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Allmählich kam das Weihnachtsfest heran. Frau Baumann hatte in den verflossenen Wochen mit Hilfe des alten Gärtners, dessen volles Vertrauen sich die kluge Frau gewonnen, weitgehende Veränderungen in der Bewirtschaftung des Gutes Schönblick getroffen. Täglich sah man sie trotz Wind und Wetter in Begleitung des Gärtners in einem kleinen Jagdwagen durch Felder und Wiesen fahren. Keine Mühe scheute sie, um einen Überblick über die ausgedehnten, zu dem Schlosse gehörigen Ländereien zu erlangen.
Der Gärtner, der seit etwa zwanzig Jahren hier ansässig war, und dem Lang die Obhut über seine wundervolle Besitzung anvertraut hatte, wußte in allem genau Bescheid und weihte die unternehmungslustige Frau in den Wert des fruchtbaren Landes, in die Ertragsfähigkeit der Äcker und Wiesen, der Jagdgründe und Waldbestände ein.
Lang hatte die Jagden für sich behalten, und seit Jahren war in den Revieren des Schlosses kein Schuß gefallen. Die Menge der Hasen und Hühner, der Rehe und Hirsche, so erzählte der Gärtner, fange schon an, eine Last für die Landwirtschaft in den angrenzenden Gebieten zu werden, und es sei daher höchste Zeit, einen tüchtigen Förster anzustellen, dem der Abschuß und gewinnbringende Verkauf des Wildes anvertraut und zur Pflicht gemacht werden müsse.
Auch mit der Abholzung der zu dem Schlosse gehörigen ausgedehnten Wälder müsse am besten noch im Laufe dieses Winters begonnen werden, denn die Stämme ständen bereits so dicht, daß sie sich gegenseitig Licht und Nahrung nähmen, und da in den letzten Jahren so gut wie nichts geschehen, sei der Bestand an Nutz- und Brennholz ein ganz hervorragender.
Der Gärtner gab den Rat, sich mit einem großstädtischen Holzhändler in Verbindung zu setzen und diesem nach den Angaben des neu anzustellenden Försters die Nutznießung der Wälder zu verpachten. Auch die von den Bauern für die Wiesen und Felder, sowie für die herrlichen Obstanlagen gezahlten Pachtsummen, deren Satz noch aus früheren Jahren stamme, seien für die heutigen Verhältnisse viel zu niedrige. Frau Baumann solle alle Pachtverträge zum nächsten Termine kündigen, den Verding des Landes aufs neue ausschreiben und dann dem Meistbietenden zuschlagen lassen.
Ebenso bedürften der mit dem Schlosse verbundene Geflügelhof und die ganze Viehzucht einer gründlichen Umgestaltung. Eier und Mastgeflügel würden von der hier angestellten Wirtschafterin seit Jahren verschwendet, von einer sachgemäßen Züchtung und Verwertung des Jungviehs sei keine Rede, und selbst an eine gewinnbringende Pferdezucht dürfe man später denken, da in der Nähe des Schlosses prächtige Koppeln angelegt werden könnten, und die Deckgelegenheit in dem nahe gelegenen Landesgestüt die beste und billigste sei.
Der Gärtner, der sich wohl auf seinen Vorteil verstand und in wenigen Wochen die tatkräftige, zu allem, was Geld einbringen konnte, entschlossene Unternehmerin in Frau Baumann erkannt hatte, wurde gar bald in allen, diesen Angelegenheiten ihre rechte Hand.
Eine eingehende Besprechung mit Irma hatte Frau Baumann glücklich die geschäftliche Vollmacht in allen Dingen der Schloßwirtschaft eingetragen.
