, dürfe nur ein durchaus einwandfreies Kunstwerk in den Erker kommen oder gar nichts dergleichen«, so lautete seine Entscheidung.

Begütigend sagte Agathe:

»Aber du weißt doch gar nicht, Vater, ob Paul« – sie nannte ihn nie anders als mit seinem Vornamen – »nicht ein durchaus einwandfreies Kunstwerk zustande gebracht hat.«

Sie brannte vor Ungeduld, sein erstes selbständiges Werk zu sehen.

Auf die lebhafte Bitte der Tochter entschloß sich denn auch Peter, dem Wunsche Pauls sofort zu willfahren und zu dem Dachstübchen hinaufzusteigen, in dem die Ritterburg auf dem Felsen mit den Figuren aus Ton aufgestellt war.

Pauls Erfolg war ein überraschender.

Peter rieb sich vor Vergnügen die Hände. Eine so originelle und hübsche Schaufensterdekoration hatte er sein Lebtag noch nicht gesehen. Pauls Schöpfung übertraf alles, was er sich in seiner Phantasie vorgestellt hatte, und die romantische Seite seines Wesens witterte plötzlich in dem jungen Gehilfen so etwas wie einen Mitkämpfer, dem am Ende mit der Zeit ein tieferes Verständnis für ihn und seine gewaltigen Zukunftspläne aufgehen könne.

»Das hast du gut gemacht, Baumann, sehr, sehr gut«, sagte er ein über das andere Mal. Und dann entschied er:

»Die großen Figuren werden in Schokolade gegossen. Ich werde sie noch heute in Arbeit geben. Und die Burg und den Felsen machst du selber, Baumann, den Felsen, damit er sich gut von den Figuren abhebt, in weißem Trachant, die Burg aus Waffeln und die Verzierungen aus bunten Zuckersteinen oder noch besser aus feinem Pariser Konfekt, aus Fondants in verschiedener Farbe. Brav, mein Junge, sehr brav.«

Beglückt lächelte Paul vor sich hin.

Seit jenem Tage hatte er bei Agathes Vater einen Stein im Brett.


 << zurück weiter >>