Der Förster wurde angestellt. Ein junger, tüchtiger Verwalter kam von der nahe gelegenen, landwirtschaftlichen Hochschule und nahm die von der Schloßherrschaft selber und auf eigene Rechnung geführte Bewirtschaftung der dem Schlosse zunächst gelegenen Ländereien, Gärten und Wiesen sowie die Einrichtung der von dem Gärtner vorgeschlagenen Vieh- und Geflügelzucht in die Hand. Das übrige Land wurde den seitherigen Pächtern gekündigt und zum nächsten Termine zu neuem Verding ausgeschrieben.
Frau Baumann lebte in diesem neuen Wirkungskreise wieder auf. Sie fühlte sich frisch und munter wie der Fisch im Wasser.
Über das Verhältnis Irmas zu Ewald machte sie sich fürs erste keinerlei Gedanken. Das ging ihrer Ansicht nach zunächst die besten Wege, und nach Irmas Niederkunft würde sich Ewald schon wieder auf seine Pflichten als Gatte und Schloßherr von Schönblick besinnen, und die unangenehme Angelegenheit würde mit der Geburt des Kindes – sie hoffte das mit aller Bestimmtheit – aus der Welt geschafft sein.
So verlor sie sich vollständig in die großen Pläne der Zukunft, Schönblick für sich und ihre Kinder zu einer niemals versiegenden Geldquelle zu machen, die ihr und den Ihren auch unabhängig von Ewalds Einnahmen in dem Langschen Bankhause eine glänzende Zukunft in Behaglichkeit und Reichtum sichern sollte.
Einen Festtag für sie bedeutete es jedesmal, wenn aus der Stadt ein Brief von Rolf kam. Er schrieb regelmäßig einmal in der Woche, zugleich auch im Namen Paulchens, mit dem zusammen er bei Professor Obermayer in Pension war. Er zählte die Tage bis zu Ostern, da er, das Reifezeugnis für Oberprima in der Tasche, als Avantageur in die Armee eintreten und endlich ein Mann der Gesellschaft nach seinem Wunsche und Willen werden könne. Von dem juristischen Studium war gar nicht mehr die Rede. Ewald hatte es ja dazu, Rolf einen glänzenden Monatszuschuß als Offizier zu gewähren, und die zärtliche Mutter würde schon das Ihre tun, um alles, was Rolf beanspruchte, bei dem schwachen ältesten Bruder durchzusetzen.
Sorgfältig vermied es Frau Baumann, bei ihrem Rolf etwas über ihre großen Zukunftspläne mit Schloß Schönblick verlauten zu lassen. Denn als kluge Frau sagte sie sich, daß eine solche Aussicht Rolfs Ehrgeiz am Ende lahmlegen könne, und sie hoffte mit aller Bestimmtheit, daß es seinem entschiedenen und kavaliermäßigen Auftreten bald gelingen werde, eine geachtete Stellung unter den Kameraden zu gewinnen und ein Mädchen für sich zu interessieren, das ihm mit einem tüchtigen Batzen Geld den Eintritt »in die ersten Kreise der Nation« mit in die Ehe bringen werde. Denn Rolf war ihr Stolz, ihr Liebling, für den ihr nichts zu hoch erschien, und auf den jede, auch die kühnste Hoffnung, zu setzen, sie sich berechtigt glaubte.
Ewald ging seiner Wege. Mit Irma sprach er nur das Notwendigste, mit seiner Mutter kein Wort. Frühmorgens fuhr er in die Stadt auf sein Bureau und kehrte des Abends zum Nachtessen in das Schloß zurück.
So ging es einen Tag wie den anderen, und mit der Zeit gewöhnten sich die Frauen an den Schweigsamen. Ja, sie alle drei, die Mutter, Irma und Hilde, wären erstaunt gewesen, wenn er plötzlich wider seine Gewohnheit die Lippen geöffnet und ihnen etwas von seinen Erlebnissen in der Stadt erzählt hätte. Er wußte nicht einmal, ob Hilde Mitwisserin des furchtbaren Geheimnisses war, das ihn bedrückte, und über das sich Irma und die Mutter so leichtfertig hinweggesetzt hatten.
Wie oft in trüben Stunden hatte Ewald daran gedacht, an Martha zu schreiben und ihr, die ihn immer verstanden hatte, die ihn liebte und die ihm persönlich zu Danke verpflichtet war, sein Herz auszuschütten. Aber jedesmal, wenn er einen solchen Brief begonnen hatte, zerriß er ihn wieder und verbrannte die Schnitzel. Er fühlte sich außerstande, seine Schande, wie er Irmas Schuld in seinem Innersten nannte, zu Papier zu bringen. Er kannte seine Schwester Martha und wußte, wie gut diese mit ihrem Manne stand.
Was sollte Schröder, der Biedere und Ehrliche, zu diesen Verhältnissen sagen, zu deren reinlicher Lösung er, der Feigling, nicht den Mut fand! Infolge seiner Scheu unterblieb jede Mitteilung an Martha, die in der Ferne der Meinung sein mußte, daß der geliebte Bruder auf dem herrlichen Schlosse das Glück seiner jungen Ehe an der Seite seiner schönen und reichen Frau in vollen Zügen genieße.
So ging denn Ewald einsam durch das Leben, trotzdem er die Mutter, seine Frau und eine Schwester in unmittelbarster Nähe hatte. Des Sonntags trat er oft allein in Begleitung seines treuen Hühnerhundes Hektor weite Spaziergänge in die winterlichen Wälder an. Dann aß er auf irgendeiner Mühle oder in einem Bauernhofe ein Stück Brot mit Wurst oder Schinken und kam erst des Abends, wenn die Nacht längst hereingebrochen war, in das Schloß zurück.
Um den und seine Schrullen konnte sich Frau Baumann angesichts der großen Pläne, die ihr Herz bewegten und sie in eine fieberhafte Aufregung versetzten, beim besten Willen nicht kümmern.
Aber eine machte ihr Sorge, und das war Hilde. Seliger hatte sich immer noch nicht erklärt. An dem Glücke dieser Tochter war ihr freilich herzlich wenig gelegen, und wenn es sich um einen anderen als Harry Seliger gehandelt hätte, würde sie der hergelaufenen Ballettratte die reiche Heirat mit dem an der Börse so angesehenen Juden, der einstmals Langs Geschäftsnachfolger werden sollte, schwerlich gegönnt haben.
Aber hier lag der springende Punkt: Langs Geschäftsnachfolger, dessen Heirat mit ihrer Tochter die Millionen des Langschen Bankhauses aufs neue an ihre Familie fesseln würde! War denn vorauszusehen, was heute noch verborgen im Schoße der Zukunft lag? Konnte nicht am Ende diese Hilde, um deren Wohl und Wehe sie sich jahrelang nicht gekümmert hatte, als Seligers Frau und als ihr Kind auch für sie der letzte Rettungsanker werden, wenn Ewald auf seinem Standpunkte beharrte, und der Bruch mit Irma durch seine Schuld, was sie mit allen Mitteln zu verhüten entschlossen war, sich als unheilbar herausstellen würde?
So lag Hildes Heirat auch in ihrem Interesse, und mit banger Sorge sah sie Woche um Woche schwinden, ohne daß Seliger mit seiner Werbung hervorgetreten wäre.
Da endlich, es war drei Wochen vor Weihnachten, brachte Hilde ihr die ersehnte Kunde. Sie war in der Stadt gewesen, um einige Besorgungen für das bevorstehende Fest zu machen, und hatte Seliger, war es ein Zufall, war es Absicht, getroffen. Der in die reizende Blondine sterblich verliebte Jude war endlich mürbe geworden. Kurzerhand hatte er angehalten und ihr gesagt, er werde am nächsten Tage nach Schönblick hinauskommen, um mit der Mutter zu sprechen, und am Weihnachtsabend solle dann draußen die feierliche Verlobung stattfinden.
Mit Lang, als seinem jetzigen Chef und seinem Onkel, sowie mit seiner Mutter habe er sich schon ins Einvernehmen gesetzt, und diese beiden brächten seiner Verbindung mit Hilde keinerlei Widerstand entgegen. Im Gegenteil, Lang sei offenbar sehr erfreut gewesen, daß auch er in nahe verwandtschaftliche Beziehungen zu der Familie seines Schwiegersohnes treten werde, vermutlich, weil doch Ewald kein rechter Geschäftsmann sei, und weil Lang die Meinung habe, daß Irmas Interessen von ihm, als einem neuen Anverwandten ihres Mannes, auf das beste vertreten werden könnten.
Das war wieder ein Freudentag für Frau Baumann gewesen. In übersprudelndem Glück hatte sie selbst diese Tochter an ihr mütterliches Herz gedrückt und sie geküßt, wie Hilde in ihrem Leben von ihrer Mutter noch niemals geküßt worden war.
Voll fiebernder Ungeduld hatte Frau Baumann den Ereignissen des nächsten Tages entgegengesehen.
Und wirklich, kurz vor zwölf Uhr fuhr Harry Seliger durch das Portal von Schloß Schönblick und wurde von der zukünftigen Schwiegermutter, der Schloßherrin von Schönblick, mit den Manieren einer reichsunmittelbaren Fürstin in dem roten Salon empfangen.
Zögernd, mit aller Vornehmheit gab sie dem lebensgewandten und liebenswürdigen jungen Juden, nachdem sie sich sorgsam über dessen Verhältnisse erkundigt hatte, ihre Einwilligung. Seliger, der einen wahnsinnigen Appetit auf die schöne und frische Blondine hatte, und der wohl wußte, daß er sie anders als durch eine Heirat niemals in seinen Besitz bekommen haben würde, ließ das alles in Seelenruhe über sich ergehen und küßte, nachdem die Unterredung vorüber war, mit einem galanten: »Ich bin Ihnen von Herzen dankbar und werde Ihnen stets ein treuer Sohn sein,« Frau Baumanns Hand.
Nachdem er zusammen mit seiner zukünftigen Schwiegermutter, Irma und seiner Braut das Mittagsmahl auf Schloß Schönblick eingenommen, fuhr er des Nachmittags zu seinen Geschäften in die Stadt zurück. Am Abend schickte er Hilde ein kostbares mit Rubinen und Diamanten besetztes Armband als Brautgeschenk, dessen Wert Mutter und Tochter auf fünfhundert Gulden schätzten. Irma, der die beiden Frauen es zeigten, schob es gelangweilt zur Seite und meinte, sie habe sich an bunten Steinen so satt gesehen, daß sie, wenn sie später wieder einmal Gesellschaften besuchen würde, nur noch Perlen tragen wolle.
Für Frau Baumann gab es jetzt alle Hände voll zu tun. Das Weihnachtsfest, zu dem sie Rolf und Paulchen auf dem Schlosse erwartete, für das sich Lang angesagt hatte, an dem Hildes Verlobung mit Seliger gefeiert werden sollte, mußte für alle Insassen und Gäste Schönblicks ein unvergeßlicher Tag werden.
Zusammen mit Hilde, der glückstrahlenden Braut, fuhr sie nun in die Stadt und erhob, mit Irmas Geschäftsvollmacht versehen, zunächst eine ansehnliche Summe an der Kasse der Langschen Bank. Dann ging es in die festlich prangenden Geschäfte. Vor den Ladentüren der ersten Lieferanten hielt das elegante Schimmelgespann, das Frau Baumann für diese Einkäufe in die Stadt beordert hatte, und diesem entstieg die Witwe des armen Gymnasialprofessors mit ihrer Tochter und machte Bestellungen, die auch die von ihrer Weihnachtskundschaft verwöhntesten Kaufleute in helles Entzücken versetzten. Roben für Hilde, in denen sie sich neben dem jungen Seliger sehen lassen konnte, eine Babyausstattung mit echten Brüsseler Spitzen für Irma, für Rolf einen Brillantring, für Paulchen ein elegantes Wägelchen mit einem Ponygespann, das er sich immer für seinen Aufenthalt auf Schloß Schönblick gewünscht hatte.
Dann kamen all die anderen an die Reihe: Seliger und der Kommerzienrat, der Gärtner und das zahlreiche Personal des Schlosses. An jeden einzelnen mußte Frau Baumann denken, wenn keiner mit einem unzufriedenen Gesichte von dem Gabentische der, die die Rolle der Schloßherrin von Schönblick übernommen hatte, scheiden sollte.
Auch Ewald wurde nicht vergessen. Der Herr des Hauses, dem sie doch in letzter Linie all das unerhörte Glück verdankte, durfte unter keinen Umständen unbeschenkt unter dem Weihnachtsbaume stehen, schon um des Kommerzienrates und des Geredes der Dienerschaft willen nicht. Eine kunstvoll gestickte Brieftasche, die sie als eine Handarbeit Irmas ausgeben wollte, würde am Ende am Feste der Liebe eine rührende Wirkung nicht verfehlen, und das Originalgemälde eines gerade in den Mund der Leute gekommenen Künstlers würde bei allen, die etwas von Malerei verstehen wollten – und Seliger spielte sich gern als Kunstkenner auf – einen vortrefflichen Eindruck hinterlassen. Für Seliger hatte Hilde natürlich in aller Eile eine Umrahmung zu ihrem neuesten Bilde gemalt, das sie in stark dekolletierter Balltoilette und in einer verführerisch freien Pose darstellte.
Ein prächtiges Winterwetter verschönte in diesem Jahre den Christtag. In der Nacht vor Heiligabend hatte es ausgiebig geschneit, und der folgende Morgen brachte das echte und rechte deutsche Weihnachtswetter. Ein leichter Frost war eingetreten, und die aufsteigende Sonne des neuen Morgens beleuchtete um Schloß Schönblick ein entzückendes Bild. In strahlendem Weiß erglänzten die weiten, sich bis an den Fuß des Gebirges hinziehenden Felder und Wiesen, überwölbt von einem zartblauen, klaren Winterhimmel, in dessen reine Höhe der aus den Kaminen des Schlosses emporsteigende Rauch, eine schlanke, von keinem Windhauch gestörte Säule hineinragte.
Rolf und Paulchen waren am Morgen dieses herrlichen Dezembertages auf Schloß Schönblick angekommen, Lang und Seliger erwartete man gegen Abend, denn für den Einbruch der Dunkelheit hatte Frau Baumann die große Bescherung in dem prächtigen Speisesaale im Erdgeschosse des Schlosses vorgesehen.
Sie trug keinerlei Bedenken, dem jüdischen Schwiegervater ihres Ältesten und dem künftigen eigenen jüdischen Schwiegersohne die deutsche Weihnachtstanne in zwei herrlichen, den Waldungen des Schlosses entnommenen und überreich ausgeputzten Exemplaren vorzuführen. Hatte doch Schloß Schönblick nunmehr in Ewald einen christlichen Herrn, und trug man doch in vielen reichen jüdischen Familien der Stadt den Wünschen der Kinder Rechnung und ließ auch dort den deutschen Weihnachtsbaum als Symbol des Festes der Liebe erstrahlen.
Frau Baumann und Hilde waren mit den Vorbereitungen dermaßen in Anspruch genommen, daß sie sich kaum um Rolfs und Paulchens Ankunft bekümmern konnten. Ewald weilte in der Stadt, Irma ließ sich nicht sehen. So trollten denn der junge Mann und der Knabe, sich selber überlassen, durch den wintererstarrten Park in die Ställe und Wirtschaftsgebäude, in deren musterhafter Führung das scharfe Auge Rolfs gar bald die leitende Hand der Mutter erkannte.
Das war alles ganz anders geworden seit den Herbsttagen im September, da er zum ersten Male für längere Zeit auf Schloß Schönblick gewesen war. Lauter neues Personal, dem man es anmerkte, daß es sich an eine strenge Beaufsichtigung gewöhnt hatte. Neuerungen, wohin er sah. In dem Geflügelhofe und in den Pferdeställen, in der Milchwirtschaft und in den Treibhäusern, allüberall war der alte Schlendrian, für den er trotz seiner achtzehn Jahre schon einen guten Blick gehabt hatte, gewichen und hatte einer musterhaften Ordnung und einer ununterbrochenen Tätigkeit Platz gemacht.
Während sich Paulchens Interessen mehr auf die Möglichkeit von Schlittenpartien und die gemästeten Gänse und Truthühner richteten, wußte Rolf gleich in der ersten Stunde seines Hierseins die Bekanntschaft des jungen Verwalters zu machen. Von diesem liebenswürdigen Menschen, der froh war, in der Einsamkeit der Schloßwirtschaft einmal einen jungen Mann, mit dem er sich unterhalten konnte, gefunden zu haben, ließ er sich in die von Frau Baumann eingeführten Neuerungen des ganzen Betriebes einweihen. Auch von dem neuen Förster erfuhr er, und sein Herz schlug freudig in der Aussicht, recht bald dessen Bekanntschaft zu machen und mit ihm auf die gerade in diesem Jahre ungemein ausgiebige Hasenjagd gehen zu können.
So eilten für Rolf und Paulchen die Stunden des Tages rasch dahin. Der schlaue und schon berechnende Rolf, der im vorigen Sommer auf dem Gute seines Freundes Hasso von Windheim mancherlei von Landwirtschaft gesehen hatte, machte sich seine Gedanken. Er konnte sich nicht verhehlen, daß die kluge Mutter ihre eigenen Pläne haben müsse, da sie ihre ganze Sorgfalt der Verwaltung von Schloß Schönblick zuwandte, was doch im Grunde genommen Ewalds Sache gewesen wäre.
Ach ja, der älteste Bruder, der hatte ein maßloses Glück gehabt. Wenn man sich dieses Schloß ansah und die Gärten, Felder und Wälder und alles, was sonst noch zu diesem Besitztum gehörte, und die Einkünfte, die er zu all dem noch von der Langschen Bank bezog! Er, der einfache Buchhalter, der mit seiner Halbbildung von Unterprima vom Gymnasium fortgelaufen war, um für sich und seine Familie ein paar Gulden zu verdienen! Es war in der Tat ein unverständliches, ein unerhörtes Glück, das dieser Träumer und Phantast nicht einmal zu würdigen schien.
Und er? Was war ihm wohl alles vorbehalten, zu leisten und zu tun, was mußte er nicht alles für Schwierigkeiten überwinden, ehe er zu solchem Glücke kam? Wenn überhaupt! Wenn man sich all das hier genau betrachtete, dann war ja das mit der gesellschaftlichen Anrüchigkeit der Jüdin, woran er früher immer geglaubt hatte, eitel Larifari. Geld blieb eben Geld, ob es von Lang oder von dem Grafen von Soundso oder sonst woher kam. Und Armut war Armut und konnte durch den glänzendsten Namen und die herrlichste gesellschaftliche Stellung eines angeblich bevorzugten Standes nicht in ihr Gegenteil verkehrt werden.
In diesen Stunden des Weihnachtstages, da er das Schloß und dessen Zubehör eingehend musterte, wurde es ihm mit einem Male klar, daß im Vergleiche zu dem, was er bislang erstrebt hatte, das, was er hier sah, doch etwas ganz anderes war. Hier waren Reichtum, Behaglichkeit, Sicherheit der Verhältnisse, dort Aufgeblasenheit, Schein, leerer Dünkel und an jedem neuen Tage die Gefahr des Falles.
Wenn er als Avantageur in ein Kavallerieregiment eintrat, dann hing er in allem und jedem von dem in glänzenden Verhältnissen verheirateten Bruder ab. An Ewald war es, ob er ihm ein paar lumpige tausend Gulden opfern wollte oder nicht. Aus seiner Hand hatte er, der gescheite, der schöne, der begabte und lebenskluge Rolf, der sich stets in seinen Gedanken über diesen Bruder erhoben hatte, alles hinzunehmen. Seiner Güte und seinem freien Willen würde er alles zu verdanken haben, was ihm die so sehnsüchtig erstrebte Stellung eines nach außen hin glänzenden Offiziers erst ermöglichte.
Ein Gefühl der Bitterkeit über die Ungerechtigkeit des Schicksals stieg auf in seinem Inneren. Der Neid gegen den älteren, in seinen Augen so glücklichen Bruder, dem das alles in den Schoß gefallen war, und in dessen Schlosse er heute als Gast weilte, begann an diesem Weihnachtstage an seinem Herzen zu nagen. Gab es denn keine Möglichkeit, keinen Weg, selber in den Besitz solcher Herrlichkeiten zu gelangen, in kurzer Frist selber der Herr und Meister zu werden, hier, wo man wie ein Bettler die Geschenke von der Gnade eines anderen hinnehmen mußte? Keinen Weg?
Er wußte, daß Irma demnächst einem Kinde das Leben geben würde, daß dieses Kind der Erbe von Schloß Schönblick sein werde, und daß er und die Mutter eines schönen Tages abziehen könnten, vielleicht erst nach langen Jahren, wenn dieses Kind, anders geartet als Ewald, von seinen Rechten Gebrauch machen werde.
Und nun machte noch diese hergelaufene Hilde die glänzende Partie mit dem reichen Seliger, von dem man wohl mit Recht annahm, daß er dereinst Langs Geschäftsnachfolger sein werde. Und er und die Mutter und Paulchen, sie standen da mit leeren Händen und nahmen die Brocken, die von anderer Tische fielen.
Sein leidenschaftliches, von Neid und Mißgunst erfülltes Herz war durch den Anblick all der Herrlichkeiten von Schloß Schönblick in wilde Erregung versetzt worden.
Gab es keinen Weg? Gar keinen? Wenn zum Beispiel Irma ihren Mann zum Erben eingesetzt hätte, wenn sie und das Kind bei der Geburt stürben? Dann würde am Ende Schloß Schönblick der alleinige Besitz Ewalds. Aber Ewalds Besitz war noch immer nicht der seine. Die Launen des Bruders waren unberechenbar. Paulchen und Hilde, die reiche Hilde, und Martha, Ewalds Liebling, die diesen ihm verhaßten Schröder geheiratet hatte, würden auch noch da sein, und sein Leben würde verrinnen in Abhängigkeit von den Geschwistern, in Demütigungen von Seiten derer, die den Rahm von der Milch abschöpften, und denen mit Irma und Lang ein Vermögen in den Schoß gefallen war.
In tiefer Verstimmung, mit einem von den schlechten Leidenschaften des Neides und der Habgier durchwühlten Herzen verbrachte er diesen Tag.
Auch der Abend, da er in dem glänzenden Festsaale neben den Seinen unter den strahlenden Bäumen stand, da ihn die Mutter mit glücklichem Lächeln an seinen reichen Gabentisch führte, besserte daran nichts. Im Gegenteil, er konnte es kaum ertragen, Ewald als den Herrn von all diesen Schätzen, Hilde als die Verlobte Seligers sehen zu müssen. Langs saftiger Humor und das sinnlich freche Glück, das sich auf Seligers Gesicht malte, wenn er Hilde mit seinen braunen Augen fast verschlang, Ewalds nicht zu brechender Ernst und Irmas eisige Gleichgültigkeit, das alles fiel ihm auf die Nerven.
Das läppische Geplauder Paulchens von den Masthühnern und den Kücken, die der Kleine in der Küche gesehen, widerte ihn an, und das ewige Befehlen der Mutter kam ihm in diesem Hause, das sie ja doch nichts anging, so albern und lächerlich vor.
Und immer wieder kehrte sein Auge zurück zu der schönen Schwägerin, deren Körperformen das bevorstehende freudige Ereignis der Geburt des Erben von Schloß Schönblick nur schon allzu deutlich verkündeten, die Geburt des Kindes, das nach menschlichem Ermessen dermaleinst der Besitzer all der Langschen Glücksgüter sein und ihn ein für allemal zu dem Almosenempfänger machen würde, als der er, der nun bald in die Armee eintreten wollte, sich heute schon fühlte, der Bruder des reichen Ewald Baumann, den seine Heirat mit Irma Lang zum Millionär gemacht hatte!
So stand er unter dem Weihnachtsbaume bei dem Feste, das die Mutter Lang und Seliger zum Trotz zu einem echt christlichen gestaltet hatte.
Die Kinder des Gärtners hatten der lieben Frau Baumann einen Spruch gestickt, der auf ihrem Platze auf dem Tische lag, und auf den gerade Rolfs Auge fiel. Gedankenlos las er die Worte: »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen«, und gedankenlos lallten seine Lippen, als nun die Dienerschaft des Schlosses das alte Lied sang: »Stille Nacht, heilige Nacht«, den wunderbar ergreifenden Text mit. Aber sein arbeitender Verstand erwog inzwischen die Möglichkeiten und überlegte, welch verwickelte Verhältnisse eintreten müßten, damit Ewald der Erbe all des Reichtums, und er wieder Ewalds Erbe werden würde.
Das war ja unmöglich, aussichtslos, verzweifelt. Eher würden die Flüsse bergwärts fließen, eher sich die Sonne um die Erde drehen, als daß das so einfach eintreten würde, da Irma den Erben schon unter ihrem Herzen trug, und Ewald auch ihn, wer konnte das wissen, mit Leichtigkeit überleben konnte!
Ein wirrer, fürchterlicher Traum seiner von der leidenschaftlichsten Habgier emporgepeitschten Phantasie: das Schloß des Bruders sein eigen, und sein eigen dieses Weib mit den pechschwarzen Haaren und den rätselvollen Sonnenaugen, sein dies Weib, dem dies alles gehörte!!
Lag da die Lösung des verworrenen Schicksalsknotens, war das die Antwort auf die Frage, wie all das, was man ihm hier zeigte und das der Verwaltung der Mutter unterstand, doch einst das Seine werden könnte? Eines Tages – wie es des Bruders Besitz geworden war – wenn er sich stark genug fühlte, kein Gewissen mehr sein eigen zu nennen!
Rolf zitterte. So weit hatten ihn seine Gedanken fortgetragen. Von den glitzernden Weihnachtstannen und von dem Gabentische bis hinüber zu dem schwangeren Weibe des Bruders, dem dies alles gehörte, und das – so glaubte er in dieser Stunde wie eine Lösung all der Wirrnisse deutlich zu empfinden – für ihn noch lange nicht verloren war!
Da traf sein Blick Ewalds schmales und blasses Gesicht. Daß der Bruder an einem unausgesprochenen Schmerze kranken müsse, kam ihm da mit einem Male deutlich zum Bewußtsein. Daß der ihn am Ende doch nicht überleben werde, mußte er nun denken.
Und da man nun von den erlöschenden Weihnachtsbäumen zu dem Speisetisch schritt, um bei Champagner und einem köstlichen Abendessen Hildes und Seligers Verlobung zu feiern, glitt ein zufriedenes Lächeln über Rolfs Züge.
Er war noch jung, erst achtzehn. Wer wollte schon heute sagen, was er nicht noch alles erobern konnte! Am Ende auch Irma, auch all die Güter, auch das Schloß, das ihn entzückte, denn Ewald sah krank und beinahe gebrochen aus.